Varenne | Äquator | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Varenne Äquator

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22371-7
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-641-22371-7
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieb und Brandstifter in Nebraska, Deserteur im amerikanischen Bürgerkrieg, Mörder in Nevada: Pete Ferguson ist ein Mann auf der Flucht. Er ist auf der Suche nach dem Äquator, dem Ort, wo sich angeblich alles ins Gegenteil verkehrt, die Träume wahr werden und er von seinen Dämonen befreit wird. Wird er dieses verheißungsvolle Land finden? In Äquator schildert Antonin Varenne virtuos Pete Fergusons Weg von den großen Weiten des amerikanischen Westens über Guatemala bis in die dichten Urwälder Brasiliens. Mit dieser atemberaubenden und zutiefst ergreifenden Odyssee bestätigt der Autor seinen Ruf als Erneuerer des großen Abenteuerromans mit den erzählerischen Mitteln des 21. Jahrhunderts.

Antonin Varenne, geboren 1973, studierte Philosophie in Paris. Er war Hochhauskletterer und Zimmermann, arbeitete in Island, Mexiko und in den USA, wo er seinen ersten Roman schrieb. Seine Romane wurden mit den wichtigsten französischen Krimipreisen ausgezeichnet.
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Lincoln City, Nebraska, Juni 1871

Diesseits des Platte River hatte man, als die Stadt noch Lancaster hieß, den Süden unterstützt, bevor sie nach der Niederlage zu Ehren Lincolns umgetauft wurde. Der neue Name der Stadt war für die Bewohner eine Schmach, sobald sie ihn in den Mund nahmen, spuckten sie zwischen ihre Stiefel auf den Boden, selbst in ihren Häusern, schließlich befanden sie sich in Feindesland. Kam ein Reisender in den Saloon und hob das Glas auf den Befreier der Südstaaten, wurde er von Schweigen empfangen, trank aus und sah zu, dass er schleunigst wieder davonkam.

Lincoln wurde Hauptstadt des Bundesstaates. Es ließ sich ein Gouverneur aus dem Norden dort nieder, sodann ein Postdienst, ein Gericht, eine Schule und das Grundbuchamt, das jedem amerikanischen Bürger, der den Wunsch danach verspürte, eine sechzig Hektar große Parzelle zur Verfügung stellte. Kostenlos. Unter zwei Bedingungen: Man durfte nicht unter einundzwanzig Jahre alt sein und man durfte nie die Waffen gegen die Regierung erhoben haben – gegen die der Nordstaaten. Die ehemaligen Konföderierten hatten kein Anrecht auf staatliche Großzügigkeit. Washington wollte den Krieg aus dem Gedächtnis tilgen, indem es zur Eroberung des Westens aufbrach, zog aber in den Grundstückskatastern weiterhin Frontlinien. Berge, Routen und Flüsse und vor allem Rachegelüste bildeten unüberwindliche Barrieren.

Viele träumten davon, die Holzbaracke des Land Office einzureißen, Brett um Brett.

Für fünfzig Cent die Nacht hatte Pete Ferguson ein Zimmer gemietet, dessen Fenster auf das kleine, weiß verkleidete Haus mit den schwarzen Lettern über der Tür hinausging: US Land Office. Konzessionen. An- und Verkauf von Grundstücken.

Nachdem er wochenlang über die Trails gezogen war, ungeschützt den Blicken der anderen ausgesetzt, hatte er es für eine gute Idee befunden, sich in dieser Pension im Zimmer einzusperren, bis seine Angst ihn geradezu lähmte. Er hatte ganze Tage auf einem Stuhl verbracht, den Baumwollvorhang vor seinem Fenster gelüpft, eine Flasche nach der anderen geleert und den Männern und Frauen dabei zugesehen, wie sie den kleinen Regierungsladen betraten. Einzig das Schauspiel ihrer Verwandlung hatte ihn abzulenken vermocht.

Wie aus dem Ei gepellt, damit man ihnen nicht ansah, dass sie eigentlich Bettler waren, voller Sorge, man könnte sie erneut mit dem Versprechen auf Land bloß übers Ohr hauen wollen, betraten sie den Laden wie eine Kirche am Hochzeitstag, um ein neues Bündnis zu schließen, das ihr Armenschicksal besiegelte. Das kleine weiße Haus nahm sich neben den anderen Buden wie eine Kapelle aus, der Regierungsvertreter stand auf der Schwelle mit der Haltung eines Priesters, der die Alte Welt freispricht von den Sünden, die sie an den Enterbten begangen hatte, welche die Neue Welt jetzt großzügig empfing. In einem Akt, der zugleich Hochzeit und Taufe war. Ungläubig, die Schuhe weiß vom Staub, kamen aus allen Himmelsrichtungen Pioniere ins Land Office geeilt, um es mit einer Besitzurkunde in der Tasche wieder zu verlassen. Der Staatsdiener verabschiedete sie noch mit einem Händedruck, der auch sie zu Menschen machte, die etwas besaßen. Nachdem sie wieder ihre Planwagen bestiegen hatten, fuhren sie aufgewühlt zu ihren sechzig Hektar Land davon; die Ehefrauen sahen ihre Männer an, gemeinsam holten sie, mit Tränen in den Augen, einmal tief Luft. Dankbarkeit stand auf ihren Gesichtern zu lesen, und ein neuer Stolz. Dieses Geschenk machte sie zu ewig treuen Bürgern. Zu Patrioten. Die lange Irrfahrt war zu Ende, es war der Lohn für ihre Opfer und Anstrengungen, sie zweifelten nicht mehr an ihrem Verdienst, das Land stand ihnen zu.

Pete hatte an jenen Indianerhäuptling denken müssen, von dem Alexandra Desmond gesprochen hatte: einen Lakota-Indianer, der glaubte, er erteile den Weißen eine Lektion in Sachen Weisheit, indem er ihnen erklärte, die Erde gehöre nicht den Menschen, sondern die Menschen gehörten der Erde. Eine sinnlose Lektion, sagte Alexandra, denn die Weißen klammerten sich mit aller Macht an diese Erde. Sie war der einzige Grund, weshalb sie gekommen waren.

Die meisten waren so alt wie er, hatten Kinder, die sich an ihre Beine hängten oder an den Brüsten ihrer Mütter lagen. Die Männer hatten gewölbte Stirnen, die Frauen gesunde rote Bäckchen.

Als Pete sich erhob, standen seine Sachen schon bereit. Die Pistolenhalfter waren bestückt, die Decke um seine Winchester, seinen Proviantsack und sein an den Ecken bestoßenes Heft gewickelt, das letzte Geschenk von Arthur Bowman. Er wusste nicht mehr, wann er angekommen war oder warum er sich diese Stadt ausgesucht hatte, nur dass es höchste Zeit war, sie zu verlassen.

Die Witwe, die die Pension betrieb, zählte ihm in ihrem Wohnzimmer unter einer an die Wand genagelten Fahne der Konföderierten das Hartgeld auf den Tisch. Sie murmelte, es sei eine Schande, diese vielen Fremden in der Stadt, die immer zahlreicher würden. Mit den Fingerspitzen schob sie ein paar Cent übers lackierte Holz, alles, was ihm von seinen vier Dollar übrig blieb.

»Für Sie, Mr. Webb.«

Pete Ferguson ließ die Geldstücke auf dem Tisch liegen, warf sich die Pistolenhalfter über die Schulter und ging zum Stall. Reunion schnaubte, als er den Sattel auf den Rücken des Tieres legte. Pete ging mit dem Mustang am Zügel über die Straße und blieb vor dem Land Office stehen. Er las noch einmal die aufgemalten Lettern und reckte die Nase in die Luft, bevor er einen Fuß in den Steigbügel steckte.

»Ich wollte gerade schließen. Kann ich etwas für Sie tun?«

Pete betrachtete den Mann auf der Türschwelle, der so groß war wie sein Lächeln breit.

»Falls Sie reinkommen wollen, ich hab noch ein paar Minuten Zeit.«

Die Stimme eines Traumverkäufers, der in extremis, kurz vor Ladenschluss, noch schnell die Seele eines allerletzten Pioniers einzufangen versucht, den es zu konvertieren gilt. Pete stieg die Stufen hinauf und trat ein. Der Mann hängte seinen Hut wieder an den Haken, bot ihm mit einer ausholenden Armbewegung einen Stuhl vor dem Schreibtisch an, nahm hinter dem Tisch Aufstellung und reichte ihm die Hand.

»George Emery. Womit kann ich Ihnen behilflich sein, Mister …«

»Billy Webb.«

George Emery drückte Pete so energisch die Hand, dass es sich anfühlte, als befände sich in seinem Greiforgan nichts mehr an gewohnter Stelle.

»Suchen Sie Land, Mr. Webb? Eine Konzession? Sind Sie Farmer? Viehzüchter? Minenarbeiter? Haben Sie eine Familie oder wollen Sie eine gründen? Ein Mann in Ihrem Alter hat doch ein Recht darauf. Vielleicht waren Sie ja im Krieg, Mr. Webb, und haben weit mehr verdient als nur ein Stück Land. Waren Sie im Krieg, Mr. Webb? Ich meine … auf welcher Seite?«

»Auf der Seite der Gewinner.«

George Emery blinzelte.

»Verstanden! Woher kommen Sie, Mr. Webb?«

Petes Blick wanderte über die Regale hinter Emery, auf denen die zusammengerollten Karten und die Katasterregister lagen.

»Oregon.«

Der Angestellte des Land Office folgte seinem Blick, bevor er wieder seinen Kunden betrachtete.

»Ein unionstreuer Staat. Aber sagen Sie mir doch, was Sie wünschen, Mr. Webb, dann schauen wir uns gemeinsam an, was die Vereinigten Staaten für Sie tun können.«

Der Angestellte bezweifelte nicht, dass die Regierung die Wünsche eines jungen Mannes wie Billy Webb befriedigen würde.

»Geben Sie allen Leuten Land?«

»Allen Bürgern, die …«

»Egal wem?«

»Wie bitte?«

»Gehört Ihnen das ganze Land?«

Pete ging um den Schreibtisch herum zu den Karten. Er zog eine heraus, hielt sie sich nah ans Gesicht und roch an der Farbe, legte sie an ihren Platz zurück, öffnete ein Register. Der Mann von der Regierung räusperte sich.

»Ich muss noch dazusagen, dass es nur die ersten Hektar umsonst gibt. Und dass die Grundstücksparzellen, die im Bundesstaat noch verfügbar sind, schon recht weit vom Platte River entfernt sind. Es gibt noch schöne Grundstücke, aber es sind nicht die zugänglichsten. Die meisten können zumindest bewässert werden. Was genau suchen Sie denn, Mr. Webb?«

Pete legte das Register zurück auf den Schreibtisch und ging durchs Zimmer bis zum Fenster, sah hinaus auf seinen Mustang und die Hauptstraße von Lincoln zur Abendessenszeit.

»Fragen Sie die Leute, was sie in ihren Häusern so alles anstellen wollen?«

Emery reckte den Hals, um sich ein wenig vom Kragen seines Hemdes zu befreien.

»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«

»Wie sie ihre Frauen und Kinder behandeln?«

»Wie meinen Sie das?«

»Fragen Sie sie, wer sie sind?«

»Wer sie sind? Wovon reden Sie?«

»Von ihrer moralischen Gesinnung. Das ist es doch, was Sie hier mit Ihren Eigentumsurkunden anbieten, das Recht, im eigenen Haus tun und lassen zu können, was immer man will, oder nicht?«

Emery richtete sich auf, seine dröhnende Stimme füllte den ganzen Raum innerhalb der vier Bretterwände.

»Junger Mann, Sie verbreiten hier einen Gestank, der mich annehmen lässt, dass Sie nicht mehr ganz nüchtern sind. Sie sollten sich hinlegen.«

»Haben Sie schon einmal unterm Dach eines Mannes gelebt, der alle Rechte hat, Mr. Emery?«

»Das reicht!«

»Geben Sie mir das Geld!«

Der Angestellte des Land Office runzelte die Stirn und betrachtete den stämmigen jungen Mann, seine vorgewölbten Schultern über der breiten Brust.

»Mein Junge, du solltest jetzt besser verschwinden, sonst bekommst du noch Probleme.«

»Als...


Meßner, Michaela
Michaela Meßner übersetzt Literatur aus dem Spanischen, Französischen und Englischen, u. a. von César Aira, Cristina Campos und Arantza Portabales.

Varenne, Antonin
Antonin Varenne, geboren 1973, studierte Philosophie in Paris. Er war Hochhauskletterer und Zimmermann, arbeitete in Island, Mexiko und in den USA, wo er seinen ersten Roman schrieb. Seine Romane wurden mit den wichtigsten französischen Krimipreisen ausgezeichnet.



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