Vinzent Nicht alle Tage
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-933722-99-7
Verlag: der blaue reiter Verlag für Philosophie
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 2: Ja
E-Book, Deutsch, 364 Seiten, Format (B × H): 158 mm x 239 mm
ISBN: 978-3-933722-99-7
Verlag: der blaue reiter Verlag für Philosophie
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Vinzent, geboren 1959 in Saarbrücken, studierte Philosophie, Theologie, Judaistik, Altertumswissenschaft und Archäologie. Nach der Promotion in München und der Habilitation in Heidelberg war er als Professor für Religionsgeschichte an den Universitäten Köln, Birmingham und Seoul tätig. Gegenwärtig lehrt er am King's College in London und ist Leiter der Forschungsstelle 'Meister Eckhart' am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Markus Vinzent verfasste zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zu den Anfängen des Christentums, zur Spätantike, Meister Eckhart, der mittelalterlichen Philosophie und zu Methoden, Geschichte(n) zu schreiben. Er ist Vizepräsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft und war Mitglied der Literarischen Union e.V. 2019 erhielt er den Chair Gutenberg, den Wissenschaftspreis der Universität Straßburg und des Cercle Gutenberg.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel VII
Mittendrin
Im Interview
Dem Wunsch von Prof. Choukri, sich für einen Film zur Unterstützung der individualisierten Therapie bereitzuerklären, wollte Feeny heute nachkommen. Auch schon im vorangegangenen Interview mit einer Medienagentur in Berlin hatte sie über ihre Erfahrungen mit ihrer Krankheit gesprochen. Doch im Film aufzutreten, sich als Patientin, vielleicht mit Familienmitgliedern, der weiteren Welt mitzuteilen, fand sie nicht unproblematisch. Sie hatte Rücksicht zu nehmen auf ihr Geschäft mit renommierten Kundinnen und mit Angestellten, die von ihrer Erkrankung von ihr bisher nicht informiert wurden, die auf sie vertrauten und sie brauchten, wie sie von ihnen abhängig war. Sie hatte Verträge mit Frauenvereinigungen, die Textilien herstellten, auch hier bestanden gegenseitige Verpflichtungen. Wer würde sie noch für eine Modeschau buchen? Wer würde mit ihr längerfristig zusammen arbeiten wollen, wenn bekannt würde, dass die Arbeitgeberin, die Projektbeteiligte, keine Zukunft hat? Und sie wusste, dass die Konkurrenz nicht traurig darüber wäre, wenn es ein Label weniger auf dem Mark gäbe.
Eierstockkrebs ist keine Krankheit, mit der du leicht hausieren gehst, dachte sie. Als Frau bin ich diesem Krebs doppelt ausgeliefert, er bedroht mich als Frau und in meiner Existenz. Er trifft mich in meiner ganzen Persönlichkeit, privat treibt er mir die Scham ins Gesicht, wie es kein Kunde kann. Warum sollte ich diese Entblößung vor die Kamera tragen? Linas Schicksal zeigt mir, was es heißen kann, von deinem Partner als „Krebskranke“ eingestuft zu werden.
Noch nachdem sie sich gespannt und erwartungsvoll in den Sessel gesetzt hatte, gingen Feeny die Bedenken durch Kopf und Bauch. Die Verantwortliche hatte ihr das Skript einige Tage zuvor per E-Mail zugeschickt. Jetzt sollte es im Vorgespräch um ein Anwärmen und die Konzeption des Filmprojekts gehen.
„Frau Weingarten – ich weiß, Sie hatten mir das Du angeboten.“
„Ja, bitte, nenn mich einfach Feeny, das lässt uns einfacher miteinander kommunizieren“, bestätigte Feeny, „außerdem bin ich es so gewohnt von meiner Wahlheimat England.“
„Danke, Feeny, bevor wir anfangen, das Konzept zu besprechen, wollte ich dir nur mitteilen, dass ich mit dir fühle, denn ich hatte selbst vor einigen Jahren eine Eierstockentfernung durchmachen müssen, weil man zufällig aufgrund der Entdeckung einer Zyste eine mögliche maligne Formation eines meiner Eierstöcke vermutet hatte. Auch wenn man versuchte, meine Fruchtbarkeit zu erhalten, war dies nicht gelungen. Ich wollte dir das nur mitteilen. Zwar hatte ich seither keine weitere Therapien, aber in der Vorrecherche zu deinem Fall – wir werden ansonsten von dem Pharmazieunternehmen für alles mögliche an anderen Testprojekten für Medienprojekte angefragt – wurde mir bewusst, wie leicht der Übergang von einer gutartigen zu einer bösartigen Struktur ist – das hat mich beunruhigt und vergangen geglaubte Ängste wachgerufen. Danke, dass du so unkompliziert mit mir umgegangen bist und von dir erzählt hast.“
„Ich habe lange versucht, den öffentlichen Umgang mit meiner Erkrankung von mir zu schieben, aber du kannst nicht auf den Zeitpunkt warten, an dem das Leben erträglicher wird, um dann zu entscheiden, glücklich zu sein. So etwa hatte es Nightbird, eine junge amerikanische Sängerin ausgedrückt, als sie 2% Überlebenschance wegen ihrer Krebserkrankung hatte, an der sie schließlich auch erlegen war. Mit Krebs umgehen, speziell mit Eierstockkrebs, kannst du nicht einüben. Ich hatte mich erst vor wenigen Wochen dazu durchgerungen. Es begann mit der Erfahrung, dass ich bei einem der jährlichen Eierstockkrebstage, die mein Onkologe ausrichtet, eine beeindruckende Mitpatientin kennenlernen durfte, die für diesen Public Awareness-Tag einen Film durch ihren Partner, der Fotograf und Videokünstler war, produzieren ließ. 24 Jahre war sie bei ihrer Diagnose, wenige Tage nach dem Video starb sie. Ihr junger, an den Beinen bunt tätowierter Körper ist in einen transparenten Body gepackt, sie streichelt sich selbst, zitternd, tastet ihn ab, dreht ihren Kopf und blickt dir unvermittelt entgegen. Ist es wahr? Wirklich? Wahr? Doch sie spürt es überall. Der bohrende Blick. Auf die Stirn, die Wangen tropft weiße-sämige Flüssigkeit, gießt sich über ihre lockig-braunen Haare, ihr über Augenbrauenpomade, Wimpernvergrößerung, Lidschatten, Make-up und Blush, zwingt sie, ihren Kopf zu senken, rinnt über Brust, Bauch, Beine bis zu ihren nackten Füßen und überschüttet das rot eintätowierte rote Herz mit dem Namen Michelle. Anstelle von Tränen weiße, sämige Flüssigkeit … alles ist anders … ALLES heißt es rechts und links von ihr. Dann legt sie die Beine übereinander, nimmt Haltung an, sitzend stellt sie sich dem Kampf. Mit wilden Bewegungen schmiert sie sich eine braun-schwarze Masse in ihre Haare, verflüssigt läuft sie von oben auf sie herab, auf ihren Body, ihre Arme, Hände, diese verteilen die Flüssigmasse auf ihr Gesicht, den Hals, jeden Flecken ihres Körpers, die Haare verkleben, der Kopf glänzt wie eine raue dunkle Glatze. Im Rücklauf wird ihr alles genommen, die braun-schwarze Masse, die weiße-sämige Flüssigkeit, wie abgezogen. Ihr Blick bleibt. Mit dem Titel: Ich Liebe … das Leben!!
Es war ihr Wille, der Öffentlichkeit zu bedeuten, was es heißt, von dieser Krankheit überfallen zu werden, ohne dass man sich ihr ergibt. Die Begegnung mit ihr, ihre Persönlichkeit, ihr Ausdruck, ihr unbeschreiblich schöner weiblicher Körper und die schwarze Masse, die wie unaufhaltbare Lava ihn zu übertünchen versucht, hatten mich so sehr beeindruckt, dass auch ich in die Öffentlichkeit gehen wollte, um zu bezeugen, dass das Leben sich weder von außen noch von innen verschlingen lässt. Ich wollte meine Dankbarkeit gegenüber dieser Mitpatientin, gegenüber meinem Onkologen, gegenüber allen Mitkämpfenden, Familie, Freundinnen und Freunden, allen, die innerhalb und außerhalb der Klinik um sie und um mich kämpfen, überhaupt meinem Leben gegenüber meinen Dank ausdrücken.“
„Ich will dir nicht die typischen Fragen stellen – etwa, was du empfunden hattest, als man dir die Diagnose überbrachte, oder wie du mit dieser Diagnose umgegangen bist – nein, ich möchte in unserem Projekt herausstellen, wie du dich heute als Frau anders empfindest als vor der Erkrankung.“
„Dann möchte ich auch zunächst mit einer Standardantwort aufräumen. Oft wirst du schon gehört oder auch gelesen haben – Carpe Diem, als ob ich aufgrund dieser Erkrankung nun jeden Tag schätzen lernte oder lerne, ich gänzlich von dem Ende dieser Tage gejagt würde, und darum meine Bucketlist aufstellte und sie nun nach Möglichkeit abarbeiten will.“
Ihr Gegenüber schmunzelte, wenn auch etwas verlegen.
„Im Gegenteil, auch wenn ich manchmal so empfinde, gerade bei Nacht, träume, auf dem Galgeneimer zu tanzen, den gespenstischen Schatten dessen sehe, der mir diesen Eimer unter den Füßen wegstoßen will, aber das sind Nachtgesichter. Die Tage sind meist anders – hier bin ich die meiste Zeit bemüht, ein möglichst normales Leben zu führen und den nächtlichen Druck herauszunehmen.
Bitte versteh mich nicht falsch, ich lese und liebe Horaz mit seiner Ode und dem Carpe Diem. Aber sein Nutzen des Tages misstraut der Zukunft. Wie meine Videokünstlerin das Leben liebt am Tag vor ihrem Tod, traue ich der Zukunft, und wenn sie nur einen Tag lang währte. Weil ich weiß, dass ich an meiner Erkrankung, vermutlich in gar nicht weiter Zukunft, sterben werde, also weil ich auf dieses Kommende bauen kann, ist mir nicht nur heute, auch nicht jeder Tag, sondern gerade ein vernünftiger Alltag so wichtig.
Wenn es mir wieder einmal am Morgen nicht übel ist, ich nicht von einer der Therapien kraftlos und erschlagen bin, wenn ich mit den Kindern, mit meinem Mann, am Frühstückstisch sitzen darf, vielleicht sogar Appetit habe und, wenn es mir wirklich gut geht, sogar Frühstück für meine Lieben richten kann, dann ist der Beginn des Tages schon gelungen. Auch danach, wenn ich meinen unspektakulären Tätigkeiten nachgehen kann, bei der Massage jemanden glücklich mache, im Workshop Entwürfe gestalten kann, neue Kollektionen kreiere, im Telefonat mit potentiellen Kundinnen und Auftraggeberinnen spreche, wenn ich mit jungen Bewerberinnen, mit Models konferiere, mit ihnen Pläne schmiede und ohne große Ablenkung mittags einen Kaffee mit meinen Mitarbeiterinnen und Kolleginnen auf der Straße in der Sonne nehmen kann, dann empfinde ich, ist der Tag gut. Insbesondere ist er dann in Ordnung, wenn er so ist, wie er vor meiner Erkrankung war.
Von diesen Wunschtagen unterscheide ich diejenigen, an...