Arena Kinderbuch-Klassiker. Mit einem Vorwort von Andreas Eschbach:
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-401-80185-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1. Kapitel Am 20.7.1866 begegnete die Governor Higginson 5 sm östlich der australischen Küste der schwimmenden Masse. Kapitän Baker hielt sie zuerst für eine neue Klippe und wollte gerade ihre Lage in die Karten eintragen, als die Masse zwei Wasserfontänen 50 m hoch in die Luft jagte. Damit sah sich Kapitän Baker vor die Alternative »Inselchen mit periodisch tätigem Geysir« oder »bisher unbekanntes Seesäugetier« gestellt. Am 23.7.1866 beobachtete die Cristobal Colon in den Gewässern des Pazifiks das Gleiche. Dieses Tier-Ding musste also extrem schnell sein, denn es hatte in drei Tagen mehr als 700 sm zurückgelegt. 2 000 sm weiter und 14 Tage später signalisierten sich die Helvetia, unterwegs nach Amerika, und die Shannon, unterwegs nach Europa, bei ihrer Begegnung im Atlantik das Monster unter 45° 15’ nördl. Breite und 60° 35’ westl. Länge. Auf beiden Schiffen glaubte man die Länge des enormen Säugers mit 100 m richtig zu schätzen. Nicht mal die Wale der Aleuteninseln Kulammak und Umgullick erreichen dieses Ausmaß. Kurz darauf trafen neue Beobachtungen von Bord der Pereira ein. Dann stieß die Aetna mit dem Ungeheuer zusammen. Dann folgte das Protokoll der Offiziere von der Normandie. Und als die Erhebung des Generalstabs unter Fitz-James an Bord der Lord Clyde vorlag, war bis zum Frühjahr des nächsten Jahres das Monster in Mode. Während der enorme Apparat ruhte, erwachten die Zeitungsredakteure, die Kabarettisten, die Schriftsteller, die Wissenschaftler und die Kaffeehausschwätzer und diskutierten den Überwal, bis er völlig abstrahiert war. Da wurde das Ding wieder konkret. Am 5.3.1867 stieß die Moravian unter 27° 30’ nördl. Breite und 72° 15’ westl. Länge nachts gegen einen Felsen, der da laut Karte nicht sein durfte. Nur der starke Rumpf des Schiffes und seine 400 PS retteten die 237 Passagiere. Einen Monat später, am 13. April 1867, geschah der Scotia von der »Cunard-Line« unter 45° 37’ nördl. Breite und 15° 12’ westl. Länge bei ruhigem Meer, günstigem Wind und vollkommen regelmäßiger Radbewegung das Gleiche. Eine erschreckendere Demonstration seiner Kraft konnte das Untier nicht geben: Die »Cunard-Line« hatte in den 26 Jahren ihres Bestehens noch kein Schiff, keinen Mann, keinen Brief und keine Stunde Fahrtzeit verloren. Wer in der Welt Cunard als Symbol der Sicherheit angesehen hatte, fuhr verstört empor. Die Öffentlichkeit empfand die Existenz des aggressiven Gegenstandes als Bedrohung und mobilisierte eine Reihe von Ausschüssen, die bei den Regierungen den Wunsch nach sauberen Meeren vortrugen und verlangten, dass eine Jagd auf das große graue Ungetüm veranstaltet würde. Und ich? Was hielt ich von diesen Vorgängen? Ich befand mich im März in New York, hatte gerade eine Nebraska-Expedition im Auftrag der französischen Regierung abgeschlossen und wartete auf das Schiff, das mich wieder in die Heimat bringen sollte. Die Diskussion unter allen Leuten, die von dem Ding gehört hatten und denen es ungeheuer war, langten bereits bei den lächerlichsten ichthyologischen Fantasien an. Die Insel- oder Klippenhypothese, die früher im Umlauf gewesen war, hatte man längst aufgeben müssen, auch die Schiffsrumpf-Theorie war angesichts der frappierenden Ortsveränderungen gefallen. Am längsten hielt sich die Mutmaßung, es handle sich bei dem Unwesen um ein Unterwasserfahrzeug mit außerordentlicher mechanischer Kraft. Aber: Dass ein Privatmann eine solche Maschine besaß, war unglaubhaft. Handelte es sich um militärische Materialtests irgendeines Landes? Der Glaube an ein Kriegswerkzeug wurde wankend, als die Staaten der Erde ihre Unbescholtenheitserklärungen abgegeben hatten. Sie fühlten sich alle bedroht, was ihren Versicherungen eine gewisse Glaubwürdigkeit verlieh. Außerdem war es unvorstellbar, dass der Bau eines solchen Seeriesen unbemerkt hätte vor sich gehen können. Damit fiel also die Hypothese vom Panzerschiff und nur die Monster-Idee blieb noch übrig. Weiße Wale und Seeschlangen haben die Fantasie der Menschen ja immer sehr stark beschäftigt. Da ich in Frankreich ein zweibändiges Werk über »Die Geheimnisse der Meerestiefen« veröffentlicht hatte, das von der gelehrten Welt mit großem Lob aufgenommen worden war, wurde ich als Spezialist in diesem noch ziemlich unklaren Teil der Naturwissenschaften häufiger zu den beunruhigenden Vorfällen befragt. Zunächst verweigerte ich jede Stellungnahme, aber nach dem Unfall der Scotia war auch ich von der Realität der Erscheinung überzeugt und veröffentlichte schließlich nach langem Bedrängtwerden einen ausführlichen Artikel über die Sache im New York Herald, den ich hier in Auszügen wiedergebe: Nach dem Ausscheiden all dieser Hypothesen bleibt also nur noch das Seetier von extremen Ausmaßen und Kräften übrig. Noch keine Sonde hat bisher die großen Tiefen der Ozeane erreicht, deshalb wissen wir nicht, was dort unten vorgeht, welche Tiere dort lebensfähig sind. Selbst für Vermutungen gibt es nur geringe Anhaltspunkte. Nähern wir uns dem Problem rein formal, müssten wir von folgender Voraussetzung ausgehen: Entweder kennen wir alle Gattungen von Lebewesen, die unsere Erde bevölkern, oder wir kennen nicht alle. Wenn wir sie nicht alle kennen und die Natur zum Beispiel noch ichthyologische Geheimnisse in ihren Meerestiefen verborgen hält, dann ist es durchaus vorstellbar, dass eines dieser unbekannten Tiere durch Zufälle auch einmal aus den Abgründen an die Oberfläche geworfen werden kann. Wenn wir aber nicht alle lebenden Gattungen kennen, dann müssen wir das fragliche Tier in diesen Gattungen suchen und da wäre ich bereit, die Existenz eines Riesen-Narwals zuzugestehen. Der gemeine Narwal, das Einhorn der Meere, erreicht eine Länge von knapp 20 m. Die Riesenausführung, die der Scotia zusetzte, ist demnach fünf- bis zehnmal so lang und im gleichen Maßstab vergrößert dürfen wir uns seine Kraft und seine Waffe denken. Diese Waffe ist ein Hauptzahn des Narwals, zu einer Art elfenbeinernem Degen ausgebildet, den das Tier sehr sinn- und erfolgreich wie eine Lanze verwendet. Man hat schon des Öfteren solche Zähne in den Leibern von Walen gefunden, andere staken in Schiffskielen. Das Pariser Museum der medizinischen Fakultät besitzt ein Exemplar von 2,25 m Länge, das an der Basis 48 cm Durchmesser hat. Wie gesagt: Zehnmal so stark, zehnmal so schnell, zehnmal so massig müssen wir uns das fragliche Ungeheuer ausrechnen, und wenn wir die Masse mit der Geschwindigkeit multiplizieren, ergibt das eine sehr ordentliche Stoßkraft, die einen Unfall, wie ihn die Scotia hatte, durchaus herbeiführen könnte. Bis weitere Informationen vorliegen, votiere ich also für ein Meer-Einhorn von kolossalen Ausmaßen mit einem Sporn ähnlich der Rammwaffe von Panzerfregatten, denen es an Kraft übrigens gleichkommt. Das wäre eine mögliche Erklärung des Phänomens, wenn die Einzelbeobachtungen stimmen. Denn dass sie nicht stimmen: Das wäre auch möglich. Die letzten Worte waren eine meiner typischen Feigheiten: Ich wollte mir eine Hintertür offenhalten, denn nichts fürchtet ein Professor so sehr wie den Spott des Publikums, wenn die Realität seine Thesen Lügen straft. Und die Amerikaner lachen kräftig, wenn sie lachen. Der Artikel fand großes Interesse und wurde hitzig diskutiert. Das Geschickteste an ihm war wohl, dass er der Fantasie so großen Spielraum ließ, denn der menschliche Geist berauscht sich gern an derartigen nicht ganz geheuren Vorstellungen unnatürlich wirkender Wesen. Das Meer ist der geeignetste Lebensbereich für sie. Elefanten und Nashörner sind lächerliche Zwerge gegen die Säugetiere, die das Wasser bereits beherbergt hat, und vielleicht finden sich auch heute in seinen unerforschten Tiefen noch Mollusken von unbeschreiblicher Größe oder schreckenerregende Schalentiere, 100-m-Hummer und Krabben von 200 t Gewicht … Die Tiere der Urzeit hatte der Schöpfer in gigantischen Formen gegossen, erst vom Verwitterungsprozess der Jahrmillionen wurde ihr Ausmaß reduziert. Das Meer allein, das sich nie verändert, konnte in seinen unerforschten Tiefen noch einige Warenmuster der urzeitlichen Schöpfungen enthalten. Warum nicht … ? Aber ich lasse mich da von meinen privaten Träumereien hinreißen. Das Publikum war viel realistischer. Manchen Leuten erschien das Ganze als rein theoretisches, wissenschaftliches Problem. Die meisten aber, positive Geister vor allem in Amerika und England, forderten eine Säuberungsaktion des Meeres, da sie Handel und Verkehr empfindlich bedroht sahen. Die Vereinigten Staaten handelten als Erste. Der Kommandant Farragut erhielt den Auftrag, die schnelle Fregatte Abraham Lincoln auszurüsten und zum Auslaufen bereitzuhalten. Merkwürdigerweise war jetzt von dem Tier nichts mehr zu hören und zu sehen. Es schien fast, als habe es von der geplanten Aktion Wind bekommen, durch Abhorchen von Telegrammen am Transatlantikkabel, wie einige Witzbolde meinten. Zwei Monate lag die Abraham Lincoln auf der Lauer, da kam schließlich am 2.7.1867 die Nachricht, ein Dampfer der Linie Frisco-Schanghai habe das Tier in den nördlichen Gewässern des Pazifik beobachtet. Jetzt erhielt Farragut Befehl, innerhalb von 24 Stunden auszulaufen. Die Mannschaft der Fregatte mit den formidabelsten Fangmaschinen...