E-Book, Deutsch, Band 2563, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Ursprung Architektur der Gegenwart
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-80701-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1970 bis heute
E-Book, Deutsch, Band 2563, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-80701-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. 2023 war er Co-Kurator für den Schweizer Pavillon der Architektur-Biennale in Venedig.
Autoren/Hrsg.
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I. Einführung: Von der Rezession zur Stararchitektur und zurück
In einer sonnigen Märzwoche fuhr ich mit meinen Studierenden nach Rom. Die Jahre der Corona-Pandemie lagen hinter uns, und wir durften wieder reisen. Für unsere Gruppe war es ein Genuss, aber die ewige Stadt ächzte unter dem erneut anschwellenden Tourismusstrom. Die zahllosen Ferienwohnungen treiben die Mieten hoch, die neuen Restaurants und Bars verdrängen die alten Geschäfte und Handwerksbetriebe, und das Leben in der Innenstadt ist für viele Alteingesessene unerschwinglich. Lorenzo Romito und Giulia Fiocca vom Architektur-Kollektiv Stalker führten uns durch ihre Stadt. Der Name des 1995 gegründeten Kollektivs ist Andrei Tarkowskis Film Stalker (1979) entlehnt. Vergleichbar dem Stalker, der seinen Gefährten den Weg durch eine mysteriöse, streng bewachte «Zone» weist, gestaltet das Kollektiv Wanderungen entlang der Peripherie von Rom und anderen Städten, gemäß dem Motto «gehen – oder besser, hindurchgehen». Stalkers Methode verbindet Architektur, Kunst, Performance, Architekturlehre und Aktivismus. Das Kollektiv greift gemeinsam mit meistens neu zugezogenen, oftmals randständigen Gruppen aktiv in Prozesse ein, um Freiräume zu schaffen und zu schützen. In Romitos Worten: «Hindurchgehen ist zugleich eine Praxis der Ästhetik, der Freiheit und der Aufmerksamkeit».
Wir machten einen großen Bogen um das von der Tourismusindustrie vereinnahmte Wahrzeichen von Rom, das Kolosseum. Lieber wollten wir die Steinbrüche besuchen, aus denen das Material für dieses Amphitheater aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammt. Anstatt für Eintrittskarten Schlange zu stehen, wanderten wir durch die Vorortsiedlungen zu den Tuffsteinbrüchen von Salone. Sie sind seit Jahrhunderten erschöpft, liegen teilweise unter Wasser oder sind von Bäumen überwachsen. Statt durch die Ruinen des Kolosseums zu gehen, suchten wir den Weg durch Dickicht, über Absperrgitter, vorbei an Felsportalen, Höhlen, tief abfallenden Senken. Abgesehen von ein paar Fischern und der Jugend der umliegenden Dörfer kommt niemand hierher.
Aus der Perspektive des abgebauten Baumaterials zeichnete sich das abwesende Amphitheater überraschend klar in unserer Vorstellung ab. Die Leerstelle schärfte unsere Aufmerksamkeit und beflügelte unsere Imagination. Wir stellten uns vor, wie das poröse, leichte und zugleich stabile Tuffgestein aus den erkaltenden Lavaströmen hervorging, die vom vulkanischen Ringgebirge der Albanischen Berge in die Ebene geflossen waren. Wir diskutierten, wie Vespasians Kriegsgefangene die Steine brachen und dann über den nahen Fluss Aniene zur Baustelle des Kolosseums schifften. Wir reflektierten die Rolle des Amphitheaters als Schauplatz von Kämpfen und der Inszenierung von Gewalt. Wir sprachen über das spätere Schicksal des Kolosseums, das, von Erdbeben beschädigt, jahrhundertelang seinerseits als Steinbruch für die Bauten in Rom diente und inzwischen von der Tourismusindustrie verwertet wird. Was wir zum Thema der antiken Architektur, des «Hypertourismus» und des Anthropozäns gelesen hatten, materialisierte sich vor unseren Augen und unter unseren Füßen. Erdgeschichte und Architekturgeschichte, Geschichte der Antike und die Auswirkungen der neofaschistischen Regierung auf den aktuellen Alltag in Rom, Vergangenheit und Gegenwart durchdrangen sich, und die Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem zerrann wie der bräunliche Sand in unseren Händen. Wir konnten gar nicht anders, als das Amphitheater als Teil eines geologischen Prozesses zu begreifen, als eine Fortsetzung der Erdkruste. Wir befanden uns quasi in einem Negativabdruck des Kolosseums.
Eingangspunkte
Wie kommt es, dass ich mein Buch über die Architektur der Gegenwart mit dem Kolosseum beginne? Die gemeinsame Erfahrung unserer Gruppe in den Tuffsteinbrüchen vor Rom dient mir als Eingangspunkt. Die Idee des Eingangspunkts verdanke ich der Kunsthistorikerin Irit Rogoff, mit der ich mich einmal über die Frage unterhielt, wie man sich historischen Phänomenen methodisch annähert. Ein Eingangspunkt bietet einen konkreten Zugang und überwindet die vermeintlich objektive Distanz. Es kann ein persönliches Erlebnis sein, ein historisches Ereignis oder die Konfrontation mit einem Gegenstand. Mein Gegenstand stammt zwar aus der Antike, aber unser Zugang war durch die unmittelbare Beobachtung im Hier und Jetzt verankert. Jedes Kapitel im Buch beginnt mit einem solchen Eingangspunkt, sei es das leere Fenster eines Architekturfragments der Robin Hood Gardens, meine erste Begegnung mit dem Centre Georges Pompidou, der Einzug der Familie Gehry in ihr neues Haus, der Fall der Berliner Mauer, die Erinnerung an einen Vortrag, das Abholen eines Schlüssels oder der Besuch eines Logistikzentrums. Viele dieser Eingangspunkte hängen, wie der Steinbruch, mit einer Leerstelle zusammen. Was nicht mehr oder noch nicht da ist, lässt, so scheint es, mehr Raum für die Reflexion als das, was vor einem steht.
Die Eingangspunkte bieten verschiedene Annäherungen und Zugänge zur Geschichte der Architektur seit 1970. Im Unterschied zu Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Historismus, Jugendstil, Reformarchitektur, Neues Bauen, International Style etc. lässt sich die Architektur seit den 1970er Jahren weder unter einem Epochenbegriff subsumieren noch als Abfolge von unterschiedlichen Baustilen darstellen. Begriffe wie «Postmoderne», «Nachmoderne» oder «Zweite Moderne» zeugen zwar vom Ringen um eine historische Kategorisierung, aber es gibt keinen Konsens darüber, was sie bedeuten. Der Literaturwissenschaftler Fredric Jameson diagnostizierte in den 1980er Jahren die Ablösung des zeitlichen Nacheinanders durch ein räumliches Nebeneinander und sprach von einer «Krise der Historizität». Der Architekturhistoriker Manfredo Tafuri sah die lineare Geschichte abgelöst durch eine «Geschichte mit einem Loch in der Mitte». «Jede Generation passt die Geschichte ihrem Geschmack an», schrieb die Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable. Wenn man davon ausgeht, dass so etwas wie «die» Moderne existierte, und sie als kulturelle Reflexion der Epoche der Industrialisierung vom ausgehenden 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert versteht, dann versiegt mit ihrem Ende auch die Periodisierung, der «Lebenssaft der Moderne», wie es der Philosoph Gary Shapiro nannte.
Ich beginne meine Geschichte der Architektur der Gegenwart um 1970, weil uns aus heutiger Perspektive jene Zeit nahesteht und etliche der damals virulenten Themen bis heute nicht gelöst oder überwunden sind. Viele wirtschaftliche Trends, die den Alltag noch immer bestimmen, namentlich die Deregulierung von Finanz- und Arbeitsmärkten, die Globalisierung der Wirtschaft, die Automatisierung und Digitalisierung der Industrien, aber auch die wachsende ökonomische Ungleichheit, setzten in jener Zeit ein. Das Buch Die Grenzen des Wachstums (zuerst Englisch, 1972) vermittelte die Erkenntnis, dass die Industrialisierung nicht nur Fortschritte gebracht hat, sondern das ökologische Gleichgewicht des Planeten gefährdet, und dass entsprechend auch die Architektur nicht losgelöst von der Umwelt gedacht werden kann. Edward Saids Buch Orientalismus (zuerst Englisch, 1978) zeigte auf, wie Kolonialherrschaft und Wissenssysteme zusammenhängen, und markierte den Beginn der postkolonialen Theorie. Angela Davis’ Buch Rassismus, Sexismus und Klassenkampf (zuerst Englisch, 1981) inspirierte die Diskussion über die engen Zusammenhänge von Autoritäts- und Herrschaftsformen, Ungleichheit und Ausbeutung in den gegenwärtigen Gesellschaften.
Mit der sexuellen Revolution und dem Feminismus änderten sich die tradierten Modelle der Familie und des individuellen Lebensentwurfs, was sich in neuen Formen des Wohnens, der Freizeitgestaltung und der Vorstellung von privatem, öffentlichem und kommunem Raum niederschlug. Auch im Hinblick auf die Berufsauffassung der Entwerfenden selbst gibt es Parallelen. Ein «verbindliches Berufsbild des Architekten, das als Leitbild für die Ausbildung dienen kann», lasse sich nicht mehr definieren, hieß es 1972 in einem Bericht der ETH Zürich. Einige heute tonangebende Architektinnen und Architekten, die damals am Beginn ihrer Laufbahn standen, waren ratlos. Jacques...