Valerio | Blinde Flecken | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten, ePub

Valerio Blinde Flecken


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-0369-9532-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten, ePub

ISBN: 978-3-0369-9532-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vittorias Tod trifft die ehrgeizige und eigensinnige Anwältin Lea völlig unerwartet. Vittoria soll in ihrer Badewanne ertrunken sein. Doch wie konnte es dazu kommen? Lea glaubt nicht an einen Unfall, und so beginnt sie, Nachforschungen anzustellen. Von dem Tag an, als Vittoria in der italienischen Kleinstadt Scauri auftauchte und gemeinsam mit einer Frau namens Mara ein altes Haus bezog, war Lea von ihrer schillernden Persönlichkeit fasziniert. Nach und nach versucht sie, mehr über ihr Leben herauszufinden, spricht mit dem Apotheker, bei dem Vittoria als versierte Heilpflanzenkennerin arbeitete, mit dem Pfarrer, mit Vittorias Ex-Mann und natürlich mit Mara, der Frau, mit der Vittoria zusammenlebte. Je mehr Lea über Vittorias facettenreiche Vergangenheit in Erfahrung bringt, desto besser lernt sie sich selbst kennen und muss schließlich ihr eigenes geordnetes Leben mit ihrem Mann und den zwei Kindern infrage stellen.

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Am Montagmorgen in der Kanzlei, als ich gerade versuchte, den Haushaltswarenhändler und seine Frau davon abzubringen, Anzeige zu erstatten, nachdem ihr minderjähriger Sohn bei einer Schlägerei den Kürzeren gezogen hatte, kam meine Sekretärin Cristina herein, um mir auszurichten, sie habe da eine Frau am Telefon, die mich dringend sprechen wolle. Ich entschuldigte mich und ging aus Diskretionsgründen hinaus. Es war Mara. »Vittoria ist gestern Vormittag gestorben«, sagte sie leise, gefasst – ein Höflichkeitsanruf. »Ich weiß, dass du ihr gefallen hast und dass sie dir gefallen hat.«

Sie benachrichtige gerade die Freunde.

Ich war nicht in der Lage, irgendwelche Fragen zu stellen, und dachte daran, wie ich es mir in Ponza hatte gutgehen lassen, während Vittoria in Scauri gestorben war.

»Ein Unfall«, erklärte Mara. »Ein Unfall in der Badewanne«, wiederholte sie mit einer Stimme, die mit jeder Silbe schwächer wurde. Ich versprach, bei ihr vorbeizuschauen, und sie sagte kurz vor dem Auflegen, ohne jedes Dankeschön: »Sie ist hier, zu Hause, übermorgen ist die Beerdigung.«

Wieder in meinem Büro, setzte ich das Gespräch mit dem Haushaltswarenhändler und seiner Frau fort und ließ dabei das Türschloss nicht aus den Augen, das hin und wieder zwischen ihren Köpfen auftauchte, die sie beim Reden heftig bewegten. Der Mann schrie förmlich, es setzte ihm offenbar zu, dass der Sohn Schläge hatte einstecken müssen.

»Der Kerl hat eine Bierflasche nach ihm geworfen, die ihn Gott sei Dank nicht am Kopf getroffen hat, denn dann wäre er tot gewesen, Lea, sie hat ihn bloß gestreift, okay? Riccardo ist kein Feigling, deswegen ist er hin und hat ihm eine reingehauen, und da hat der andere Anlauf genommen und ihm mit einem Kopfstoß die Nase gebrochen. Das war kein Unfall.«

»Das war kein Unfall«, wiederholte Anna, die Mutter. »So ein Verhalten muss in jedem Fall geahndet werden«, fügte sie hinzu, um dann genervt herumzufahren, vermutlich weil sie wissen wollte, was ich da hinter ihrem Kopf fixierte.

Ein Unfall in der Badewanne, dachte ich und sah Vittoria wieder vor mir, ihren beschwingten Schritt, ihre weder dunkle noch helle, aber intensive Augenfarbe, ihr ärmelloses blaues Leinenkleid. Ich sah, wie sie über den Gehsteig lief, vor den Schaufenstern stehen blieb und den Kopf schüttelte. Was sie von den ausgestellten Waren hielt, habe ich nie erfahren. Sie machte sich über Sachen lustig, die eigentlich nicht zum Lachen waren: über Leute, die sich gegenseitig Hörner aufsetzten oder oben auf dem Friedhof Zweifamilien-Grabhäuser errichten ließen, über Leute, die blöd stürzten, über Leute im Rollstuhl, die an architektonischen Barrieren scheiterten. »Stell dir vor, da ist so eine Barriere, und das wars!«

Ich war häufig bei Vittoria gewesen und kannte die Badewanne, in der sie gestorben war, sie war schlichtweg nicht zu übersehen, weil das Bad am Ende eines langen Flurs der Haustür direkt gegenüberlag. Dort befand sich unter einem gelbgrünen Buntglasfenster die Wanne. Die Scheiben bildeten ein unregelmäßiges Schachbrettmuster aus Vier- und Rechtecken, Boden und Wanne waren mit glänzenden schwarzen Kacheln gefliest.

Das Haus war Anfang der Siebzigerjahre, als Vittoria mit Mara nach Scauri gezogen war, renoviert worden. Wir alle kannten die Wanne, die uns besonders wegen dieser schwarzen Kacheln aufgefallen sein dürfte. Das hatte mir zumindest Enrico bestätigt, ich hatte ihn aus irgendeinem Grund danach gefragt, vielleicht als wir unser Haus sanieren ließen. Enrico vertrieb Sanitärzubehör und Fliesen im Süden der pontinischen Ebene bis nach Fondi und war ein Onkel meines Mannes. Soweit ich mich erinnern konnte, war das Haus bis dahin unbewohnt gewesen.

Aber seit Vittoria dort lebte, stand seine Tür immer offen, man betrat es vom Garten aus, und schon auf der Veranda herrschte eine heitere Atmosphäre, Leute plauderten, Hunde tollten umher, Katzen sprangen auf den Tisch und schärften ihre Krallen an den Bäumen. Es gab auch einen Pfau: Patrick.

Das war jedes Mal so, wenn ich hinging, vom ersten Tag an. Für mich und für alle anderen, denn schon als das Haus noch gar nicht fertig renoviert war, veranstalteten sie zu Maras Geburtstag ein Fest. Ich selbst war nicht dort, habe aber davon gehört. Alle sprachen darüber.

Es war ein kleines Haus, aber mit Stil, wenn auch heruntergekommen, zwei Stockwerke und ein schönes Eingangstor in der Via Romanelli, dazu ein kleiner Garten, der nach zwanzig Jahren richtig üppig war. Vittoria kannte sich mit Pflanzen aus, sie las Gartenbücher und ging viel spazieren, ja schaffte es zu Fuß bis zum »Erlöser«, wo die Christusstatue stand. Gartenbücher zu lesen, war laut der Buch- und Schreibwarenhandlung, in der Vittoria die Ratgeber bestellte, etwas ganz Besonderes. Besonders im Sinne von sonderbar. Wir anderen hatten Gemüse- und Blumenbeete – Gärten waren nur was für vornehme Leute. Oder aber sie gehörten der Gemeinde. Die Villa von General Nobile hatte einen richtigen Garten und das Gemeindehaus mit den Kinderkarussells hinter dem Eiskiosk Sayonara ebenfalls, aber der war ein öffentlicher Park.

Als sie hergezogen waren, hatte niemand groß Fragen gestellt – vielleicht weil niemand begriffen hatte, dass sie sich hier dauerhaft niederlassen würden. Vittoria nahm einen Job in der Apotheke an, und Mara eröffnete eine Hunde- und Katzenpension, als sich noch niemand Gedanken über so etwas machte. Keine Ahnung, ob sie ein Gewerbe angemeldet hatte oder Steuern zahlte, aber viele gingen hin, um sich dort neugierig umzuschauen, außerdem braucht jeder mal irgendwen, der sich für ein paar Tage um den Hund oder die Katze kümmern kann.

So war auch ich dorthin gekommen, im Dezember 1974.

Ich hatte mit meiner Mutter gestritten und wollte sie nicht darum bitten, Madama, meinen Hund, zu nehmen. Mama konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Zeiten vorbei waren, in denen Tiere wie Hunde und Katzen entweder Streuner waren, denen man hin und wieder etwas zu fressen gab – aber bloß nicht zu viel, denn sie sollten nicht anhänglich werden – und die früher oder später unter die Räder eines Autos kommen würden, oder aber so was wie Schaufel und Besen, lebende Arbeitsgeräte. Hunde bewachten das Haus, Katzen fingen Mäuse, Hühner legten Eier, Kühe gaben Milch und Fleisch, einmal im Jahr wurde ein Schwein geschlachtet, und ich musste den Darm säubern, der anschließend gefüllt und zu Wurst und Salami verarbeitet wurde. Ein Tier als Begleiter? Das ging ihr einfach nicht in den Kopf. »Wenn es nicht sprechen kann, was ist es dann für ein Begleiter?«, wandte Mama mit finsterer Miene ein, während sie den Küchenfußboden kehrte. Selbst ich war für sie ein Arbeitsgerät, schließlich war ich ein Mädchen, ihre Stütze im Alter. Eine lebende Stütze. Sie wollte nicht mal, dass ich nach meinem Studium das Stipendium annehme. »Le’, fang an zu arbeiten, du musst heiraten.«

Mama hätte Madama drei Tage im Freien gelassen. Ich wollte nicht heiraten, ich wollte weiterstudieren und zwei Tage wegfahren, um Luigi zu besuchen, der beim Militär war. Ich wusste nur nicht, wo ich den Hund lassen sollte, und da schlug mir meine beste Freundin Alba Maras Pension vor. Sie selbst war noch nie dort gewesen, hatte aber auf einer Zugfahrt nach Rom davon gehört. »Dann kannst du beruhigt sein, sonst denkst du in der Zeit mit Luigi ständig an Madama.« Alba war seit jeher praktisch veranlagt.

Luigi gefiel mir, er bezeichnete Madama als »Hund im Wolfspelz« und war Reserveoffizier in einem abgelegenen Dorf der Provinz Salerno, genannt »Die Schlangengrube«.

Der Garten, der zu dem Haus gehörte, in dem Mara und Vittoria lebten, war damals noch nicht so schön wie heute, noch gab es keine Dachterrasse und auch keinen Zaun, aber man merkte, dass sich da jemand Gedanken machte und Tag für Tag darum kümmerte. Schon innerhalb weniger Monate gedieh er üppig. Tierpensionen waren noch nicht in Mode, Tierärzte kümmerten sich hauptsächlich um Hühner, Schafe, Kühe, Schweine und das ein oder andere Kaninchen. Kaninchen sind ganz besonders empfindlich.

»Der Erlöser« oder Monte Altino, auf dem Vittoria Pflanzen und Blumen sammelte, um sie anschließend auf Meereshöhe wieder einzusetzen, gehörte zu den Aurunker Bergen und wurde wegen der dortigen Christusstatue so genannt.

Dass sie sich dauerhaft niedergelassen hatten, wurde klar, als die Apothekenbesitzerin, eine sehr vornehme Frau aus Livorno, erfuhr, dass Vittoria das Haus in der Via Romanelli nicht gemietet, sondern gekauft hatte und dass Mara zwar als Miteigentümerin eingetragen, aber nicht ihre Tochter war. Das hatte der Notar eines Morgens in der Bar Italia zum Besten gegeben, während er eine weitere, ihm zufolge verrückte Erbschaft kommentierte. Dabei ging es um ein Haus bei Vindicio, für das man nur mit Mühe einen Erben hatte auftreiben können, ein schönes Haus. Und irgendwann hatte der Erbe zugunsten eines Freundes des Onkels, des einstigen Besitzers, darauf verzichtet. Doch wie der mit ihm befreundet gewesen war, konnte niemand sagen. Vielleicht lag es an dem Namen Vindicio, der einen sofort an den keine zehn Kilometer nördlich gelegenen Ort Formia denken ließ und der bei den lokalpatriotischen Leuten aus Scauri auf Anhieb Abneigung weckte, dass die eigentlich skandalöse Information, Mara sei gar nicht Vittorias Tochter, nicht für Klatsch sorgte. Sie fiel nicht auf fruchtbaren Boden, sondern war Wasser, das unter den Füßen der Leute aus Scauri dahinfloss wie der Rio Capo d’Acqua, der zugeschüttet worden war und auf der Strecke von den Forellenteichen bis zum Meer nur ganz kurz an die Oberfläche kam. Dort fingen die...


Burkhardt, Christiane
Christiane Burkhardt lebt in München. Sie übersetzt aus dem Niederländischen, Italienischen und Englischen und übertrug unter anderen Paolo Cognetti, Fabio Geda, Wytske Versteeg und Tom Hofland ins Deutsche. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.

Valerio, Chiara
Chiara Valerio wurde 1978 in Scauri geboren und lebt in Rom. Sie ist promovierte Mathematikerin, Dozentin, Journalistin und Autorin zahlreicher Essays, Romane und Kurzgeschichten. Blinde Flecken war in der Endauswahl des renommierten Premio Strega 2024, wurde in Italien gleich ein großer Erfolg und ist ihr erster Roman bei Kein & Aber.

Chiara Valerio wurde 1978 in Scauri geboren und lebt in Rom. Sie ist promovierte Mathematikerin, Dozentin, Journalistin und Autorin zahlreicher Essays, Romane und Kurzgeschichten. 
war in der Endauswahl des renommierten Premio Strega 2024, wurde in Italien gleich ein großer Erfolg und ist ihr erster Roman bei Kein & Aber.

Christiane Burkhardt lebt in München. Sie übersetzt aus dem Niederländischen, Italienischen und Englischen und übertrug unter anderen Paolo Cognetti, Fabio Geda, Wytske Versteeg und Tom Hofland ins Deutsche. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.



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