Über die identitären Folgen der Hauptschulzugehörigkeit
E-Book, Deutsch, 342 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0825-4
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Soziologie, Bildungssoziologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Altersgruppen Kinder- und Jugendsoziologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Sozialisation, Soziale Interaktion, Sozialer Wandel
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2 Von der ‚Schule der Zurückgebliebenen‘ zur ‚Restschule‘?
Die Hauptschule hat bis in die Gegenwart mit einem erheblichen Bedeutungsverlust zu kämpfen. Doch kann diese Entwicklung nicht als Alleinstellungsmerkmal gegenwärtiger Entwicklungen des Bildungssystems verstanden werden, sondern vielmehr als ein tief verwurzeltes Charakteristikum des deutschen Bildungssystems. Bereits zu ihrer Entstehungszeit in den 1960er-Jahren kämpfte die Hauptschule um ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Stellung. Vor allem angetrieben durch die Sorge um die internationale Konkurrenzfähigkeit angesichts des Sputnik-Schocks und aus wirtschaftspolitischen Erwägungen setzte in den 1960er und 1970er-Jahren eine Bildungsexpansion ein, in der Mädchen, Katholiken, Landbevölkerung und Arbeiterkinder als Benachteiligte im Bildungswesen und als ‚Bildungsreserve‘ entdeckt wurden (vgl. Dahrendorf 1965; Rolff 1997). Die Bildungsreformen dieser Jahre verfolgten eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele, die, neben der allgemeinen Verbesserung der sozialen Chancengleichheit und mehr sozialer Gerechtigkeit, die Bildungsmobilität und das Bedürfnis nach qualifizierten Fachkräften verfolgten (vgl. Hansel 2000: 3-4; Schulz 2000: 69). Bis in die 1960er-Jahre hinein zeichnete sich das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich nur durch eine relativ geringe Zahl an Abiturienten aus. Während in den Jahren 1964/1965 gerade einmal sechs bis acht Prozent eines Jahrganges die gymnasiale Oberstufe besuchten, stieg diese Zahl im Zuge der Reformen bis 1974/1975 auf über 28 % (vgl. Schulz 2000: 69f.). Neben dieser explizit angestrebten Steigerung gymnasialer Abschlussquoten bestand ein weiteres wesentliches Ziel der Bildungsreformen darin, die Volksschuloberstufe zu reformieren, was mit der 1968 bundesweit etablierten Einführung der Hauptschule realisiert wurde (vgl. KMK 1969/1970: 171). In dem am 13. Februar 1970 vom Deutschen Bildungsrat verabschiedeten „Strukturplan zur Erneuerung des Bildungswesens“ heißt es: „Die Chancengleichheit soll nicht durch eine Nivellierung der Anforderungen angestrebt werden. Die Aufgabe ist vielmehr, frühzeitig die Chancenunterschiede der Kinder auszugleichen und später das Bildungsangebot so zu differenzieren, dass die Lernenden ihren Lerninteressen und Lernmöglichkeiten entsprechend gefördert werden und entsprechende Angebote weiterführender Bildung antreffen. Gleichheit der Chancen wird in manchen Fällen nur durch die Gewährung besonderer Chancen zu erreichen sein“ (Zitiert nach Michael/Schepp 1993: S. 431). Die daraufhin konzipierte und praktizierte ‚kompensatorische Erziehung‘ zielte vorwiegend auf Hilfen für benachteiligte Kinder, etwa aus dem Arbeitermilieu. Besonders wichtig scheint aber die Erkenntnis zu sein, dass Gleichbehandlung bestehende unterschiedliche individuelle Voraussetzungen vielmehr festigt und der schulische Unterricht dadurch an der Produktion und Reproduktion von Ungleichheit erheblich beteiligt ist. Dementsprechend bezogen sich die Empfehlungen des Bildungsrats darauf, Chancengleichheit vor allem über strukturelle Veränderungen herzustellen, u.a. über die Einrichtung von Gesamt- und Ganztagsschulen, der Individualisierung von Anforderungen, etwa in der gymnasialen Oberstufe durch die Einführung von Wahlpflichtfächern und die Ansprache von Eigenverantwortlichkeit der Schülerinnen und Schüler. Mit der darüber hinaus eingeführten neuen Schulform Hauptschule war die Hoffnung einer Steigerung des Ansehens und einer damit verbundenen ‚Gesundung‘ des gesamten Bildungssystems verbunden. Vor allem hinsichtlich der methodischen wie curricularen Neuausrichtung der ‚neuen‘ Hauptschulen im Zuge des Hamburger Abkommens (1964) und der begrifflichen Rahmung der neuen schulischen Formation gingen erhebliche Veränderungen einher (vgl. KMK 1969/1970: 198ff.): darunter eine Verfachlichung des Unterrichts, eine differenzierte Fächeraufteilung in den Naturwissenschaften und die Einführung einer Fremdsprache, verbunden mit dem Ziel, hierdurch den modernen Anforderungen der ökonomischen und technischen Entwicklungen Rechnung tragen zu können (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 222). Durch die strikte Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die Ausrichtung des Unterrichts auf diese sollten die rationalen und durch die Wissenschaften erkannten Inhalte in den Unterricht integriert werden und dort zur Anwendung gelangen (vgl. Deutscher Bildungsrat 1973: 33). Die mit der Einführung der Hauptschule verbundenen Erziehungsziele in der Hinführung zu grundlegenden Arbeitstugenden forcierten jedoch eine Entwicklung, deren ständische Orientierung wiederum im Rückgriff auf den Begriff der Begabung bereits zum damaligen Zeitpunkt als längst überholt und wissenschaftlich unhaltbar galt (vgl. Rösner 2007: 64). Denn die darin zum Ausdruck gelangende Berufung auf Formen ‚naturgegebener‘, nativistisch begründeter Ungleichheit entspricht einer unterstellten ‚natürlichen Ordnung‘, in der scheinbar ‚von Natur gegebene‘ Verhältnisse fortgeschrieben und im Bildungssystem verankert wurden. Auch zum damaligen Zeitpunkt war die gewählte Bezeichnung der neuen Schulform irreführend. Der Begriff selbst besaß und besitzt bis heute keine inhaltliche Bedeutung (vgl. Schulz 2000: 73). Die Hauptschule fungiert nicht als ‚Haupt‘ im deutschen Bildungssystem und ist bei Weitem nicht die zentrale Schulform. Jedoch ist ihre inhaltliche wie systemische Bezogenheit und damit die ‚Konkurrenz‘ zu Realschulen und Gymnasien ein wesentlicher Bestandteil ihres bis heute bestehenden ‚existenziellen Kampfes‘. 2.1 Die anerkennungsbezogenen Probleme von Volks- und Hauptschulen
Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation der Hauptschulen sind die bildungstheoretischen Hintergründe in der Entstehung und Entwicklung dieser Schulform von Relevanz (vgl. Klemm/van Ackeren 2009: 13ff.; Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 198f.). Die Volksschule, als direkter Vorgänger der heutigen Hauptschulen, ist in ihrer Entwicklung als eine Schulform beschreibbar, deren gesellschaftliche Akzeptanz sich vielfältigen Problemen gegenüber sah. Als eine Schulform, deren Schülerschaft sich überwiegend aus Kindern der Arbeiterschaft rekrutierte und das ihr verantwortete Schülerklientel als besonders erziehungsbedürftig betrachtete (vgl. ebd., 211), kämpfte sie mit erheblichen Schwierigkeiten, v.a. in Bezug auf die Akzeptanz dieser Schulform, was wiederum eine Abwertung der in ihr erworbenen und über sie erteilten Schulleistungen nach sich zog (vgl. Klewitz/Leschinsky 1984: 85ff.). Die Grundlage für den Aufbau des preußischen Volksschulwesens legte das unter Friedrich II. verabschiedete Generallandschulreglement von 1763, aber erst mit der Abschaffung des Schulgeldes für den Besuch der Volksschule konnte 1888 die Unterrichtspflicht durchgesetzt werden (vgl. Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Es ging dabei aber immer um Elementarbildung auf einem niedrigen Niveau. Hauptlehrgegenstände des Unterrichts waren Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang, die in „Fixierung auf den angestammten Lebenskreis und das Milieu“ unterrichtet wurden, sodass „von vornherein die Überschreitung des engen sozialen Horizonts der Volksschulkinder“ ausgeschlossen war (Berg 1977: 253). Die Kinder des ‚Volkes‘ fanden sich in eben dieser Schule, die ohne Zugangsmöglichkeiten zu weiterführenden Bildungsanstalten war, und die in der metaphorischen Umschreibung als ‚Schule der Zurückgebliebenen‘ dem Selektionscharakter einer gewollten Bildungsbegrenzung entsprach (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 212). Auch mit der Übernahme einer staatlichen Schulaufsicht und Schulorganisation in der Weimarer Republik und der Etablierung einer einheitlichen, vierjährigen Primarphase, mit einem Volksschuloberbau und daneben bestehenden ‚Vollanstalten‘ höherer Bildung (Mittelschulen, Realschulen, Gymnasien, Oberrealschulen) (vgl. Reichsschulkonferenz 1920: 46ff. nach Rekus/Hinz/Ladenthin 1998: 212) konnte die ständische Organisation ebenso wie die damit einhergehende Selektivität sowie das hierin bereits implizit enthaltene Stigmatisierungsmerkmal der Volksschulen nicht überwunden werden. Diese Schulform erwies sich von Anfang an als institutionalisierte Sackgasse, eine Art Pflichtschule ohne prinzipielle Zugangsmöglichkeiten zu höherer Bildungsanstalten. Vor allem die Unterrichtsgestaltung, als ‚volkstümliche Bildung‘ verstanden, orientierte sich überwiegend an praktischen Aspekten eines ‚anschauungsnahen Denkens‘ sowie eines ‚Denkens am Tun‘ (vgl. Spranger 1955: 80)8 und etablierte und ‚stabilisierte‘ damit ein ständisches und vor allem statisches Verständnis von Gesellschaft. In ihrer schulpraktischen Ausrichtung konzentrierte sich die Volksschule auf handarbeitende Schichten und damit auf ein Bildungs- und Lebensmilieu, in dem die gegebenen gesellschaftlichen und sozialen Umstände der Existenz als bestehende Zustände verstanden und in dieser Entwicklung als lineare Tendenzen fest verankert wurden (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 213). Diese volkstümliche Bildung entsagte jedweder Wissenschaftlichkeit und begrenzte die Lehr-Lerninhalte auf das ‚praktische Leben‘ (vgl. Seyfert 1931; Pröve 1951: 482f. nach Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 214). Im Kontrast zur wissenschaftlichen Bildung der höheren Schulen lag die inhaltliche Ausrichtung des Unterrichts auf dem konkreten Alltag und einer damit legitimierten Verengung auf Handlungspraxen in unmittelbaren Lebenskontexten (vgl. Stöcker 1957: 80)9. Die Determinierung der ‚unteren Schichten‘ auf ‚ein Leben in ihrer Lebenswelt‘ unter weitgehendem Ausschluss abstrakter Prozesse des wissenschaftlichen Denkens bildeten damit die Grundlagen für die Legitimation...