E-Book, Deutsch, 460 Seiten
Veidlinger Mitten im zivilisierten Europa
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79161-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust
E-Book, Deutsch, 460 Seiten
ISBN: 978-3-406-79161-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen 1918 und 1921 werden in der Ukraine über 100 000 Juden von Bauern, Städtern und Soldaten ermordet, die sie für die Russische Revolution und deren Folgen verantwortlich machen. Ganz normale Bürgerinnen und Bürger berauben plötzlich ihre jüdischen Nachbarn, brennen ihre Häuser nieder, zerreißen ihre Tora-Rollen, missbrauchen sie sexuell und töten sie. Der Holocaust-Historiker Jeffrey Veidlinger hat diese Welle genozidaler Gewalt rekonstruiert, bei der ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen alle zu demselben Ergebnis kamen – dass die Ermordung von Juden eine akzeptable Antwort auf ihre Probleme sei.
Als die Gewalt in die Kleinstadt Slovetschno kam, ist Rosa Zaks erst sieben Jahre alt. Doch sie wird ihr Leben lang nicht vergessen können, wie sie und ihre Geschwister mitten in der Nacht von der Mutter geweckt und auf den Dachboden des Nachbarhauses gebracht wurden. Aus ihrem Versteck müssen die Kinder mit ansehen, wie ein Pogrom gegen die jüdischen Bewohner des Ortes entfesselt wird...
Anhand von lange vernachlässigtem Archivmaterial, darunter Tausende neu entdeckte Zeugenaussagen, Prozessakten und offizielle Anordnungen, zeigt der renommierte Historiker Jeffrey Veidlinger, warum die Pogrome in Osteuropa eine Art Vorgeschichte des Holocaust bilden. Das überaus differenzierte Bild dieser heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Ereignisse, das durch die Geschichten von Überlebenden, Tätern, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und Regierungsvertretern entsteht, verdeutlicht, warum die Juden "mitten im zivilisierten Europa" in akuter Gefahr waren, vernichtet zu werden - und ganz Europa davon wusste.
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Einleitung:
«Wird ein Massaker an den Juden der nächste europäische Schrecken sein?»
In den Jahren nach dem Holocaust begannen Überlebende auf der ganzen Welt, Gedenkbücher für jede Stadt zusammenzustellen. Diese literarischen Monumente für zerstörte Gemeinden bewahrten lokale Geschichten auf und dokumentierten die Namen der Opfer, um die Erinnerungen lebendig zu halten. Als Historiker des osteuropäischen Judentums weiß ich seit langem zu schätzen, wie diese Gedenkbücher einen Einblick in das Alltagsleben eröffnen. Die Autoren der Beiträge teilen Anekdoten über die örtlichen Schulen, das Feuerwehrorchester, den Fußballklub oder die zionistische Jugendgruppe mit. Sie zeichnen Porträts örtlicher Prominenter, deren Berühmtheit nur bis zum Rand der Weizenfelder reichte, die die Stadt umgaben: ein Lieblingslehrer, ein geachteter Rabbi, der Stadtverordnete, der Wasserträger, den jeder kannte. Sie dokumentieren kleine und große Ereignisse: den Tag, als ein Soldat aus dem russisch-japanischen Krieg heimkehrte, das Gastspiel einer reisenden Theatertruppe aus Odessa, das Feuer, das Yankel Friedmans Gasthaus zerstörte, den Tag, als die Nazis kamen. Doch solche Gedenkbücher sind nicht nur Geschichten der Vorkriegszeit; sie sind auch Vorgeschichten des Krieges. Nehmen wir zum Beispiel das Gedenkbuch der Stadt Proskuriv (heute Chmelnyzkyj), die heute in der Ukraine liegt. Sein Titel Churbn Proskurov bewahrt das Unglück, das die Stadt traf. Das jiddische Wort churbn (Zerstörung) ist vom hebräischen hurban abgeleitet, das die Zerstörung der beiden biblischen Tempel im 6. Jahrhundert v. Chr. und im 1. Jahrhundert n. Chr. – die Urkatastrophen des jüdischen Volkes – bezeichnet und seitdem für verschiedene andere Katastrophen gebraucht worden ist, von Erdbeben bis zum Untergang der Titanic. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es weithin auf das Schicksal der europäischen Juden unter dem Nationalsozialismus bezogen. Wie so viele Gedenkbücher beginnt das Churbn Proskurov mit einer Widmung: «Dem Andenken der heiligen Seelen, die in dem schrecklichen Gemetzel starben, das die Juden von Proskuriv heimsuchte.» Das Frontspiz zeigt ein verbreitetes Bild der Holocaust-Kunst, eine einzige Gedenkkerze und einen Rosenbusch mit Dornen, die an Stacheldraht erinnern. Eine Landschaft aus Feldern unter einer Stadt auf einem Hügel erinnert an die bukolische Umgebung Proskurivs mit Flachs- und Weizenfeldern und Obstgärten voller Kirschen und Pflaumen. Wie in vielen dieser Gedenkbücher ist der Text jiddisch und hebräisch und enthält das Vorwort eines bekannten Einwohners, in diesem Fall des Folkloreforschers Avrom Rechtman. Es gibt die üblichen Geschichten über lokale Persönlichkeiten und städtische Institutionen. Das Buch schließt mit den Namen der Märtyrer, einer 30 Seiten langen Liste. Was das Churbn Proskurov aber unterscheidet, ist sein Entstehungsjahr 1924 – neun Jahre bevor Hitler an die Macht kam, und 15 Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.[1] Es erinnert an einen anderen churbn, einen anderen Holocaust. Oder vielleicht sollte man genauer sagen, den wahren Beginn desselben Holocaust. Die Zerstörung von Proskuriv fand ein Jahr nach Gründung des ukrainischen Staates statt, der seiner jüdischen Minderheit weitreichende Freiheiten und nationale Autonomie versprach, und drei Monate nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, mit dem der Erste Weltkrieg endete. Delegierte aus 32 Nationen waren gerade in Paris zusammengekommen, um an den Verträgen zu arbeiten, die formell abschließen sollten, was H. G. Wells den «Krieg, der den Krieg beenden wird», genannt hatte.[2] Unterdessen ermordeten 2000 Kilometer weiter östlich ukrainische Soldaten am Nachmittag des 15. Februar 1919 über 1000 jüdische Zivilisten in der bis dahin vielleicht mörderischsten Episode, die dem jüdischen Volk in seiner langen Geschichte der Unterdrückung zugestoßen war. Frontispiz des Churbn Proskurov Das Massaker in Proskuriv war kein Einzelfall. Zwischen November 1918 und März 1921 wurden während des Bürgerkriegs, der auf den Ersten Weltkrieg folgte, über 1000 antijüdische Unruhen und Militäraktionen – beide wurden meist als «Pogrom» bezeichnet – an über 500 unterschiedlichen Orten auf dem Gebiet dokumentiert, das heute zur Ukraine gehört und damals zwischen den russischen, polnischen, ukrainischen und multinationalen sowjetischen Nachfolgestaaten des Zarenreichs und Österreich-Ungarns umkämpft war.[3] Es war nicht die erste Pogromwelle in dieser Region, aber ihr Umfang stellte frühere Gewaltausbrüche in den Schatten in Bezug auf das Täterspektrum, die Zahl der Opfer und den Grad der Grausamkeit. Ukrainische Bauern, polnische Stadtbewohner und russische Soldaten beraubten ungestraft ihre jüdischen Nachbarn und stahlen ihnen, was sie für ihren rechtmäßigen Besitz hielten. Mit Zustimmung und Unterstützung großer Teile der Bevölkerung rissen Bewaffnete jüdischen Männern die Bärte aus, zerrissen Thorarollen, vergewaltigten jüdische Frauen und Mädchen und folterten häufig jüdische Einwohner, bevor sie sie auf Marktplätzen versammelten, an den Stadtrand trieben und erschossen. Mindestens einmal schlossen aufständische Kämpfer Juden in einer Synagoge ein und brannten das Gebäude nieder. Bei den größten Pogromen gab es über 1000 Tote, doch die meisten waren kleiner; über die Hälfte der Vorfälle beschränkten sich auf Sachschäden, Körperverletzungen und höchstens einige Tote. Die Zahlen sind umstritten, aber nach einer vorsichtigen Schätzung starben etwa 40.000 Juden bei den Unruhen und weitere 70.000 später an ihren Verletzungen, an Krankheiten, Hunger oder Erfrieren als direkte Folge der Angriffe. Manche Beobachter zählten bis zu 300.000 Opfer. Obwohl diese Zahl wahrscheinlich übertrieben ist, stimmen heute viele Historiker überein, dass die Gesamtzahl der Todesopfer der Pogrome zwischen 1918 und 1921 deutlich über 100.000 lag. Das Leben vieler weiterer wurde zerstört. Ungefähr 600.000 Juden mussten in andere Länder fliehen, und weitere Millionen flüchteten innerhalb des Landes. Rund zwei Drittel aller jüdischen Häuser und über die Hälfte aller jüdischen Geschäfte und Unternehmen in der Region wurden geplündert oder zerstört. Die Pogrome traumatisierten die betroffenen Gemeinden für mindestens eine Generation und lösten auf der ganzen Welt große Besorgnis aus. Ich hatte immer gedacht, der Holocaust sei zuvor einfach unvorstellbar gewesen – dass Menschen ihn sich nicht vorstellen, ihn nicht vorhersagen oder sich darauf vorbereiten konnten. Mein Vater, dessen Überlebensgeschichte mein frühes Wissen über den Holocaust prägte, betonte, wie «normal» vorher alles schien. Er lebte ein großbürgerliches Leben in Budapest, bekam Fechtunterricht und verbrachte die Familienurlaube am Balaton, bis im März 1944 die Wehrmacht in Ungarn einmarschierte. Auch die berühmtesten Opfer des Holocaust hatten die erste Begegnung mit dem genozidalen Antisemitismus erst mehrere Jahre nach Kriegsbeginn. Anne Frank versteckte sich mit ihrer Familie ab Juli 1942, und die Gestapo entdeckte ihr Versteck im August 1944. Elie Wiesel berichtet, dass er schon 1941 erste Gerüchte von Massakern hörte, aber erst im Mai 1944 wurde er aus dem Ghetto von Sighetu Marmatiei, das wenige Wochen zuvor eingerichtet worden war, nach Auschwitz deportiert. Viele populäre Darstellungen des Holocaust betonen das Plötzliche und Unerwartete der Geschehnisse. Wenn ich etwa mit meinen Studenten das Holocaust Memorial Center in Farmington Hills (Michigan) besuche, betreten sie als Erstes einen großen Raum voller jüdischer Ritualgegenstände und Fotos jüdischen Alltagslebens in Europa, die auf eine lebendige, fest verwurzelte Existenz deuten. Dann gehen sie um eine Ecke und sehen ein großes Bild Adolf Hitlers über einem langen Korridor, der in den nächsten Ausstellungsraum führt. Dies suggeriert, dass Hitler aus dem Nichts kam und es keinen Hinweis auf die kommende Apokalypse gab. Doch es gibt klare Belege, dass die Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa, mindestens 20 Jahre bevor sie schreckliche Wirklichkeit wurde, nicht nur vorstellbar war, sondern als reale Möglichkeit gefürchtet wurde. So berichtete etwa die New York Times am 8. September 1919 von einer Protestversammlung in Manhattan gegen das Blutvergießen in Osteuropa unter der Überschrift UKRAINISCHE JUDEN VERSUCHEN POGROME ZU STOPPEN und darunter: MASSENKUNDGEBUNG HÖRT, DASS 127.000 JUDEN ERMORDET WURDEN UND 6 MILLIONEN IN GEFAHR SIND. Der Artikel schloss mit einem...