E-Book, Deutsch, 440 Seiten
van Os Versteckt vor aller Augen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95890-429-3
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Eine Überlebensgeschichte
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-95890-429-3
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Pieter van Os, geb. 1971, ist ein niederländischer Autor und Journalist. Er schreibt für 'NRC Handelsblad' und 'De Groene Amsterdammer'. Unter anderem erschien von ihm das Buch 'We Understand Each Other Perfectly' über seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter. Mit der Originalausgabe von 'Versteckt vor aller Augen' gewann er im Jahr 2020 den Brusse-Preis für das beste journalistische Buch in niederländischer Sprache sowie den Libris-Geschiedenis-Preis. Nach einigen Jahren in Warschau lebte er in Tirana, Albanien, und derzeit wieder in den Niederlanden.
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Der Bug (Prolog)
EMANUEL RINGELBLUM, Historiker
Einmal am Tag warf die Bäuerin beim Schweinefüttern im Stall die Essensabfälle ihrer Familie neben den Trog. Durch eine kleine Öffnung im Boden landeten die Abfälle bei den fünf hungrigen Menschen, die hier untergetaucht waren.
Unter dem Schweinestall würde niemand nach Juden suchen, hatte ihr Mann vermutet. Er behielt recht. Drei überlebten den Krieg, auch wenn sie bei der Befreiung keine Ähnlichkeit mehr mit den Personen hatten, die drei Jahre zuvor an seine Tür geklopft hatten.
Wenige Essensabfälle am Tag – davon kann ein Mensch auf die Dauer kaum leben, und tagelang in der Hocke auszuharren, richtet Körper und Seele zugrunde. Die beiden Untergetauchten, die nicht überlebten, wollten das Versteck im Weiler Godlewo Wielkie eigentlich nur kurz verlassen, um ein paar Habseligkeiten zu holen, die sie in der Nähe ihres eigenen Hauses versteckt hatten. Das hatten sie wahrscheinlich in der Hoffnung getan, sie könnten die Sachen mithilfe des Bauern oder direkt bei ihm gegen zusätzliche Nahrungsmittel tauschen, oder um sich besser vor Ratten, Frost, Regenwasser oder dem Gestank der Schweineexkremente zu schützen. Doch der kurze Ausflug wurde ihnen zum Verhängnis.
Den Bauernhof gibt es noch. Er dient heute im Garten eines später gebauten Hofs als Scheune. Sonne und Regen haben das Holz über die Jahrzehnte mausgrau verfärbt. An den Mauern des etwa fünfzehn Meter entfernten neuen Hofs blättert der Putz ab; darunter treten große, achtlos aufeinandergemauerte Ziegel hervor.
Die Scheune weist in eine ferne Vergangenheit, der Hof in eine Zukunft, die auch schon wieder verstrichen ist. Er sieht aus wie ein Mini-Mehrfamilienwohnhaus, quadratisch mit Flachdach, zwei Stockwerken und zwei identischen Balkonen. Eine Satellitenschüssel rundet das Ganze ab. Die Balkone sind so winzig, dass sie allenfalls genutzt werden können, um den Müll draußen abzustellen. , Kommunistenwürfel, nennen die Polen diese Höfe. Es sind Miniaturausgaben der Wohnhäuser, die während der Volksrepublik Polen (PRL) in den Großstädten wie Pilze aus dem Boden schossen, die sogenannten »bloki«.
Vier Jahre habe ich in Warschau, Polens Hauptstadt, gelebt, einer Stadt voller solcher Wohnhäuser. Von dort fuhr ich auf der Suche nach Personen und Orten in einem erschütternden historischen Zeugnis immer wieder in den Osten, meistens entlang des polnischen Flusses Bug. Während dieser Exkursionen versuchte ich mir die Würfelhäuser wegzudenken, denn eine der wenigen unverrückbaren Tatsachen in der Geschichte, der ich auf der Spur war, war die Zeit der Handlung: Sie liegt vor 1946, in einer Welt ohne Wohnbauernhöfe.
Deshalb konzentriere ich mich in dem Garten in etwa 100 Kilometer Entfernung von Warschau auf die Holzscheune. Denn sie hatte schließlich während des Krieges als Hof fungiert. Ausgehend von hier suche ich den Schweinestall, der dahinter oder daneben gestanden haben muss.
Die Untergetauchten haben das Erdloch zusammen mit dem Bauern und seinem Sohn im Sommer 1941 ausgehoben, kurz nachdem die Deutschen auch diesen Teil Polens besetzt hatten. Der Bauer, der Sohn und die Untergetauchten gruben bis in knapp zwei Meter Tiefe. Dafür benötigten sie zwei Tage. Ich kann die Stelle nicht finden, wo der Schweinestall gestanden hat. Leider gibt sich der heutige Besitzer des Bauernhofs keine besondere Mühe, ihn zu finden. Eine ziemlich seltsame Geschichte sei das, meint er, und wiederholt bis zum Überdruss, dass er den Besitzer aus den Vierzigerjahren nicht mehr kennengelernt hat. »Ich bin neu hier.« Angekommen ist er in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts; seither lebt er hier.
Eine polnische Freundin begleitet mich als Dolmetscherin. Auf der Rückfahrt nach Warschau fragt sie mich, was die Untertauchgeschichte auf dem Bauernhof mit dem Buch zu tun hat, an dem ich schreibe. Ich stammle ein paar Sätze, etwa dass die polnischen Juden, die sich bei dem Bauern versteckten, aus Czyzew kamen, einer Siedlung (heute Stadt), die bis 2010 Czyzew-Osada hieß und vor langer Zeit das Heimatschtetl der Mutter meiner Protagonistin und ihrer Großeltern mütterlicherseits war. Der Bauernhof in Godlewo Wielkie liegt 6 Kilometer südlich davon. Außerdem, sage ich, geht es darin um jüdische Polen, die versuchten, auf dem polnischen Land zu überleben, was meine Hauptperson ebenfalls einige Monate lang versucht hat.
Meine polnische Freundin lacht. Wenn du so anfängst, kannst du die Reise endlos ausdehnen. Sie rechnet vor: In Czyzew waren 85 Prozent der Bevölkerung jüdisch, also umgerechnet ein paar Tausend Personen. Ist jeder einzelne ihrer Versuche zu überleben relevant für mein Buch? Sie rechnet schnell weiter: Im Polen von 1939 lebten rund 3,5 Millionen jüdische Staatsbürger, davon versuchten mehr als 250.000 auf dem Land unterzutauchen.
»Müssen wir jede dieser Geschichten kennen, damit wir die deiner Hauptperson richtig einordnen können?«
Die Hauptperson, von der sie spricht, ist eine Dame in Amstelveen, die in einer orthodoxen jüdischen Familie in einem Viertel in Warschau aufgewachsen ist, das später das Herzstück des Warschauer Ghettos bilden sollte: eine Art öffentliches Gefängnis, entworfen von den deutschen Besatzern. Sie hat den Krieg als einzige in ihrer Familie überlebt, allerdings nicht, indem sie unter Schweinen lebte, sondern indem sie sich als jemand anderes ausgab, sich in einer Zeit, in der die Identität darüber entschied, ob man am Leben blieb oder nicht, verschiedene Namen und Lebensgeschichten zulegte.
Die polnische Freundin und ich schweigen. Ich tue so, als sei ich brennend an den Dutzenden, wenn nicht Hunderten Reklametafeln interessiert, an denen wir vorbeifahren. Oft trennen sie die Straße und einen ausgetrockneten Kanal von niedrigem Grasland und kleinen, frisch gepflanzten Kiefernwäldchen. Die Welt zwischen Czyzew und Warschau ist ziemlich eintönig. Die polnische Freundin fragt behutsam:
»Müssen wir wirklich noch nach Breslau, um Czeslaw Cholewicki zu sprechen?«
Der besagte Cholewicki ist der Sohn des Bauernpaares in Godlewo Wielkie, das Menschen unter seinen Schweinen versteckte. Nach dem Krieg zog er als Fünfzehnjähriger in den Westen des Landes, in ehemals deutsches Gebiet, das zu einem Teil Polens geworden war.
Die Neugier ist stärker als die Vernunft. Nur wenige Tage später sitzen wir nach weiteren Autostunden in einem Steinhaus in einem Bauernweiler bei Breslau auf dem Sofa. Vor uns der achtundachtzigjährige Cholewicki, der die Geschichte aus dem Gedächtnis erzählt. Ich mache einzelne Themen aus: Wie er und sein Vater unter dem Schweinestall eine Grube aushoben und aus zwei darüber gelegten Bäumen und einer Menge Äste und Schlamm einen neuen Estrich herstellten; wie die Untergetauchten durch die angebaute Hundehütte ein bisschen Luft bekamen und dass sie nachts kurze Zeit hinaus durften, um im Freien ihre verkrampften Glieder zu strecken; dass sein Vater dem Hund beigebracht hatte, keine Notiz von den Untergetauchten zu nehmen und der Hof glücklicherweise am Waldrand lag, sodass die Hunde der Nachbarn nicht schon beim ersten Geräusch und bei der ersten Bewegung in dem Erdloch anschlugen. Was das weitere Schicksal der Untergetauchten angeht, fasst sich Cholewicki kurz. Die beiden, die sich auf die Suche nach ihren Sachen gemacht hatten, fand sein Vater ein paar Tage später tot im Wald. Es sei unwahrscheinlich, dass die Deutschen sie getötet hätten. Es habe in der näheren Umgebung kaum welche gegeben, außerdem sei keine Kugel zum Einsatz gekommen.
»Die Deutschen waren dafür bekannt, dass sie Menschen mit Kugeln töteten und nicht mit Knüppeln oder Heugabeln.«
Die verbliebenen drei Untergetauchten harrten noch bis zum zweiten Tag nach der Befreiung im Frühjahr 1944 in ihrem Versteck aus. Dann kehrten sie zu ihren geplünderten Häusern in Czyzew zurück, die im Gegensatz zu den größeren Häusern am Hauptplatz nicht in den Besitz polnischer Katholiken übergegangen waren. Die Nachricht von ihrer Rückkehr verbreitete sich in Windeseile. Eine Gruppe bewaffneter Polen schaute auf der Suche nach Geld, Gold oder anderen Wertgegenständen bei ihnen vorbei. »Es herrschte die Vorstellung, dass Juden, die alles überlebt hatten, sehr reich sein müssten«, erklärt Cholewicki. »Aber diese Menschen besaßen nichts.«
Die bewaffneten Polen töteten den Vater, die Mutter und die Tochter, die zwei Jahre in dem Erdloch unter den Schweinen gelebt hatten. Anschließend zogen sie weiter zu dem Bauernhof in Godlewo Wielkie. Der Hund der Cholewickis kündigte ihr Kommen an. Der junge Czeslaw rannte durch die Hintertür ins Freie und versteckte sich im Gebüsch. Von dort hörte er, wie die Polen gegen seinen Vater...




