Vieux-Chauvet | Der Tanz auf dem Vulkan | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Vieux-Chauvet Der Tanz auf dem Vulkan

Roman. Übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover - «Ein großartiger Roman, meisterhaft.» Harvard Review online
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-28953-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman. Übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover - «Ein großartiger Roman, meisterhaft.» Harvard Review online

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-641-28953-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Eine ergreifende Geschichte über Hass und Angst, Liebe und Verlust und die komplexen Spannungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Ein Meisterwerk.' Boston Globe
Port-au-Prince 1792: Minette ist die Tochter einer freigelassenen Sklavin. Dank ihrer außergewöhnlichen Gesangsstimme darf sie als erste Farbige im Theater von Port-au-Prince auftreten. Auf den Zuschauerrängen sitzen die Kolonialherren. Sie sind durch die harte Arbeit ihrer Sklaven reich geworden und kopieren die Pariser Lebensart. Doch unter der Oberfläche brodelt es schon lange. Die Ausbeutung von Mensch und Natur schürt soziale und ethnische Spannungen. Minette verliebt sich in einen erfolgreichen Freigelassenen. Als sie jedoch bemerkt, dass er seine Sklaven genauso brutal behandelt wie die Weißen, bricht sie mit ihm und schließt sich einer Untergrundorganisation an.

Wie schon in 'Töchter Haitis' besticht Vieux-Chauvets Erzählkunst durch die lebensnahe Figurenzeichnung. Zudem ist 'Tanz auf dem Vulkan' eine historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.

Marie Vieux-Chauvet (1916-1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l'Annexe de l'École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman 'Töchter Haitis' (Fille d'Haïti) erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane 'Tanz auf dem Vulkan' (La Danse sur le Volcan, 1957) und 'Wiedersehen in Fonds-des-Nègres' (Fonds des Nègres, 1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung 'Les Araignées du Soir'. Die Trilogie 'Liebe, Wut, Wahnsinn' (Amour, Colère, Folie, 1968) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, 'Die Raubvögel' (Les Rapaces), der 1971 erschien.

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I

Ganz Port-au-Prince hatte sich an diesem Junitag auf den Kaimauern eingefunden und erwartete freudig die Ankunft eines neuen Gouverneurs.

Seit zwei Stunden hielten bewaffnete Soldaten eine riesige Menschenmenge in Schach, in der Männer, Frauen und Kinder aller Hautfarben versammelt waren. Die Mulattinnen3 und schwarzen Frauen, die wie üblich ein wenig abseits standen, hatten sich größte Mühe gegeben, um mit der Eleganz der weißen Kreolinnen4 und der Europäerinnen zu konkurrieren. Hin und wieder berührten die gestreiften oder geblümten Kattunröcke der affranchies5 im Vorübergehen demonstrativ die schweren Taftröcke und die duftigen gaules6 aus transparentem Musselin der Weißen. Die hier wie dort nur notdürftig von zarten, durchscheinenden Miedern verhüllten Busen zogen die erfreuten Blicke der Männer auf sich, die trotz der entsetzlichen Hitze an diesem Sommermorgen samtene Anzüge trugen, dazu plissierte Jabots, Gehröcke und, als sei das alles noch nicht genug, Westen. Unter ihren Lockenperücken schwitzten sie schlimmer als Sklaven. Welch ein Segen war es da, wenn die Frauen hochmütig ihre Fächer wippen ließen. Die farbigen Frauen, denen ein neues Gesetz das Tragen von Schuhen verbot, wirkten durch den Schmuck an ihren Zehen nur umso origineller und begehrenswerter. Beim Anblick ihrer diamantengeschmückten Füße bereuten die weißen Frauen, die neue Vorschrift gegen «diese Kreaturen» gefordert zu haben, die es gewagt hatten, ihre Kleidung und ihre Frisuren zu imitieren.

Sie hatten sich beim Gouverneur über dieses unverzeihliche Vergehen beschwert und Gerechtigkeit gefordert, ohne einzugestehen, dass sie dadurch lediglich Rivalinnen bestrafen und demütigen wollten, von denen sich ihre Liebhaber und Ehemänner allzu sehr angezogen fühlten. Die Gesetze der Gesellschaft waren seit jeher mächtig. Mühelos errangen sie den Sieg gegen die aus der minderwertigen Rasse der Sklaven hervorgegangenen affranchies.

Doch nun schmückten «diese Kreaturen», zweifellos aus Rache, ihre Füße mit Juwelen, die ihnen von weißen Männern geschenkt worden waren. Das war der Gipfel der Unverschämtheit. Trotzdem konnte niemand umhin, zuzugeben, dass sie hinreißend waren, kokett und betörend. Unübertroffene Meisterinnen darin, ihre schön geschwungenen Taillen, die provozierenden Rundungen ihrer Brüste und ihre geschmeidigen, breiten Hüften zur Geltung zu bringen. Die Vermischung so unterschiedlichen Blutes hatte in ihnen wahre Wunder an Schönheit hervorgebracht. Und das wiederum war von der Natur selbst unverzeihlich.

Die Offiziere in ihren blitzenden Uniformen, die sich jede Frau, ob weiß oder farbig, als Liebhaber wünschte, schielten unverhohlen nach den schwarzen Schönheiten, an deren kunstvoll geknoteten Kopftüchern ebenso viele Juwelen funkelten wie an ihren Füßen. Das Dekolleté halb entblößt, lächelten sie ihnen zu, und ihre perfekten Zähne zeichneten sich wie ein leuchtendes Band auf ihren dunklen Gesichtern ab. Hin und wieder erklang schallendes Gelächter. Doch die lärmende Fröhlichkeit war nur vorgetäuscht, und in den Blicken lauerten Verachtung, Hass und Provokation.

Unter den Frauen von Saint-Domingue tobte ein Kampf auf Leben und Tod, ausgelöst durch eine Rivalität, die in jener Zeit sämtliche Beziehungen prägte: die Rivalität zwischen weißen Plantagenbesitzern und landlosen Weißen7, zwischen Offizieren und Regierungsbeamten, zwischen Neureichen ohne Namen oder Titel und Angehörigen des französischen Hochadels, dazu die Rivalität zwischen den weißen Grundbesitzern und jenen aus der Klasse der affranchis, zwischen den Haussklaven und den Feldsklaven. Zusammen mit dem Groll der affranchis und dem stummen Protest der afrikanischen Schwarzen, die wie Vieh behandelt wurden,8 erzeugte dieser Zustand eine nie nachlassende Anspannung, die die Atmosphäre seltsam drückend machte.

Das war zweifellos der Grund dafür, dass man trotz des regen Treibens, des Gelächters, der prächtigen Kleider und der Perücken eine vage Bedrohung zu spüren meinte. Auch wenn nach außen hin nichts davon zu erkennen war. Wie stets bei öffentlichen Festlichkeiten reihten sich in den Straßen sechsspännige Karossen, Kutschen mit Dachsitz und leichtere Chaisen9 aneinander. Die prächtigen Uniformen der Offiziere, die eleganten Anzüge der Kolonisten, die goldgesäumten Kutschen und die frisierten, geschminkten, behandschuhten, mit Blumensträußchen geschmückten Frauen bildeten im Zusammenspiel mit den Bäumen, dem strahlend blauen Himmel und der gleißenden Sonne ein herrliches Tableau. Lachend blieb man vor den Auslagen der Juweliere und der Parfümeure stehen, und die Frauen nahmen mit verheißungsvollen Blicken die Geschenke der Männer entgegen. Gruppen aneinandergeketteter Sklaven wurden von ihren Herren vorbeigeführt, und ab und an hörte man den scharfen Knall einer Peitsche, die auf einen nackten Oberkörper traf.

Plötzlich erhob sich aus der Menge lautes Geschrei: Das königliche Schiff war in Sicht gekommen. Sogleich begannen die Glocken zu läuten, Kanonen wurden abgefeuert. Mit Bannern und Kreuzen, Zierrat und Weihrauchfässern erwarteten die Geistlichen unter einem Baldachin das Eintreffen des neuen, vom König ernannten Gouverneurs.

Hundert Männer stiegen in Schaluppen und ruderten ihm entgegen. Als er an Land kam, applaudierte die Menge, Rufe erschallten: «Lang lebe Seine Majestät der König von Frankreich», und man geleitete ihn zur Kirche. Neugierige kleine Kinder wehrten sich dagegen, zur Seite gedrängt zu werden. Beschimpfungen wurden laut. Einige Frauen nutzten die Gelegenheit, ihren Rivalinnen Beleidigungen zuzurufen. Eine junge Mulattin heftete ihren Blick auf einen Offizier, der zu ihr herübersah. Er hielt eine blonde Frau am Arm, deren ganze Aufmerksamkeit auf das Spektakel gerichtet war. Die Mulattin nahm ein Blumensträußchen von ihrem Mieder und warf es dem Mann zu, der es lächelnd auffing. Sofort fuhr die blonde Frau herum.

«Du dreckiges Negerweib10», schrie sie die Mulattin an, «wenn du jemanden brauchst, der dein Feuer löscht, dann such dir einen Sklaven, die helfen dir gern.»11

Wortlos sah sich die Mulattin nach den Soldaten um.

Wie sollte sie dieser weißen Hure bei so vielen Uniformen um sich herum ihre Schmähungen heimzahlen? Wenn doch bloß die Soldaten nicht wären, dann würde sie ihr die Augen auskratzen! Doch nach reiflicher Überlegung zog sie es vor, dreist lächelnd die Achseln zu zucken.

Sie trug einen langen weißen, mit roten Blüten bedruckten Leinenrock, und das Batistmieder, das er an ihrer Taille umschloss, war so durchsichtig, dass darunter ihre Brüste zu sehen waren. Das Brusttuch, das sie sich nachlässig um die Schultern gelegt hatte, fiel ihr spitz über den Rücken und ließ den Ausschnitt des Mieders frei. Der hohe madras12 saß schräg auf ihrem Kopf, sodass er die rechte Braue halb verdeckte, und die falschen Juwelen, mit denen er geschmückt war, funkelten in der Sonne. In geschmeidigem, wiegendem Gang folgte sie langsam der Menge, wobei sie sich mit koketten, aufreizenden Blicken umsah.

Jemand rief: «Tausendlieb». Lächelnd drehte sie sich um und winkte.

«Wo bist du denn abgeblieben? Ich sehe dich ja gar nicht mehr», rief sie auf Kreolisch.

Ein Mann trat zu ihr. Es war ein Weißer in Leinenrock und -hose, ohne Perücke und Schnallenschuhe.

«Du lässt dich nicht mehr trösten, obwohl sie dir immer noch Hörner aufsetzt?», fragte sie mit einem fröhlichen Lachen.

«Ich habe mich mit dem Gehörntsein abgefunden», antwortete der Mann und nahm ihren Arm. «Komm, Tausendlieb, lass uns im nächsten Wirtshaus etwas trinken. Ich kenne einen Wirt, der macht einen fabelhaften Punsch mit Tafia13 …»

«Tafia … Wenn das alles ist, was du mir zu bieten hast …!»

«Meinetwegen, komm mit und bestell, was du willst.»

«Süßen Bordeauxwein, den mag ich.»

Sie gingen davon, während sich die Menge auf dem weitläufigen Platz allmählich auflöste. Unter lautem Hufgeklapper fuhren von schwarzen Kutschern gelenkte Karossen durch die Straßen.

Zwei kleine Mädchen, das eine zwölf, das andere zehn Jahre alt, gingen Hand in Hand nebeneinanderher. Sie waren barfuß, ärmlich gekleidet in ausgebleichte Kattunröcke und Mieder, die von Nadeln züchtig zusammengehalten wurden, und trugen das Haar offen. Mit ihrer goldenen Haut und dem langen Haar hätte man sie für zwei mittellose weiße Mädchen halten können. Doch wer genauer hinsah, bemerkte, dass schwarzes Blut ihren Zügen jenen besonderen Reiz, jene Spur von Andersartigkeit verlieh, die ein Weißer auf den ersten Blick erkannte. Vor allem die Ältere war mit ihren sinnlichen Lippen, den schwarzen, zu den Schläfen hin verlängerten Augen und dem widerspenstigen Haar der Inbegriff einer mestive14. Wie sie so Hand in Hand dahingingen, wirkten sie brav und folgsam, doch der Anschein wurde durch ihre neugierig blitzenden Augen Lügen gestraft.

«He, Minette», rief plötzlich eine dicke, farbige Frau, die einen schweren Korb mit Vorräten in der Hand hielt, auf Kreolisch, «wo willst du denn mit deiner kleinen Schwester hin? Sieh zu, dass du nach Hause kommst, sonst macht sich deine Mutter noch...


Lemmens, Nathalie
Nathalie Lemmens, geboren 1976, stammt aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens. Sie studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seitdem aus dem Französischen, Englischen und Niederländischen, u.a. Jean-Christophe Rufin, Adam Zamoyski und Gustaaf Peek.

Vieux-Chauvet, Marie
Marie Vieux-Chauvet (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l‘Annexe de l‘École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman «Töchter Haitis» (Fille d'Haïti) erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane «Tanz auf dem Vulkan» (La Danse sur le Volcan, 1957) und «Wiedersehen in Fonds-des-Nègres» (Fonds des Nègres, 1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung «Les Araignées du Soir». Die Trilogie «Liebe, Wut, Wahnsinn» (Amour, Colère, Folie, 1968) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, «Die Raubvögel» (Les Rapaces), der 1971 erschien.



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