E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Utami Saman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30927-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-293-30927-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ayu Utami, geboren 1968 in Bogor (Indonesien), studierte Literaturwissenschaften an der Universität Indonesia in Jakarta. Sie ist Radio- und Zeitungsjournalistin und Autorin von Romanen und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman Saman wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem niederländischen Prinz-Claus-Award. Nachdem drei wichtige Nachrichtenmagazine von Suharto verboten wurden, schloss sie sich aus Protest der ?Allianz unabhängiger Journalisten? an.
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Central Park, 28. Mai 1996
Hier in diesem Park – hier bin ich ein Vogel. Tausende von Meilen bin ich hergeflogen, aus einem Land, das keinen Frühling kennt. Die Sehnsucht nach dem Frühling hat mich hergeführt. Hier duften jetzt die Wiesen und auch die Bäume.
Wie alt sie wohl sind? Ob sie Namen haben?
Der Duft des Holzes umgibt mich, ich fühle die Kälte der Steine, atme den Geruch der Büsche und der Pilze.
Wer sagt mir, wie alt sie sind? Wer nennt mir ihre Namen?
Sicher haben die Menschen ihnen Namen gegeben, so wie Eltern ihre Kinder mit Namen rufen. Dabei sind diese Gewächse doch viel älter als die Menschen.
Freilich wächst hier im Central Park keine Rafflesia arnoldi, die findet man nur im Regenwald der malaiischen Hochebenen. Wars nicht ein Engländer, der dieser Blume seinen Namen gab? Die Menschen müssen alles bezeichnen, was da wild wächst oder in ihren Gärten steht, als ob sie es besser wüssten als die Pflanzen selbst, die nur Sonne und Kälte kennen oder die Wärme der Erde. Auch die Tiere kennen Bäume und Sträucher nicht mit Namen. Und ein Muttertier ruft die Jungen auf seine Weise. Dazu braucht es keine Namen. Und doch sind die Tiere glücklich in diesem Park, so wie ich es bin, eine Touristin in New York.
Braucht Schönheit einen Namen?
Es ist zehn Uhr morgens.
Obwohl der Tag noch jung ist, sind die Schatten schon kurz, denn gegen Ende des Frühlings werden die Tage hier schnell länger. Kleine Vögel suchen zwischen den Blättern nach der Sonne, lassen sich von den Strahlen wärmen, werden übermütig. Sie singen, zwitschern und schnäbeln, denn zu dieser Jahreszeit paaren sie sich. So wie dieses possierliche Paar mit weißer Brust. Das Männchen hat ringsherum dunkelbraunes, das Weibchen hellbraunes Gefieder. Ich habe keine Ahnung, welche Vogelart es ist. Ich sehe nur, sie sind glücklich.
Braucht Schönheit einen Namen?
Ein Obdachloser liegt auf einer Bank, in seine schmutzige Decke gewickelt. Ich weiß nicht, was für ein Mensch er ist, welche Hautfarbe er hat. Man sieht nur, er genießt seinen Schlaf. »Ich bin glücklich«, würde ich ihm antworten, wenn er aufstehen sollte und mich fragte. Sogar wenn er mich in seinen Träumen fragte.
Ich bin verliebt, so wie die beiden Vögel mit der aufgeplusterten weißen Brust da auf den Zweigen. Wir werden uns umarmen, werden uns küssen, spazieren gehen und in dem russischen Tea-Room ein paar Häuserblocks weiter im Südwesten etwas trinken. Es macht nichts, wenn es dort teuer ist. Denn so einen Tag gibt es nur einmal.
Ich warte hier auf Sihar. Niemand kennt diesen Ort hier, außer dem zerlumpten Kerl dort. Hier stören uns keine Eltern und keine Ehefrau, kein Sittenrichter und keine Sittenpolizei. Die Leute – erst recht Touristen – können sich hier wie Vögel fühlen und sich paaren, wenn sie danach Verlangen haben. Danach gibt es nichts, was man beklagen müsste. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben.
Wenn er in den Park kommt, will ich ihm ein paar Skizzen zeigen, die ich gemacht habe, weil ich Sehnsucht nach ihm habe. Auch das Gedicht, das ich unter ein kleines Aquarell geschrieben habe:
Ich denke an einen durstigen Mund
an einen Mann, dessen Jugendzeit verstrichen ist
zwischen den Sandbänken bewegt er sich gegen den Strom.
Wenn er kommt und es sieht, dann weiß er, dass ich mich maßlos nach ihm gesehnt habe, nach seinem Geruch, wenn er mich umarmt, nach der Wärme seiner Zunge, auf der der Geruch von Tabakpastillen liegt, es ist die Marke Skoal. Eigentlich raucht er sehr gern, aber wenn andere dabei sind, die den Rauch nicht leiden können, dann nimmt er Rücksicht. In letzter Zeit hat er nur noch die kleinen Tabakpillen genommen, die man lutscht. Ja, er hat gute Manieren. Heute sind es vierhundertdrei Tage, seitdem wir uns zum letzten Mal geküsst haben – auch dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. 403 Tage. Vergangenes Jahr am 22. April. Ich habe das Datum ständig im Kopf und zähle immer wieder die Tage. Denn jener Tag hat mir ein bitteres Gefühl hinterlassen, so bitter wie ein Duku-Kern, den man aus Versehen zerbeißt und verschluckt, aber das Verlangen, ihn wiederzusehen, ist geblieben. Werden wir uns wiedersehen? Wenn er bloß käme!
Es war in einem Hotelzimmer. Ich zitterte, und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich war vorher noch nie allein mit einem Mann in einem Zimmer gewesen. Er war ziemlich schweigsam, sagte auch nicht, ob er schon früher einmal eine Frau mit ins Hotel genommen hatte. Immerhin war er ein Mann, der auf Bohrtürmen arbeitet, der Monate im Urwald oder auf dem Meer verbringt, wo es in der Nähe nur primitive Verkaufsstände gibt und billige Huren in Hütten mit dreckverschmierten Wänden oder auch kleine Ansiedlungen, in denen sich leichte Mädchen herumtreiben, die nur darauf warten, von den Ölarbeitern mitgenommen zu werden. Immerhin wirkte er in dem Hotelzimmer etwas nervös, jedoch längst nicht so verwirrt wie ich, die sich ins Badezimmer flüchtete, als der Hotelboy mit einer Bestellung kam. Denn ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Dann lagen wir nebeneinander auf dem Bett, die Tagesdecke war noch ausgebreitet, denn es war ja noch nicht Schlafenszeit. Meine Brüste seien groß, sagte er. Ich schwieg. Dann fragte er, ob ich bereit sei. Hilf mir, sagte ich, ich bin noch Jungfrau. Was hätte ich sonst sagen sollen? Meine Lippen seien wunderschön, meinte er. Küss mich! Küss mich hierhin. Ich tat es, ohne ein Wort zu sagen. Damit hatte ich etwas Unerlaubtes getan, obwohl ich meine Unschuld noch bewahrt hatte.
Auf dem Heimweg sagte er, es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr verabredeten. Das traf mich völlig unerwartet. »Ich habe eine Frau, ich bin verheiratet.«
Ich entgegnete, dass ich Eltern hätte, die sich um mich sorgten. »Nicht nur du musst ein schlechtes Gewissen haben, sondern ich auch.«
Darum ginge es nicht, meinte er. »Jemand, der verheiratet ist, kann nicht auf halbem Weg stehen bleiben.«
Ich hatte verstanden. Obwohl ich sexuell noch ganz unerfahren war.
Am nächsten Tag war er verschwunden. Vielleicht zum Meer, vielleicht in den Urwald, an einen Ort, an dem die Investoren Geld damit machen, dass sie aus der Tiefe der Erde Öl heraufpumpen. Vielleicht war er auf die Bohrinsel gefahren, die ich einmal besucht hatte. An den Ort, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen hatten, wo uns das Meer das Gefühl gab, es würde uns verschlingen, und die Sterne am Nachthimmel aussahen, als wollten sie einen in die Irre führen. So wie ich vergeblich herumirrte, um seine Spur zu finden. Knapp fünf Monate lang. Bis er mich plötzlich eines Tages wieder bei der Arbeit anrief.
Warum hast du mich denn nie angerufen, fragte er. Ich habs versucht, aber ich habe deine Spur verloren, antwortete ich. Ich bin noch hier, hörte ich ihn sagen. Mein Herz schlug schneller, ich wusste nicht warum. Vielleicht, weil er in Jakarta war.
»Können wir uns treffen?«, fragte ich vorsichtig. »Zum Mittagessen?«
»Und was machen wir nach dem Mittagessen?«
»Danach … dann ist es schon Nachmittag.«
»Wie wäre es, wenn wir zusammen Abendessen gingen?«
»Ist deine Frau verreist?«
»Woher weißt du das? Du hast bei mir zu Hause angerufen, oder?«
»Sihar, du hast mich bisher noch nie zum Abendessen eingeladen …«
Er schwieg. Ich auch.
Dann fragte er einmal, ob wir nicht am nächsten Morgen zusammen frühstücken könnten, wenn wir zu zweit zu Abend äßen. Ich wohne noch bei meinen Eltern, antwortete ich. Sie würden alle möglichen Fragen stellen, wenn ich nicht heimkäme. Obwohl du doch schon erwachsen bist und oft ausgehst, fragte er. Ja, sagte ich. Ich hörte, wie er am Telefon seufzte. »Und außerdem bist du ja noch Jungfrau.« An jenem Abend kam es zu keiner Verabredung. So ging es unzählige Male. Bis er eines Tages sagte, ruf mich nicht mehr an. Besser nicht. Warum, fragte ich. Ich bin verheiratet, kam die Antwort. Was heißt das, fragte ich.
»Meine Frau erhält oft Anrufe, aber sobald sie sich meldet, wird aufgelegt.«
»Nicht von mir«, log ich. »Jedenfalls nicht so oft. Vielleicht ist es jemand anderes?«
»Aber sie sagt, sie hätte einen Verdacht.«
»Du hast also ein schlechtes Gewissen. Dabei ist doch zwischen uns noch gar nichts passiert.«
Seitdem hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich war ständig versucht, ihn anzurufen. Ich wollte wissen, wie er sich fühlte, was er von mir dachte. Monate vergingen. Jedesmal, wenn das Telefon zu Hause oder im Büro klingelte, hoffte ich, er wäre es. Aber nachdem vier Monate vergangen waren, war mir klar: Er hatte sich zurückgezogen. Ich konnte mir nicht recht erklären, warum. Vielleicht wollte er die Gefühle seiner Frau schonen. Vielleicht auch seine. Einmal hatte er gesagt, die Verabredungen mit mir hinterließen bei ihm immer einen schmerzhaften Druck, denn er müsste etwas zurückhalten, was herausdrängte. Wahrscheinlich die Begierde. »Es ist einfach so, dass man, wenn man einmal verheiratet ist, auf Sex nicht verzichten kann.« Ich dachte, ich müsste wohl die Gefühle seiner Frau achten oder auch die seinen. Denn ich war ja nicht verheiratet und brauchte nicht unbedingt Sex. Doch wer hätte...




