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E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Vieux-Chauvet Liebe Wut Wahnsinn
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32214-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Übersetzt von Claudia Steinitz, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover, aktualisiert und kommentiert von Nathalie Lemmens
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-641-32214-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In 'Liebe' beobachtet Claire voller Sehnsucht das Liebes- und Eheleben ihrer beiden Schwestern. Als Einzige mit dunkler Haut geboren, bleiben ihr Glück und Erfüllung verwehrt. Doch gegen ihre erotischen Wünsche ist Claire machtlos. Die heimliche Liebe zu ihrem Schwager steigert sich zur Besessenheit, als sie sich plötzlich mit einem Messer in der Hand wiederfindet.
In 'Wut' wird die junge Rose vom Vater genötigt, sich einem Soldaten hinzugeben, um die gewaltsame Okkupation ihrer Ländereien zu verhindern. Doch ihre Mutter und ihr Bruder wissen, dass man sich vor gesetzlosen Despoten nicht der Ohnmacht ausliefern darf. Sie setzen alles daran, das Schlimmste zu verhindern.
In 'Wahnsinn' wartet der Dichter René auf seine Hinrichtung. Wehrlos den Handlangern der Diktatur ausgeliefert, scheint es für ihn keine Hoffnung mehr zu geben. Da, in seiner dunkelsten Stunde, verleihen ihm die Seelen der Toten und die Einflüsterungen der Poesie ungeahnte Kräfte.
Marie Vieux-Chauvets Roman in drei Novellen ist ein Plädoyer für Freiheit und Menschlichkeit, dessen souveräne, kompromisslose Erzählkunst über alle Schrecknisse der Wirklichkeit triumphiert. Die schonungslose Anklage gegen das haitianische Regime, das die Autorin einst ins Exil trieb, entpuppt sich aus heutiger Sicht als zeitlose Chronik des Widerstands gegen Rassismus, Willkür und das Unrecht des Stärkeren.
Marie Vieux-Chauvet (1916-1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l'Annexe de l'École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman 'Töchter Haitis' (Fille d'Haïti) erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane 'Tanz auf dem Vulkan' (La Danse sur le Volcan, 1957) und 'Wiedersehen in Fonds-des-Nègres' (Fonds des Nègres, 1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung 'Les Araignées du Soir'. Die Trilogie 'Liebe, Wut, Wahnsinn' (Amour, Colère, Folie, 1968) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, 'Die Raubvögel' (Les Rapaces), der 1971 erschien.
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Ich stehe dabei, blass wie ein Schatten, und verfolge das Drama, Szene für Szene. Ich allein durchschaue alles, ich allein bin gefährlich, und niemand hier ahnt etwas davon. Die alte Jungfer! Die keinen Mann gefunden hat, die nicht weiß, was Liebe ist, die niemals wirklich gelebt hat. Sie täuschen sich. Allerdings genieße ich meine Rache in aller Stille. Das ist meine Stille, meine Rache. Ich weiß, in wessen Arme Annette sich werfen wird, und ich werde meiner Schwester Félicia um nichts in der Welt die Augen öffnen. Sie ist allzu selig und trägt allzu stolz ihren drei Monate alten Fötus im Leib. Wenn sie schlau genug war, einen Ehemann zu ergattern, soll sie es gefälligst auch sein, um ihn zu halten. Sie hat zu viel Vertrauen in sich selbst, zu viel Vertrauen in die Welt. Ihre Gelassenheit bringt mich zur Verzweiflung. Sie lächelt und näht Hemdchen für ihren künftigen Sohn; denn es muss natürlich ein Sohn sein! Und Annette wird die Patin, darauf wette ich …
Ich lehne mich in meinem Zimmer auf das Fensterbrett und beobachte sie: Im hellen Tageslicht stehen sie da, und Annette bietet Jean Luze die Frische ihrer zweiundzwanzig Jahre. Sie wenden Félicia den Rücken zu und besitzen einander, ohne sich zu berühren. Das Verlangen funkelt in ihren Augen. Jean Luze kämpft dagegen an, aber das Ende ist unausweichlich.
Ich bin neununddreißig Jahre alt, und ich bin noch Jungfrau. Kein beneidenswertes Schicksal, das die meisten Frauen in der haitianischen Provinz ereilt. Ist es überall so? Gibt es auf der ganzen Welt Kleinstädte wie diese, festgefahren in uralten Gewohnheiten, wo einer dem anderen nachspioniert? Meine Stadt! Meine Heimat!, sagen sie voller Stolz zu diesem trostlosen Friedhof, wo man nur wenig Männer sieht außer dem Arzt, dem Apotheker, dem Priester, dem Bezirkskommandanten, dem Bürgermeister und dem Präfekten, alle frisch ernannt und so unverkennbar «Leute von der Küste»,1 dass einem übel wird. Verehrer sind eine Seltenheit, da es seit jeher der größte Ehrgeiz der Eltern ist, ihre Söhne nach Port-au-Prince oder ins Ausland zu schicken, um sie zu Gelehrten zu machen. Einer von ihnen, Doktor Audier, ist nach seinem Studium in Frankreich zu uns zurückgekehrt, doch bis heute suche ich bei ihm vergeblich nach den Spuren des Übermenschen …
Ich bin 1900 geboren. Zu einer Zeit, da die Vorurteile in dieser kleinen Provinz hohe Wellen schlugen. Drei Gruppen hatten sich gebildet und hielten sich wie Feinde voneinander fern: die «Aristokraten», zu denen wir gehörten, die Kleinbürger und das Volk. Schon seit frühester Kindheit quälte mich meine besondere, geradezu zwiespältige Situation. Ich litt unter der dunklen Färbung meiner Haut, diesem von einer fernen Ahnin geerbten Mahagoniton, der im engen Kreis der Weißen und der weißhäutigen Mulatten, in dem meine Eltern verkehrten, einen Missklang darstellte.2 Aber das ist nun vorbei, und mir liegt zumindest im Moment nicht daran, mich dem zuzuwenden, was nicht mehr ist …
Père Paul meint, ich hätte mir den Geist mit Bildung vergiftet. Meine Intelligenz schlummerte, und ich habe sie geweckt, das ist die Wahrheit. Daher die Idee zu diesem Tagebuch. Ich habe ungeahnte Begabungen bei mir entdeckt. Ich glaube, ich kann schreiben. Ich glaube, ich kann denken. Ich bin hochmütig geworden. Ich bin mir meines Wertes bewusst. Mein Innenleben der Beurteilung durch fremde Augen entziehen, das ist mein Ziel. Hehres Bestreben! Werde ich es schaffen? Von mir zu erzählen, ist einfach. Ich muss nur sehr viel lügen und mir dabei einreden, dass ich die Wahrheit niederschreibe. Ich werde mich in Aufrichtigkeit üben: Die Einsamkeit hat mich verbittert; ich bin wie die Früchte, die vor der Reife vom Baum fallen und auf dem Boden faulen, ohne dass man sich die Mühe macht, sie aufzuheben. Es lebe Annette! Nach Justin Rollier, dem an Schwindsucht gestorbenen Dichter, kam Bob, der Syrer; nach Bob kam Jean, unser beider Schwager, und sie ist noch keine dreiundzwanzig. Unsere kleine Stadt emanzipiert sich. Jetzt sind also auch wir von dem verseucht, was man Zivilisation nennt.
Ich bin die älteste der drei Clamont-Schwestern. Zwischen uns liegen jeweils genau acht Jahre. Wir leben zusammen in diesem Haus, dem ungeteilten Erbe unserer verstorbenen Eltern. Mir wurden, wie üblich, die mühseligsten Arbeiten übertragen. «Du hast doch nichts zu tun», scheinen sie zu sagen, «also beschäftige dich.» Und sie überlassen mir die Zügel des Hauses und die Kontrolle über die Kasse. Ich bin Dienerin und Herrin zugleich, eine Art Gouvernante, auf deren Schultern das tägliche Einerlei ihres Lebens lastet. Als Gegenleistung gibt mir jeder etwas Geld, damit ich für mich selbst sorgen kann. Annette arbeitet. Die ruinierte, in Bedrängnis geratene Bürgerin versinkt schamlos in Zugeständnissen und Zügellosigkeit, und so steht sie als Verkäuferin bei Bob Charivi, einem Syrer der übelsten Sorte,3 der an der Hauptstraße einen Laden hat. Jean Luze, Félicias Ehemann, ein schöner Franzose, der durch irgendein Wunder an unseren gastlichen Ufern gestrandet ist, arbeitet für Mister Long, den Direktor einer amerikanischen Firma, die sich vor zehn Jahren bei uns niedergelassen hat. Da ich nur wenig Bedürfnisse habe, häufe ich dank ihrer Gaben einen kleinen Schatz an. Mit zunehmendem Alter entwickle ich einen schnöden Geiz. Man muss nur zusehen, wie ich jeden Monat geduldig meine Ersparnisse zähle. «Es ist erbärmlich, dass Claire sich so vernachlässigt!», sagt Annette.
Félicia zuckt mit den Schultern.
Seit ihrer Hochzeit gibt es für sie niemanden auf der Welt außer Jean Luze. Den schönen Jean Luze! Den intelligenten Jean Luze! Jean Luze, den geheimnisumwitterten, exotischen Ausländer, der seine Bücher und seine Plattensammlung bei uns eingeräumt hat und der sich, das merke ich wohl, über unsere Lebensweise und unser rückständiges Denken lustig macht. Er ist der Mann ohne Tadel, der ideale Ehemann. Félicia strömt über vor Bewunderung und Liebe. Ich werde ihr nicht die Augen öffnen. Regelmäßig beobachte ich vom Fenster aus, was sie tun und lassen. So habe ich eines Abends Annette in den Armen ihres syrischen Chefs ertappt. Sie saß auf der Rückbank des Autos, das sie halb in die Garage gefahren hatten. Ich habe alles gesehen, alles gehört, obwohl sie vorsichtig waren, um Félicia nicht zu wecken. An mich hatten sie nicht gedacht. Wie könnte die alte Jungfer, die sich um Liebesdinge nicht schert, sie auch nur einen Augenblick verdächtigen? Das Verhältnis dauerte bis zu Félicias Verlobung. Dann geriet für Annette wieder alles ins Wanken …
Félicia, mittelgroß und dicklich, helle Haut und farbloses blondes Haar, hat die feinen Züge einer Weißen. Annette, obwohl ebenfalls weiß, hat Gold unter der Haut. Und ihr Haar ist schwarz, bläulich schwarz wie ihre Augen. Abgesehen von der Hautfarbe sieht sie aus wie ich vor sechzehn Jahren. Denn diese beiden weißen Mulattinnen sind meine Schwestern. Ich bin die Überraschung, die das vermischte Blut unseren Eltern bereitet hat; eine unangenehme Überraschung in jenen Jahren, kein Zweifel, sie haben mich genug darunter leiden lassen … Die Zeiten haben sich geändert, und ich habe mit dem Alter gelernt, zu schätzen, was mir zugefallen ist. Die Geschichte steht nicht still und die Mode auch nicht, zum Glück …
Jean Luze betrachtet Annette. Er kämpft. Dabei weiß er genau, dass er am Ende erliegen wird. Wenn sie einen Mann im Kopf hat, dann gibt sie nicht so schnell auf, diese Erkenntnis habe ich teuer bezahlt. Dieser Mann ist einer der verführerischsten, die ich je gesehen habe. Seine großen Schritte im Hof! Seine Art, die Treppe hinaufzustürmen! Seine so junge, so fröhliche, leicht heisere Stimme, die das Glück, das sie verbreitet, zu dämpfen scheint! Seine perfekte Sprechweise! Und sein Blick! Unbewusst liebkost er alles. Sogar mich …
«Wie geht’s, Claire?»
Er läuft an mir vorbei und geht hinauf in sein Zimmer, ihr gemeinsames Zimmer. Aber er begehrt Félicia nicht mehr, ich weiß es. Seine Gedanken sind bei Annette. Und die Schwangerschaft schadet Félicia. Sie ist außerstande, sich zu verteidigen. Ihr Lächeln wird immer vertrauensvoller, immer süßlicher, während Annettes Blick immer aggressiver und quälender wird. Wann platzt der Knoten? Ich lauere. Ich stehe hinter den Kulissen, und sie denken, ich sei nicht da. Doch ich bin der Regisseur des Dramas. Ich stoße sie auf die Bühne, sehr geschickt, ganz so, als mischte ich mich nicht ein, dabei lenke ich sie. Und sei es nur, indem ich Félicia zurede, sich im Liegestuhl auf dem Balkon auszuruhen, weil ich weiß, dass Annette und Jean Luze unten im Esszimmer miteinander allein sind …
Mit scheinbarer Gleichgültigkeit schließe ich die Türen und warte. Sie schweigen, verschlingen einander mit Blicken, mit klopfenden Herzen, verwirrten Sinnen. Der Moment ist noch nicht gekommen. Annette kann nicht vergessen, dass Jean Luze ihr Schwager ist, und für ihn bleibt Annette die Schwester seiner Frau.
Wir alle sehen seit einiger Zeit aus wie räudige Hunde, so sehr peinigen uns die Angst, der Sommer, die Sonne, der Hunger und alles, was daraus folgt. Schuld daran sind die Wirbelstürme, die Gott über uns entfesselt hat, um uns für das zu strafen, was Père Paul unsere Gottlosigkeit und unsere Schwäche nennt.
Die grausame Sonne des haitianischen Hochsommers streckt uns die Zunge heraus. Eine dicke, riesige Zunge voller Gerüche, die über unsere Haut leckt und uns den Atem nimmt. Wir verbrennen. Unser Schweiß rinnt ohne Unterlass. Es gibt kein Wasser mehr in der Luft, und der Kaffee, der einzige...