Buch, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 345 g
Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts
Buch, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 345 g
ISBN: 978-3-593-38341-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Rechtswissenschaften Internationales Recht und Europarecht Internationales Recht Internationale Menschen- und Minderheitenrechte, Kinderrechte
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsgeschichte, Recht der Antike
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Menschenrechte, Bürgerrechte
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtstheorie, Rechtsmethodik, Rechtsdogmatik, Rechtsprechungslehre
Weitere Infos & Material
Einleitung: Der neue Begründungsbedarf des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit
Sibylle van der Walt
Historische Erklärungen menschenrechtlicher Sensibilisierungsprozesse
Kapitalismus und die Ursprünge humanitären Empfindens
Thomas L. Haskell
'Die heiligen Rechte der Schwachen': Schmerz, Mitgefühl und die Kultur individueller Rechte im Antebellum Amerika
Elizabeth B. Clark
Kulturelle Symboliken körperlicher Unversehrtheit
Auf dem Weg zu einem interkulturellen Ansatz bei der Definition internationaler Menschenrechtsstandards: Die Bedeutung grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
Abdullahi Ahmed An-Na’im
Der Körper zwischen Gott und Mensch im Islam
Birgit Krawietz
Gottesebenbildlichkeit, Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit
Wolfgang Vögele
'Das Leiden anderer betrachten': Demokratisierungsprozesse, Folter, Fotografie
Sabine Sielke
Verletzbare Körper: Eine ästhetische und ethische Kategorie
Gesa Ziemer
Neuzeitliche Subjektkonzepte: Recht, Politik, Körper
Zwei Wege der Begründung von Menschenrechten: Überlegungen am Beispiel des elementaren Rechts auf körperliche Unversehrtheit
Bernd Ladwig
Ein Recht auf Unversehrtheit? Skizze einer Phänomenologie moralischer Integritätsverletzungen
Arnd Pollmann
Der Schutz körperlicher Unversehrtheit im Menschenbild der Menschenrechte
Winfried Brugger
Körper intersubjektiver Freiheit: Fundamentale Menschenrechtsverletzungen als Problem der Demokratie
Hauke Brunkhorst
Autorinnen und Autoren
Anliegen dieses Bandes ist es, Geschichten und Theorien über das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit zur Darstellung zu bringen. Seit einigen Jahren mehren sich Stimmen von Vertretern der Exekutive, von Politikern und Rechtsgelehrten, die in Richtung einer Enttabuisierung der Folter plädieren; die selbst für das politikferne Medienpublikum kaum übersehbaren Bilder der Folterszenen und Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib und Guantánamo Bay haben unser Wissen über das Spektrum des Möglichen in erschütterndem Maße erweitert. Diese Entwicklungen legen den Gedanken nahe, dass wir es mit einem neuen Kapitel nicht nur in der Geschichte der internationalen Politik und des internationalen Rechts, sondern auch in der Geschichte (welt-)bürgerlicher Freiheiten zu tun haben.
Etwas länger als ein halbes Jahrhundert – seit dem Gründungsakt der Vereinten Nationen und der gleichzeitig verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 – schien es Konsens, dass ein institutionalisiertes Völkerrecht und in Absichtserklärungen sowie in bindenden Verträgen niedergelegte Verhaltensnormen in der Lage sein würden, moderne Gesellschaften gegen das in den Ausbrüchen der nationalsozialistischen Herrschaft unübersehbar gewordene Gewaltpotenzial zu immunisieren. Die zugrunde liegende Hoffnung, dass es möglich sei, moderne Staaten durch rechtsstaatliche Verfahren und das Völkerrecht zu pazifizieren, geht freilich auf eine Zeit zurück, die lange vor der politischen Verarbeitung der humanitären Katastrophen des Zweiten Weltkrieges liegt. Sie ist eng mit dem Weltbild des Liberalismus in der Tradition von Adam Smith und Immanuel Kant verknüpft, demzufolge moderne, durch Kapitalismus und parlamentarische Regierungsformen gekennzeichnete Staaten die Tendenz haben, ihre Macht unter weitgehendem Verzicht auf physische Gewalteinwirkung zu entfalten. Während Adam Smith und die ihm nachfolgende politische Ökonomie an die pazifizierende Kraft des freien Handels glaubten, der Kriege und Gewaltauswüchse im Interesse der eigenen Gewinnmaximierung überflüssig mache, verknüpfte Kant die Friedensfähigkeit von Staaten mit ihrer politischen Verfassung und schrieb republikanischen Verfassungselementen eine friedensbringende Wirkung zu. Im liberalen Denken galten Kriege zwischen Staaten und unkontrollierte gewalttätige Konfliktlösungen in ihrem Inneren daher als Ausdruck vormoderner Rückständigkeit, eines 'Rückfalls in die Barbarei', dessen Ursachen keinesfalls in der Natur moderner Staatlichkeit selbst zu suchen seien. Die Modernisierungstheorie der fünfziger Jahre verstärkte den liberalen 'Traum von der gewaltfreien Moderne' (Joas 2000: 49ff.), indem sie das Prinzip gewaltfreier Konfliktlösung zum konstitutiven Merkmal moderner Gesellschaften erklärte. Das Paradigma zunehmender physischer Gewaltfreiheit in der Herrschaftsausübung findet sich noch in einigen Ansätzen der Kultursoziologie, die seit den siebziger Jahren an Bedeutung gewannen. Norbert Elias’ 1939 erstmals veröffentlichte, aber erst nach der Neuauflage im Jahre 1969 breit rezipierte Theorie über den Prozeß der Zivilisation etwa setzt die liberale Geschichtsdeutung ungebrochen fort. Ähnliches kann über Michel Foucaults seit dem Erscheinen von Überwachen und Strafen im Jahre 1975 überaus einflussreiche Theorie der Disziplinierung gesagt werden (Foucault 1991). Zwar ist es das Hauptanliegen dieses Buches, das liberale Geschichtsbild humanerer, auf körperliche Grausamkeit verzichtender Strafmethoden und damit die liberale Fortschrittsidee zu hinterfragen; indem Foucault aber den Wandel der Strafmethoden als einen Übergang von der gewaltexzessiven Macht des Souveräns zu der körperlosen diffusen Machttechnik des modernen Gefängnisses beschreibt, reproduziert er unversehens das Bild einer auf physische Gewalt verzichtenden Moderne. Auch in den Diskursen des Rechts finden sich Spuren dieser Geschichtsdeutung. So schreibt etwa der Verfassungsrechtler Horst Dreier noch im Jahre 1996 in seinem Kommentar des deutschen Grundgesetzes, mit der Herausbildung zum modernen Verfassungsstaat laufe 'eine wachsende Anerkennung der körperlichen Integrität des Menschen parallel, wie sie in der Abschaffung von Folter und Leibesstrafen, im Schutz der körperlichen Integrität in Strafverfahren, oder in der Zurückdrängung der Todesstrafe zum Ausdruck kommt' (Dreier 1996: 209).
Das Entsetzen, das der Anblick der Szenen von Abu Ghraib und Guantánamo Bay, aber auch die Diskussion um die so genannte 'Rettungsfolter' in Deutschland auslösten, sowie die Überraschung darüber, dass die Vereinigten Staaten als Mutterland der westlichen Demokratie und – mit der Virginia Bill of Rights von 1776 – der ersten verbrieften Menschenrechtserklärung sich nicht davor scheuten, gegen die eigene Tradition zu verstoßen, ist nicht so sehr dem sattsam bekannten Umstand geschuldet, dass die Existenz von Rechtsnormen noch nicht deren Einhaltung garantiert. Vielmehr unterhöhlen die jüngeren Debatten und Praktiken um die Folter wie kaum ein Geschehen seit 1948 den liberalen Traum von der Gewaltabstinenz moderner Staatlichkeit. Sie sind ein nicht von der Hand zu weisender empirischer Hinweis darauf, dass rechtsstaatliche Verfahren und das Völkerrecht allein noch nicht vor Gewaltexzessen in der Moderne schützen.
Nachdem der Traum von der gewaltabstinenten Moderne erschüttert, wenn nicht gar zerbrochen ist, stellt sich unausweichlich die Frage nach einer neuen, treffenderen Beschreibung des Stellenwerts physischer Gewalt in der Moderne. Ein wesentlicher Grund für die jüngste Entwicklung einer Enttabuisierung physischer Gewalt in der Beziehung zwischen Staat und Bürger, auch bei Verteidigern der Idee der Menschenrechte, ist die Unsicherheit darüber, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit in Konfliktsituationen genau begründet ist. Die Frage nach dem 'Grund' dieses Rechts steht daher im Zentrum des vorliegenden Bandes. Klassischerweise fällt die Aufgabe, eine Begründung handlungsorientierender Normen in moralischen und rechtlichen Grenzsituationen zu liefern, Theologen und Philosophen zu. Diese sind auch in diesem Band vertreten, werden jedoch durch Beiträge von Historikern, Religions- und Kulturwissenschaftlern ergänzt; denn so verdienstvoll die philosophische oder theologische Arbeit einer begrifflichen und argumentativen Klärung der Geltungsbedingungen von Menschenrechten ist, so hat sich doch in den vergangenen Jahrzehnten der Eindruck verstärkt, dass ein tieferes Verständnis der Wirkungsbedingungen von Menschenrechten die sozialen Kräfte, die hinter ihrer Verwirklichung stehen, mit einbeziehen muss. Diese Einsicht ist wissenschaftshistorisch zwar nicht gänzlich neu, insofern schon Max Weber mit seiner Rechtssoziologie nach den 'Chancen' des 'empirischen ›Geltens‹ von Rechtsnormen, im Gegensatz zu ihrem ›normativen Sinn‹' fragte (Weber 1988, zitiert nach König 2002: 88); sie wurde jedoch in der Menschenrechtsforschung erst in jüngerer Zeit wieder stark gemacht (Joas 2003). An kaum einem anderen Punkt ist diese Einsicht so bedeutsam geworden, wie in der seit den neunziger Jahren verstärkt geführten Debatte um die interkulturelle Universalität der Menschenrechte (Renteln 1990; An-Na’im 1992; van der Walt 2006). Aber auch aus den Reihen der Philosophie selbst kam der Anstoß zu einer pragmatistischen Perspektive auf die Menschenrechte (Walzer 1996; Rorty 1996). Vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11. September und ihrer Konsequenzen für die internationale Staatengemeinschaft haben die Fragen des interkulturellen, insbesondere des interreligiösen Vergleichs zusätzlich an Relevanz gewonnen. In diesem doppelten Sinne suchen die Autoren in diesem Band nach dem 'Grund' des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit: seinem empirischen Grund in sozialen Geltungsbedingungen ebenso wie seiner normativen Begründung in philosophisch-theologischen Diskursen.
Den neueren Entwicklungen in der politischen und akademischen Debatte um die Menschenrechte versucht der Band gerecht zu werden, in dem er sich in den ersten beiden Teilen einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive auf das Menschenrecht körperlicher Unversehrtheit widmet, bevor er sich im dritten Teil den philosophischen Begründungsansätzen zuwendet. Diese interdisziplinäre Herangehensweise beabsichtigt dabei nicht, die Beiträge der einzelnen Disziplinen als Konkurrenzunternehmung oder gar im Sinne einer antagonistischen Beziehung zu begreifen. Denn gerade dann, wenn man die sozialen Kräfte, die hinter der sozialen und politischen Realisierung von Menschenrechten stehen, untersuchen will, kommt man nicht darum herum, die normative Überzeugungskraft, die sie den sozialen Akteuren zur Handlungsorientierung bietet, mit einzubeziehen. Andersherum droht eine Erörterung der normativen Geltungsansprüche der Menschenrechte allzuleicht wirkungslos zu bleiben, wenn sie die soziale Motivlage ihrer Anerkennung ignoriert. Die damit gestellte Aufgabe einer Synthese, in der das Ineinandergreifen von normativen Argumentationen und sozialen Institutionalisierungsschüben hinsichtlich des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit gezeigt werden könnte, übersteigt allerdings die Kapazität dieses Bandes.