Varenne | Die Treibjagd | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Varenne Die Treibjagd

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19164-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-19164-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Zwei Außenseiter gegen die beiden herrschenden Familien einer sterbenden Region ... Als Western inszeniert, wilde Natur, archaische Triebe im Kern- und Hinterland Frankreichs.'
FAZ

Zwei rivalisierende Familien kämpfen seit Generationen um die Herrschaft über ein gottverlassenes Nest im Massif Central. Die Courbiers und die Messenets führen ihre Provinzimperien mit harter Hand und unter rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur. Rémi Parrot, der seit seiner Jugend entstellte Revierjäger, kämpft als einsamer Cowboy gegen die verkrusteten Clanstrukturen und um die Liebe der schönen Michèle Messenet. Als er einem Umweltskandal auf der Spur ist, beginnt eine mörderische Treibjagd durch düstere Wälder und unterirdische Tunnelsysteme. Fein gesponnener, archaischer Thriller um Schuld und Sühne vor der grandiosen Kulisse einer einstmals erhabenen Landschaft.

'Das einzige, was in diesem Roman feststeht, ist eine Gruppe von Granitfelsen'
Deutschlandfunk Kultur

Antonin Varenne, geboren 1973, studierte Philosophie in Paris. Er war Hochhauskletterer und Zimmermann, arbeitete in Island, Mexiko und in den USA, wo er seinen ersten Roman schrieb. Seine Romane wurden mit den wichtigsten französischen Krimipreisen ausgezeichnet.

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1Zwanzig Jahre nach dem Unfall,

neun Tage nach der Entdeckung der ersten Leiche,

zwölf Stunden nach der Schießerei

»Als ich geboren wurde, war R. noch eine Stadt. Vierhundert Leute haben bei Phillips in der Fabrik gearbeitet. Es gab genauso viele Gründe, hier zu leben, wie anderswo. Es gab ungefähr zwanzig Bistros, es gab Kleiderläden. Die Restaurants hatten genügend Gäste, am Samstagabend stand man vor dem Kino Schlange, am Stadtrand wurden neue Siedlungen gebaut. Die Banken gaben Arbeitern, die sich auf ihre Arbeit verließen, Kredit, um sie bis zur Rente an sich zu binden. Die Jungen machten ihre Ausbildung im Département und kamen zurück, um hier zu arbeiten. Diejenigen, die weiter weggingen, an die Universität, kamen manchmal auch zurück. Es gab Architekten, Maurer, Zimmerleute und Dachdecker. Die kleinen Häuser waren bewohnt, gepflegt, sie waren etwas wert. Man lernte sich in der Realschule, im Gymnasium, manchmal schon in der Grundschule kennen und ließ sich dann in der Kirche und im Rathaus trauen. Die Eltern kannten sich alle, und fast sah es so aus, als wären die Ehen arrangiert. Es ging aber alles gut, und man hatte das Gefühl, das zu tun, was man tun wollte.

Die Chefs von Phillips, von den Gerbereien und Spinnereien, waren noch unbeleckt vom Geist der Achtzigerjahre. Die Gewerkschafter waren keine Revolutionäre, und man einigte sich gütlich. Niemand kann sich an eine Demonstration in den Straßen von R. erinnern. Die Löhne gingen allmählich in die Höhe. Die Stadt war voller Menschen, es gab keine übersteigerten Hoffnungen, aber man hatte den Eindruck, dass alles gut lief. Es war friedlich. Mit zwanzig wusste man, dass man Kinder haben würde. Die Einstellungen gingen vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter über. Bei den Familien wusste man, mit wem man es zu tun hatte: gleiche Arbeit, gleiche Kleidung, die gleichen Schultern und Gesichter, die sich von einer Generation zur nächsten glichen. Wenn man einen Platz haben wollte, hielt R. ihn bereit und wartete auf einen. Die Wahlen riefen keine großen Debatten hervor: Es gab Arbeit. Die Kandidaten stammten seit Jahrzehnten aus dem Klub der Unternehmer der Stadt. Die Schulen waren voll, ebenso die Sportvereine und die Orte, wo man seine Freizeit verbrachte. Der Supermarkt war für die Bauern, die einmal pro Woche zum Einkaufen in die Unterpräfektur kamen, eine Attraktion. Zweimal in der Woche blockierte der Markt die Hauptstraße, von der Place d’Espagne bis zum Pont Neuf. Die Höfe hatten zehn bis fünfzig Hektar.

Glauben Sie, ich bin sentimental? Ganz und gar nicht. Ich habe R. immer gehasst. Und ich war nicht die Einzige.

Die Jugend geht nicht verloren, weil man arbeiten gehen muss. Und wenn es nichts Ungerechteres gibt als die etablierte Ordnung, dann genügt das schon, um ein paar Heißsporne so richtig in Wallung zu bringen. Nur R. war unzerstörbar. Niemand musste die Rebellen in den Griff kriegen, die Stadt allein sorgte dafür, dass sie sich beruhigten. Typen, die auf die schiefe Bahn gerieten, die wirklich im Knast landen wollten, die mussten woandershin gehen. Für diejenigen, die nur das Bedürfnis hatten, ein bisschen aufsässig zu sein, hat es immer die Bälle und die Bistros gegeben. Mit dreißig war das zu Ende. In den Läden und in der Fabrik grüßte man die Raufbolde mit einem Lächeln. Die jungen Mädchen betrachteten sie voller Bewunderung, wenn sie sie im Park mit ihrem ersten Baby sahen, sie sagten sich, dass sie so einen auch gern hätten; einen, von dem man, wenn er vierzig und Vorarbeiter geworden war, sagte: ›Der Roger! Mit dem durftest du dich früher nicht anlegen!‹ Solche Legenden waren Teil der Folklore, das kam gut an beim Aperitif. Dass R. heute ein Friedhof ist, das wundert mich nicht. Die Stadt war damals schon tot.

Sie haben ihn nicht gekannt, er ist gestorben, bevor Sie hierherkamen, aber R. ist so wie der alte Barusseau. Er hatte ein Lebensmittelgeschäft in der Rue Vielle. Zehn Jahre lang war sein Schaufenster jeden Monat mit Hakenkreuzen beschmiert, mit ›Scheißkerl‹ und ›Kollaborateur‹. Im Rathaus hatte man sich schon daran gewöhnt, dass er aufkreuzte, rot und mit dickem Hals. Mit Stockschlägen vertrieb er die Kinder, die sich seinem Laden näherten. Er brüllte den Bürgermeister an, er wollte, dass man diese Verbrecher, die das taten, zur Strecke brachte. Die Gemeinde bewilligte ihm einen neuen Anstrich seiner Fassade, aber mit der Zeit hatten sie im Rathaus genug davon. Der Bürgermeister hat von der Polizei verlangt, etwas zu tun. Schließlich hat sich der Streckenwärter dahintergeklemmt. Er legte sich zehn Nächte in einem Terrassengarten oberhalb des Geschäfts des alten Barusseau auf die Lauer. Eines Nachts hat er den Alten herauskommen sehen, mit einem Stuhl, einem Pinsel und einem Farbeimer, und dann sah er ihn die Hakenkreuze malen und ›Scheißkerl‹ in großen Buchstaben auf sein eigenes Schaufenster schreiben. Der Bürgermeister hat ihn aufgesucht, und der Alte hat angefangen zu heulen. Er hat erzählt, dass er im Krieg Schwarzmarktgeschäfte tätigte, den Deutschen Tipps gab und sie über die Widerständler aus seiner Ecke auf dem Laufenden hielt. Am gleichen Abend hat er sich aufgehängt.

Jedenfalls wird die Geschichte so erzählt. Und ich habe mich immer gefragt, als ich sie hörte, aus welcher Familie die Typen stammten, die am lautesten lachten.

Das Leben der Erwachsenen hier gewährt der Kindheit nicht viel Zeit. Mit zwanzig kriegen die Frauen Kinder, und der gängigste Scheidungsgrund ist ein Ehemann, der so stark zuschlägt, dass es nicht mehr zu verbergen ist. Ansonsten hält man sich an das, was man hat, denn R. gibt einem eine Chance, aber nur eine einzige. Wenn man sie verpatzt, ist es vorbei. Der Krebs dieser Stadt ist die Erinnerung. Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen, ist die Gastronomie die wahre Plage von R. Haben Sie schon mal das Kartoffelgratin probiert?

Ich bin mit zweiundzwanzig weggegangen. Die junge Messenet. Skandal. Als ich zurückkam … Aber Sie wissen ja, wie die Stadt heute aussieht. Phillips hat zugemacht. Geblieben sind zwei dahinsiechende Spinnereien und ein Tapisserie-Museum. Die Hälfte der Häuser steht leer, alles ist heruntergekommen, die Geschäfte in der Hauptstraße wechseln jedes Jahr den Besitzer, und die Hälfte der Läden steht zum Verkauf. Die Bevölkerung muss die älteste von ganz Europa sein, und die Jungen versammeln sich zum Komasaufen. Sie raufen nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf. Die kleinsten Höfe haben hundertfünfzigtausend Hektar, und meine Familie besitzt den größten von allen. Es gibt drei Supermärkte, und die Fabriken haben geschlossen. Alles, was an Besitz geblieben ist, ist größer und hässlicher geworden.

Warum grinsen Sie? Beantwortet das nicht Ihre Frage?«

»All das erklärt, warum Sie weggegangen sind, aber ich wollte wissen, warum Sie wiederkamen.«

»Mein Vater war krank. Könnte ich einen Kaffee haben?«

»Brigadier, können Sie uns Kaffee bringen?«

»Die Krankheit Ihres Vaters … Krebs, glaube ich?«

»Die Knochen. Aber wegen ihm bin ich nicht wiedergekommen. Es gab jemand anderen, den ich wiedersehen wollte.«

»Monsieur Parrot. Sie wollten es vor dem Brigadier nicht sagen?«

»Den Brigadier, wie Sie sagen, Marsault – ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Er ist ein alter Freund von Thierry Courbier. Sein Vater war einer der rabiatesten Typen der ganzen Gegend, seinen Kindern und vor allem seiner Frau gegenüber. Als sie nach Saint-Vaury ins Sanatorium ging, haben die Leute hierherum gesagt, sie hätte eine Blutkrankheit. Ihr Mann hat sie ein einziges Mal besucht. Als er wieder abreiste, hat sie einen ganzen Schrank voll Medikamente geschluckt. Wahrscheinlich ist Marsault genauso böse wie sein Vater geworden. Vielleicht hat er seinem Alten ein Kopfkissen auf den Mund gedrückt, damals, bevor man ihn im Bett gefunden hat, von oben bis unten lila angelaufen. Die Leute sagten, es wäre der Alkohol gewesen. Aber das nächste Mal, wenn Marsaults Frau wieder bei einer Abschiedsfeier oder einer Grillparty der Polizei fehlt, schauen Sie doch nach, ob ihr Make-up nicht ein bisschen zu heftig ausgefallen ist.«

»Mademoiselle Messenet, es tut mir leid, dass ich Ihnen all diese Fragen stellen muss, wo Sie gerade eine so schwierige Zeit durchmachen. Sie sind erschöpft und mit den Nerven herunter. Vielleicht sollten wir die weitere Befragung verschieben?«

»Ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat, aber ich versichere Ihnen, dass selbst die notorischen Miesmacher die Wahrheit noch nicht erfasst haben. Und ich habe nicht die mindeste Lust, noch länger darauf zu warten, diesen Zirkus zu beenden. Wenn Sie glauben, ich übertreibe, schieben Sie es auf meinen Zorn oder auch auf die Trauer, wenn Ihnen das besser passt. Wenn Sie von hier wären, würden Sie nichts Kriminelles in eine Frau hineindeuten, die nicht weint, obwohl sie es tun sollte.«

»Ich deute nichts in Sie hinein, glauben Sie mir. Möchten Sie, dass ich Marsault auswechseln lasse?«

»Es stört mich nicht, dass er zuhört. So bin ich sicher, dass alle in der Gegend auf dem Laufenden sein werden. Glauben Sie, weil er Polizist ist, wird er nichts erzählen? Dann sind Sie entweder naiv, oder es gibt Gründe für Ihre Blindheit.«

»Wegen der außergewöhnlichen Ereignisse haben wir alle unsere Kräfte mobilisiert. Wir warten auf die Ermittler der Kriminalpolizei. Alle meine Männer sind am Tatort, und Brigadier Marsault ist heute Morgen der einzige Unteroffizier in Bereitschaft.«

»Selbstverständlich.«

»Wir können unter uns bleiben, wenn Sie das wünschen....


Röckel, Susanne
Susanne Röckel wurde 1953 in Darmstadt geboren. Sie arbeitete als literarische Übersetzerin und Sprachlehrerin, 1997-98 auch in China. Susanne Röckel lebt in München. Ihre Texte wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Tukan-Preis und dem Franz-Hessel-Preis. Ihr Roman »Der Vogelgott« stand 2018 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Varenne, Antonin
Antonin Varenne, geboren 1973, studierte Philosophie in Paris. Er war Hochhauskletterer und Zimmermann, arbeitete in Island, Mexiko und in den USA, wo er seinen ersten Roman schrieb. Seine Romane wurden mit den wichtigsten französischen Krimipreisen ausgezeichnet.



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