E-Book, Deutsch, Band 2, 285 Seiten
Vargas Das Orakel von Port-Nicolas
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8412-0106-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 285 Seiten
Reihe: Kommissar Kehlweiler und die Evangelisten ermitteln
ISBN: 978-3-8412-0106-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die französische Autorin FRED VARGAS hat sich mit ihren Romanen seit 1995 an die Spitze der europäischen Kriminalliteratur geschrieben. »Es gibt eine Magie Vargas«, schrieb Le Monde. »Es ist unmöglich, von Vargas nicht gefesselt zu sein«, schreibt Die Zeit. Inzwischen erscheinen die Bücher der Autorin in 40 Sprachen.
Alle lieferbaren Titel der Autorin unter www.aufbau-verlage.de.
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1
»Was machst du denn hier im Viertel?«
Die alte Marthe schwatzte gern ein bißchen. An diesem Abend hatte sie wenig Gelegenheit dazu gehabt und sich daher am Tresen auf ein Kreuzworträtsel gestürzt, zusammen mit dem Wirt. Der Wirt war ein braver Mann, aber bei Kreuzworträtseln konnte er einen rasend machen. Seine Antworten lagen immer daneben, er hielt die Regeln nicht ein, er achtete nicht auf die Anzahl der Felder. Dabei hätte er von Nutzen sein können, er kannte sich in Geographie aus, was komisch war, weil er Paris nie verlassen hatte, genausowenig wie Marthe. Für Fluß in Rußland mit zwei Buchstaben, senkrecht, hatte er »Jenissej« vorgeschlagen.
Na ja, das war besser, als überhaupt nicht zu reden.
Gegen elf hatte Louis Kehlweiler das Café betreten. Zwei Monate hatte Marthe ihn jetzt schon nicht mehr gesehen, und im Grunde hatte er ihr gefehlt. Kehlweiler hatte eine Münze in den Flipper geworfen, und Marthe verfolgte den Lauf der dicken Kugel. Dieses Idiotenspiel, mit einem Spalt, der extra dazu da war, die Kugel zu verlieren, mit einer Schräge, die es mit unaufhörlichen Bemühungen zu überwinden galt und die man, kaum war sie erklommen, geradewegs wieder hinunterstürzte, um sich in dem Spalt zu verlieren, der extra dazu da war, – dieses Spiel hatte sie schon immer verdrossen. Es schien ihr, daß die Maschine im Grunde ständig Moralpredigten hielt, eine strenge, ungerechte und deprimierende Moral. Und wenn man ihr mal aus berechtigtem Zorn einen Fausthieb versetzte, tiltete sie, und man wurde bestraft. Und dafür mußte man auch noch zahlen. Man hatte durchaus versucht, ihr zu erklären, daß es sich dabei um ein Vergnügungsspiel handele, aber da war nichts zu machen, es erinnerte sie an ihren Religionsunterricht.
»Also? Was machst du hier im Viertel?«
»Ich bin gekommen, um nach was zu sehen«, sagte Louis. »Vincent ist was aufgefallen.«
»Etwas, das sich lohnt?«
Louis antwortete nicht, er mußte sich konzentrieren, die Flipperkugel rollte geradewegs auf das Nichts zu. Er erwischte sie mit einer Klappe, und sie bewegte sich träge klackernd wieder hinauf.
»Du spielst lahm«, bemerkte Marthe.
»Stimmt, aber du redest ja auch die ganze Zeit.«
»Muß man ja. Wenn du deinen Religionsunterricht da betreibst, verstehst du nicht, was man dir sagt. Du hast mir nicht geantwortet. Etwas, das sich lohnt?«
»Kann sein. Wird sich zeigen.«
»Was ist es? Politisch, zwielichtig, unbestimmt?«
»Gröl nicht so rum, Marthe. Eines Tages kriegst du noch Schwierigkeiten. Sagen wir, was Ultrareaktionäres an einem Ort, wo man es nicht vermuten würde. Das beschäftigt mich.«
»Was Richtiges?«
»Ja, Marthe. Was Richtiges, mit Siegel und allem Drum und Dran. Natürlich muß man’s noch überprüfen.«
»Wo ist das? Bei welcher Bank?«
»Bank 102.«
Louis lächelte und startete eine Kugel. Marthe dachte nach. Sie fand sich nicht mehr zurecht, sie war aus der Übung. Sie verwechselte Bank 102 mit den Bänken 107 und 98. Louis hatte es einfacher gefunden, den öffentlichen Bänken in Paris, die ihm als Beobachtungsstationen dienten, Nummern zuzuteilen. Den interessanten Bänken, versteht sich. Tatsächlich war das praktischer, als ihre genaue topographische Lage im einzelnen aufzulisten, um so mehr, als die Lage von Bänken im allgemeinen ungenau ist. Aber im Laufe von zwanzig Jahren hatte es Veränderungen gegeben, Bänke, die in Ruhestand geschickt wurden, und neue, um die man sich kümmern mußte. Man hatte auch Bäume numerieren müssen, wenn an Schlüsselstellen der Hauptstadt keine Bänke vorhanden waren. Es gab auch vorübergehende Bänke für kleinere Geschichten. So war man schließlich bei Nr. 137 angekommen, weil eine frühere Nummer nie wiederverwendet wurde, und das vermischte sich nun in ihrem Kopf. Aber Louis war dagegen, daß man sich Notizen machte.
»Ist 102 die mit dem Blumenhändler dahinter?« fragte Marthe stirnrunzelnd.
»Nein, das ist die 107.«
»Mist«, bemerkte Marthe. »Gib mir wenigstens einen aus.«
»Hol dir an der Bar, was du willst. Ich hab noch drei Kugeln zu spielen.«
Marthe war nicht mehr so leistungsfähig. Mit siebzig Jahren konnte sie nicht mehr so wie früher zwischen zwei Kunden in der Stadt umherstreifen. Und außerdem verwechselte sie die Bänke. Aber sie war eben Marthe. Sie brachte nicht mehr viele Informationen, aber sie hatte ein hervorragendes Gespür. Ihr letzter Tip war bestimmt zehn Jahre her. Er hatte einen ordentlich heilsamen Schock ausgelöst, und das war ja das Wichtigste.
»Du trinkst zuviel, meine Liebe«, bemerkte Louis, während er am Abzug des Flippers zog.
»Kümmer dich um deine Kugel, Ludwig.«
Marthe nannte ihn Ludwig, und andere nannten ihn Louis. Jeder, wie er wollte, das war er gewohnt. Fünfzig Jahre schwankten die Leute jetzt von einem Vornamen zum anderen. Es gab sogar welche, die nannten ihn Louis-Ludwig. Er fand das idiotisch, niemand heißt Ludwig-Ludwig.
»Hast du Bufo mitgebracht?« fragte Marthe, als sie mit einem Glas zurückkam.
»Du weißt genau, daß ihr Cafés Angst einjagen.«
»Geht’s ihr gut? Klappt’s immer noch mit euch beiden?«
»Es ist die große Liebe, Marthe.«
Für einen Moment herrschte Schweigen.
»Man sieht deine Freundin gar nicht mehr«, begann Marthe dann und stützte sich mit dem Ellbogen auf den Flipper.
»Sie ist abgehauen. Nimm deinen Ellbogen da weg, ich seh nichts mehr.«
»Wann?«
»Nimm deinen Ellbogen da weg, verdammt! Heute nachmittag, sie hat ihre Sachen gepackt, als ich weg war, und hat einen Brief auf dem Bett dagelassen. Na bitte, wegen dir ist jetzt die Kugel weg.«
»Das liegt an deinem lahmen Spiel. Hast du heute mittag wenigstens was gegessen? Wie war der Brief?«
»Erbärmlich. Ja, ich hab gegessen.«
»Es ist nicht leicht, großartige Briefe zu schreiben, wenn man abhaut.«
»Warum? Man braucht bloß zu reden, anstatt zu schreiben.«
Louis lächelte Marthe zu und schlug mit der flachen Hand gegen die Seite des Flippers. Wirklich ein erbärmlicher Brief. O. k., Sonia war gegangen, das war ihr gutes Recht, da brauchte man jetzt nicht ständig drauf zurückzukommen. Sie war gegangen, er war traurig, und das war alles. Die Welt war wüst genug, da mußte er sich nicht wegen einer Frau aufregen, die gegangen war. Obwohl … Traurig war das natürlich schon.
»Mach dir deswegen keinen Kopf«, sagte Marthe.
»Es tut weh. Und dann gab es dieses Experiment, erinnerst du dich? Es ist schiefgegangen.«
»Was hast du dir erhofft? Daß sie nur wegen deiner Visage bleiben würde? Ich sag nicht, daß du häßlich bist, leg mir nicht in den Mund, was ich nicht gesagt habe.«
»Ich mach ja gar nichts.«
»Aber grüne Augen und all so was reichen nicht aus, Ludwig. Ich hatte auch welche. Und dein steifes Knie ist offengestanden ein Handicap. Es gibt Mädchen, die mögen keine hinkenden Männer. Das nervt sie, merk dir das.«
»Schon geschehen.«
»Mach dir keinen Kopf.«
Louis lachte und strich zärtlich über Marthes alte Hand.
»Ich mach mir keinen Kopf.«
»Wenn du es sagst … Willst du, daß ich zur Bank 102 gehe?«
»Mach, wie du willst, Marthe. Ich bin nicht der Eigentümer der Pariser Bänke.«
»Du könntest nicht zufällig von Zeit zu Zeit mal Anweisungen erteilen?«
»Nein.«
»Na, da schadest du dir selbst. Das Erteilen von Anweisungen verleiht einem Mann ein gewisses Flair. Aber, natürlich, da du schon nicht gehorchen kannst, wüßte ich nicht, wie du befehlen können solltest.«
»Natürlich.«
»Hab ich dir das nicht schon mal gesagt? Diese Methode?«
»Hundertmal, Marthe.«
»Gute Methoden sind unverwüstlich.«
Natürlich hätte er Sonias Weggang verhindern können. Aber er hatte sich auf das idiotische Experiment »Der Mann, wie er ist« eingelassen, und das Ergebnis lag nun vor ihm, sie war nach fünf Monaten abgehauen. O. k., es reichte jetzt, er hatte genug daran gedacht, er war traurig genug, die Welt war wüst genug, er hatte zu tun, in den kleinen Angelegenheiten dieser Welt genau wie in den großen, da konnte man nicht stundenlang an Sonia und ihren erbärmlichen Brief denken, da mußte anderes getan werden. Aber da oben, in diesem verdammten Ministerium, wo er sich so lange als begehrtes, gehaßtes, unentbehrliches und teuer bezahltes freies Elektron herumgetrieben hatte, warf man ihn raus. Neue Köpfe saßen dort, neue Köpfe von alten Idioten – übrigens nicht alles Idioten, das war das Ärgerliche daran –, die auf die Hilfe von jemandem, der ein bißchen zu gut Bescheid wußte, nicht mehr scharf waren. Sie entließen ihn, sie hegten Mißtrauen, zu Recht. Aber ihre Reaktion war absurd.
Nehmen wir zum Beispiel eine Fliege.
»Nimm zum Beispiel eine Fliege«, sagte Louis.
Louis war mit seinem Spiel fertig. Ein durchschnittliches Ergebnis. Diese neuen Geräte, bei denen man zugleich den Schirm und die Kugel beobachten mußte, waren nervtötend. Aber manchmal begannen die Kugeln in Dreier- oder Vierergruppen gleichzeitig zu rollen, und das war interessant, was immer Marthe auch dazu sagte. Er stützte sich auf die Theke, während er darauf wartete, daß Marthe ihr Bier ausgetrunken hatte.
...