2. Kapitel
Plötzlich kam der Zug zum Stehen. Auf den ersten Blick bestand Westerbork aus einem langen Bahnhofsgleis und daneben waren Baracken. Alle stiegen aus dem Zug. Wir wurden von einer Gruppe Krankenschwestern empfangen. Sie brachten uns zu einer Baracke, wo uns ein Team von deutschen und niederländischen Ärzten untersuchte. Vorher mussten wir registriert werden und wurden gefragt, ob wir irgendwelche Juwelen, Gold oder Geld dabeihätten. Es war unser erstes Zusammentreffen mit dem effizienten Registrierungssystem der Deutschen und dauerte stundenlang. Tausendsechshundert Menschen mussten registriert werden und wir gehörten zu den letzten. Mittlerweile war es elf Uhr geworden, normale Schlafenszeit, und wir hatten in der Nacht davor nicht viel geschlafen. Endlich war alles vorbei und wir wurden zur Baracke 70 gebracht. Unser Gepäck stand bereits im Eingangsraum. Auf der linken Seite der Baracke wohnten die Frauen und die Kinder, auf der rechten war der Schlafraum der Männer. Die Pritschen standen sehr dicht beieinander und waren dreistöckig. Meine Mutter und ich eroberten uns obere Pritschen, Jackie hatte die unter meiner, und Max war mit Vater drüben, auf der rechten Seite der Baracke. Wir bekamen etwas Kaffee und Brot, da wir das Abendessen um sechs Uhr verpasst hatten, und beeilten uns mit dem Essen, um noch ein bisschen Schlaf zu bekommen. Auf den Betten gab es keine Laken, aber wir hatten eine graue Decke und Strohmatratzen. Erschöpft schliefen wir ein.
Um sieben Uhr wurden wir von unserem Barackenältesten geweckt, der Walter hieß. Jeder Muskel meines Körpers beschwerte sich, doch ich musste mich bewegen, in fünfzehn Minuten würde es Kaffee und Brot geben. Also schlüpften wir in unsere Kleider. Es gab kein Wasser in der Baracke, um uns zu waschen, und wir mussten zu einem Waschraum gehen. Die Toiletten waren noch weiter weg. Hier, in dem gemauerten Toilettenblock, gab es Toiletten ohne Sitze und sie waren nicht sehr sauber. Es gab keine Wasserspülung und keinen elektrischen Strom. (Später gingen Max und Jackie nachts mit selbst gemachten Laternen aus kleinen Konservenbüchsen mit hineingeschnittenen Löchern und einer Kerze darin zur Toilette.) Nachdem wir uns gewaschen hatten, kehrten wir zur Baracke zurück, wo wir Max und Vater mit unserem Frühstück fanden. Alle waren froh, wieder zusammen zu sein, und frühstückten am Tisch neben Vaters Pritsche.
An diesem Tag beschlossen wir, Westerbork zu erkunden. Wir fanden ein kleines Krankenhaus, Werkstätten und eine Fabrik. Was dort produziert wurde, wusste niemand. In einem separaten Teil des Lagers befand sich, was man eine Strafbaracke nannte. Sie war für Untergetauchte oder für Menschen vom Widerstand bestimmt.
Ein paar aus Deutschland geflohene Juden waren schon länger in Westerbork und hatten die Aufsicht über uns. Andererseits waren sie natürlich dem SS-Kommandanten unterstellt, der außerhalb des Lagers ein hübsches Haus besaß.
Bald hatten wir herausgefunden, dass das Leben im Lager Westerbork nicht allzu schlimm war, selbst wenn wir ohne Privatsphäre und Bequemlichkeiten wie Duschen auskommen mussten. Das Essen war zwar nicht besonders appetitlich, aber man konnte Päckchen von Freunden außerhalb bekommen, um die Rationen zu ergänzen.
Sonja, die von der SS wieder freikam, schickte uns Pakete mit Nahrungsmitteln, sodass wir immerhin genug zu essen hatten. Auch ein warmer Mantel für mich war dabei und ein Paar warme Hosen für jeden von uns.
Einige Tage nach unserer Ankunft habe ich Herman getroffen. Er und seine Eltern waren in der Baracke 68. Wir verbrachten so viel Zeit wie möglich miteinander und gingen sogar zu den Turnstunden, die Onkel Max gab, um uns fit zu halten und damit wir uns nicht langweilten. (Onkel Max, der jüngere Bruder meines Vaters, war in derselben Nacht abgeholt worden wie wir, zusammen mit seiner Frau Clara.)
Etwa sechs Wochen nach unserer Ankunft in Westerbork hörten wir, dass ein Transport mit Häftlingen nach Deutschland geschickt werden sollte, und wir fragten uns, wer wohl dabei sein würde. Die Stimmung sank. Jeden Morgen wurde eine Liste mit Namen im Eingang der Baracke aufgehängt. Diejenigen, deren Namen auf der Liste standen, hatten sich mit ihrem Gepäck um sieben Uhr abends bereitzuhalten, alle anderen mussten ab sechs in ihren Baracken sein.
Den ganzen Tag über war das Lager ein Hexenkessel. Familien, die getrennt werden sollten, weinten. Eine Nachricht im Eingang teilte mit, dass Rabbi Blum jeden segnen würde, der es wünsche. Jung und Alt warteten in der Schlange, um von diesem wunderbaren Mann gesegnet zu werden. Ich ging auch hin, und solange ich lebe, werde ich die freundlichen Augen nicht vergessen, mit denen er mich anschaute, bevor ich den Kopf senkte, um seinen Segen zu empfangen.
Um sieben Uhr kamen zwei Aufseher, um die Menschen, die es traf, zum Zug zu bringen. Der Zug bestand aus einer Reihe von Viehwaggons, auf deren Dächern Maschinengewehre befestigt waren, um Fluchtversuche während der Fahrt zu verhindern. Wie kann man das Elend derjenigen beschreiben, die Abschied nehmen mussten?
Gegen acht erhielt ich ein Päckchen – eine Uhr mit einem Foto Hermans darauf und einen Swann-Füller, Hermans kostbarsten Besitz. Ich wusste, dass Herman mir mit diesem Abschiedsgeschenk seine Liebe und seine Sorge mitteilen wollte. Ich weinte. Mir brach fast das Herz wegen dieser grausamen Trennung, und meine Mutter nahm mich in den Arm, um mich zu trösten. Um neun Uhr morgens fuhr der Zug, in dem auch Herman, seine Eltern und Rabbi Blum waren, mit unbekanntem Ziel los.
Einige Wochen nach jenem schrecklichen Abend kam ein Transport mit etwa hundert Personen in die Strafbaracke. Bald fanden wir heraus, dass die Eltern meines Vaters unter ihnen waren. Meinem Vater gelang es, die Erlaubnis zu einem Besuch zu bekommen, und so erfuhr er die ganze erbärmliche Geschichte.
Meine Großeltern hatten denen, die sie versteckten, viel dafür bezahlt, doch als dann das Geld zu Ende ging, haben sie sie an die Deutschen ausgeliefert. Sechs Wochen verbrachten sie anschließend im Gefängnis von Scheveningen, einem der schlimmsten Gefängnisse, die es während der deutschen Besatzungszeit in den Niederlanden gegeben hat. Meine Großmutter war Diabetikerin und hatte schon lange kein Insulin mehr bekommen. Sie sagte zu meinem Vater: »Ich bin froh, dass alles vorbei ist. Ich gebe auf. Ich bin schon halb tot.«
Am folgenden Sonntag durften wir unsere Großeltern sehen. Die Haare meiner Großmutter waren weiß geworden, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, so dünn war sie geworden. Ich war nach ihr benannt und schon immer ihre Lieblingsenkelin gewesen.
»Mein Liebling«, sagte sie. »Wie groß du geworden bist.« Sie hielt mich fest im Arm, Tränen strömten ihr über das Gesicht.
»Bitte, Oma, weine nicht«, bat ich.
»Nun, junge Dame, bekomme ich etwa keinen Kuss?« Das war Opa, der versuchte, uns zu beruhigen.
Oma ließ mich los. Ich rannte zu meinem Opa und umarmte ihn. Er war auch dünn geworden, aber er hatte noch immer den Schalk in den Augen, er war eigentlich ein fröhlicher, unbekümmerter Mann.
Wir blieben den ganzen Sonntagnachmittag mit den Großeltern zusammen, hatten ihnen Essen und etwas Kleidung mitgebracht, denn sie besaßen nichts. Während der nächsten Wochen, in denen meine Großeltern in Westerbork waren, besuchten wir sie so oft, wie es uns erlaubt wurde, bis am 25. Januar 1944 ein weiterer Zug kam und sie nach Auschwitz brachte.
Am 5. Dezember ist in Holland der Nikolaustag. Dann bekommen die kleinen Kinder, wenn sie das Jahr über brav gewesen sind, alle möglichen Geschenke. Drei Wochen vorher hatte ich die Aufsicht über die Kinder in unserer Baracke übernommen und mit ihnen Girlanden aus buntem Papier und Klebstoff gebastelt, die Walter für mich organisiert hatte. Zum Beispiel bastelten wir Züge und Autos aus Streichholzschachteln. Die Kinder verbrachten eine wunderbare Zeit mit diesem Spielzeug, und die Mütter, die froh waren, sie ein paar Stunden am Tag versorgt zu wissen, versprachen, für Nikolaus Mehl und Zucker zu spenden, damit wir Plätzchen backen konnten. In der Baracke herrschte ein wohlwollender Geist. Erwachsene blieben an dem Tisch stehen, wo die Kleinen arbeiteten, und boten Ratschläge und Hilfe an. Der Stapel mit den kleinen Geschenken wuchs, bis für jedes Kind etwas da war. Es machte ihnen nichts aus, dass sie ihre Geschenke selbst gebastelt hatten.
Ein paar Tage vor Nikolaus ging ich zu Walter und fragte ihn, ob er vielleicht ein Klavier besorgen könne. Zu einer Feier gehöre nun mal Musik. Er versprach, sich darum zu kümmern. Am Tag vor Nikolaus wurde ich von einem der Lagerältesten zum deutschen Kommandanten gebracht, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, das einzige Klavier des Lagers benutzen zu dürfen. Ich hatte große Angst, aber der alte Mann hielt meine Hand, während er auf Deutsch mit dem Kommandanten sprach und ihm erklärte, dass ich eine Feier ohne die Hilfe eines Erwachsenen organisiert hatte. Wir erwischten den Kommandanten offensichtlich bei guter Laune, denn als er zu mir sprach, lächelte er. Ich verstand kein deutsches Wort, deshalb schaute ich den Ältesten fragend an. Er machte sich nicht die Mühe, mir zu erklären, was gesagt wurde, flüsterte mir aber zu: »Sag ›Danke, mein Herr, vielen Dank‹.« Ich versuchte, die deutschen Worte so laut wie möglich zu wiederholen, dann waren wir wieder draußen, mit dem Versprechen, dass das Klavier am folgenden Nachmittag geholt werden könne. Walter war sehr glücklich, als wir ihm von unserem Erfolg berichteten, und überraschte mich mit einer weiteren guten Nachricht. Die Frauen der Baracke hatten sich an die Arbeit gemacht und...