E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Urselmann / Georg Schreien und Rufen
2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021
ISBN: 978-3-456-95952-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Herausforderndes Vokalisationsverhalten bei Menschen mit Demenz
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-456-95952-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Pflegefachpersonen, Altenpflegende, Geriater*innen, Gerontopsychiatrische Fachpflegende.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Psychiatrische Pflege
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Altenpflege
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Fachpflege
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Alzheimer und Demenz
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis, Geleitwort und Prolog;7
2;Einleitung;17
3;Aufbau des Buches;20
4;1 Begriffserklärungen;21
4.1;1.1 Demenz;21
4.2;1.2 Störendes Verhalten – herausforderndes Verhalten;23
4.3;1.3 Schreien und Rufen;25
5;2 Am Anfang war der Schrei?;27
5.1;2.1 Die Bedeutungsebenen von Schreien und Rufen;29
5.2;2.2 Der herausfordernde Schrei oder Ruf;30
5.3;2.3 Warum schreien oder rufen Menschen mit Demenz?;32
5.3.1;2.3.1 Erklärungsansätze in der Literatur;33
5.3.2;2.3.2 Schrei- und Rufgru?nde aus der Praxis;36
5.4;2.4 Prävalenz und Inzidenz;40
5.5;2.5 Differenzierungen der Schrei- und Rufäußerungen in der Literatur;41
5.5.1;2.5.1 Schrei- und Rufdauer;41
5.5.2;2.5.2 Schreimuster, Lautstärke, Schreiintensität;42
5.6;2.6 Differenzierungen aus Sicht der Pflegenden;42
5.6.1;2.6.1 Grundloses Schreien gibt es nicht;42
5.6.2;2.6.2 Signale erkennen können;43
5.6.3;2.6.3 Schrei- und Rufverhalten;45
6;3 Einfluss nehmende Faktoren;49
6.1;3.1 Extrinsische Einflussfaktoren;49
6.1.1;3.1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen;50
6.1.2;3.1.2 «Raumnutzung»;50
6.1.3;3.1.3 Aspekt des «Zeitmangels» und der Personalbesetzung;58
6.1.4;3.1.4 Sich trotzdem Zeit nehmen;59
6.1.5;3.1.5 Die Mitbewohner;64
6.1.6;3.1.6 Reaktionen der Pflegenden im Gruppenraum;66
6.1.7;3.1.7 «Schreien steckt an»;68
6.2;3.2 Intrinsische Einflussfaktoren;73
6.2.1;3.2.1 Hohe Motivation – Engagement der Pflegenden;74
6.2.2;3.2.2 Fehlende Flexibilität der Mitarbeiter;75
7;4 Interventionsebene und Strategien der Pflegenden;79
7.1;4.1 Interventionsziele und Motiv;82
7.1.1;4.1.1 Pflegeziele Ruhe und Wohlbefinden;83
7.2;4.2 Interventionsgestaltung und Strategien der Pflegenden;85
7.2.1;4.2.1 Suche nach dem Schrei- oder Rufgrund;86
7.2.2;4.2.2 Klima des detektivischen Wissenwollens;89
7.2.3;4.2.3 Suche nach einem Schreimuster;91
7.2.4;4.2.4 Versuch und Irrtum;92
7.3;4.3 Emotionsfokussierte Interventionen;98
7.3.1;4.3.1 Interventionsbeispiel: reden und nachfragen;98
7.3.2;4.3.2 Interventionsbeispiel: sich einlassen (können, wollen);99
7.3.3;4.3.3 Interventionsbeispiel: Gemeinschaft erleben lassen;102
7.3.4;4.3.4 Interventionsbeispiel: Alltag (er)leben lassen;105
7.3.5;4.3.5 Interventionsbeispiel: ablenken und umlenken;112
7.3.6;4.3.6 Interventionsbeispiel: Anwalt sein;115
7.3.7;4.3.7 Interventionsbeispiel: Sitzordnung beeinflussen und/oder bestimmen;118
7.3.8;4.3.8 Interventionsbeispiel: das Wohnsetting anpassen;120
7.4;4.4 Körperlich-therapeutische Interventionsansätze;122
7.4.1;4.4.1 Interventionsbeispiel: «dru?cken» und «in den Arm nehmen»;122
7.4.2;4.4.2 Interventionsbeispiel: den Körper spu?ren lassen – «Basale Stimulation»;126
7.4.3;4.4.3 Interventionsbeispiel: Anwesenheit «geben»;129
7.4.4;4.4.4 Interventionsbeispiel: Bewegung – «spazieren gehen»;130
7.4.5;4.4.5 Interventionsbeispiel: Musik und Musiktherapie;131
7.5;4.5 Medizinisch-medikamentös orientierte Interventionsansätze;133
7.5.1;4.5.1 Bedarfsmedikation;136
7.5.2;4.5.2 «Stummes» Schreien erleben;137
7.5.3;4.5.3 Krankenhauseinweisung;140
7.6;4.6 Abwehrorientierte und «restriktive» Interventionsansätze;142
7.6.1;4.6.1 Interventionsbeispiel: «schreien oder rufen lassen»;144
7.6.2;4.6.2 Interventionsbeispiel: zuru?ckschreien;147
7.6.3;4.6.3 Interventionsbeispiel: «ins Zimmer bringen»;152
7.6.4;4.6.4 Fazit;157
8;5 Auswirkungen und Konsequenzen;161
8.1;5.1 Hilflosigkeit spu?ren;162
8.2;5.2 Aggressivität spu?ren;166
8.3;5.3 Unzufriedenheit spu?ren;167
8.4;5.4 Mitleid spu?ren;169
8.5;5.5 «Akzeptieren können» versus «ertragen und aushalten mu?ssen»;170
8.6;5.6 Einschränkungen bei der Interventionsgestaltung erleben;173
8.6.1;5.6.1 Tunnelblick haben?;174
8.6.2;5.6.2 Gewaltfantasien haben/«u?ber eigene Gedanken erschrecken»;177
8.6.3;5.6.3 Schutzschild aufbauen;182
8.6.4;5.6.4 Die Beziehung ändert sich (nicht);185
9;6 Bewältigungsstrategien;191
9.1;6.1 «Auszeit nehmen» – Arbeit an Kollegen abgeben;191
9.2;6.2 Insel haben;195
9.3;6.3 Fachlichkeit/Kompetenz der Pflegenden;196
9.4;6.4 Berufliche Eignung;201
9.5;6.5 Fazit;202
10;7 «Gegenspieler» und «Kompensatoren»;203
10.1;7.1 Reduzierter Stellenanteil;203
10.2;7.2 Energiequellen im Arbeitsumfeld haben;204
10.2.1;7.2.1 Belastungsmomente ansprechen und reflektieren;204
10.2.2;7.2.2 Erfahrung der Kollegen nutzen und reflektieren;204
10.3;7.3 Energiequellen durch seine Arbeitshaltung haben;206
10.3.1;7.3.1 Arbeit macht Spaß;207
10.3.2;7.3.2 Ausgeglichenheit spu?ren;208
10.3.3;7.3.3 Schreien als kreative Herausforderung sehen;210
10.4;7.4 Wu?nsche haben;211
10.5;7.5 Fazit;214
11;8 Erleben und Gestalten der Unerträglichkeit;215
11.1;8.1 Genese der Wahrnehmung von Unerträglichkeit;216
11.1.1;8.1.1 An Grenzen stoßen;218
11.1.2;8.1.2 «Schreien macht mir nichts»;223
11.2;8.2 Zerrissenheit spu?ren;227
11.3;8.3 Eine Erwartung entwickeln/haben;228
11.4;8.4 Aspekt der Unausweichlichkeit;232
11.5;8.5 «Irgendwann ist es einfach unerträglich»;234
11.6;8.6 Kumulation versus Energiequellen aktivieren (können);238
11.7;8.7 Anmerkungen zum Phasenverlauf bis zur Unerträglichkeit;238
11.8;8.8 Denkanstöße fu?r die Pflegepraxis;240
11.9;8.9 Beziehungsfeld zwischen Auslöser und Bewältigungserleben;241
11.10;8.10 Bewältigungserleben;245
11.11;8.11 Fazit;247
12;9 Zusammenfassende Gedanken;249
12.1;9.1 Ergebnisse zum herausfordernden Schrei oder Ruf;249
12.2;9.2 Ergebnisse zu Interventionsgestaltung und Strategien der Pflegenden;252
12.3;9.3 Fazit;256
13;10 Empfehlungen fu?r die Pflegepraxis;259
13.1;10.1 Empfehlung 1: in der Pflegeausbildung thematisieren;259
13.2;10.2 Empfehlung 2: in Fort- und Weiterbildungseinheiten thematisieren;260
13.3;10.3 Empfehlung 3: im Team austauschen;260
13.4;10.4 Empfehlung 4: (pflegewissenschaftliche) Fachbegleitung;262
13.5;10.5 Empfehlung 5: keine unerfu?llbaren Wu?nsche haben;262
13.6;10.6 Empfehlung 6: Segregation kontra Inklusion?;263
13.7;10.7 Empfehlung 7: Paternalismus vermeiden;264
13.8;10.8 Empfehlung 8: Recht auf Schreien oder Rufen einräumen!;264
13.9;10.9 Empfehlung 9: Schreien oder Rufen nicht als aggressives Verhalten werten;265
13.10;10.10 Empfehlung 10: Pflegende brauchen eine besondere Unterstu?tzung!;265
13.11;10.11 Empfehlung 11: Ruhe nicht «erkaufen» oder «erzwingen»;266
14;11 Schlusswort;267
15;12 Literaturverzeichnis;271
16;13 Schreien und Rufen als herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz;277
16.1;13.1 Definitionen und Differenzierung;277
16.2;13.2 Herausforderndes Verhalten im neuen Pflegebedu?rftigkeitsbegriff und der Pflegebegutachtung;279
16.3;13.3 Vorkommen herausfordernden Verhaltens in der Praxis;280
16.4;13.4 Ansätze zum Verständnis herausfordernden Verhaltens;282
16.4.1;13.4.1 Das Adaptation-Coping-Modell;282
16.4.2;13.4.2 Das Modell der unbefriedigten Bedu?rfnisse;282
16.4.3;13.4.3 Das Modell der niedrigeren Stress-Schwelle;284
16.4.4;13.4.4 Das Modell der Ursachen störender Vokalisationen (disruptive vocalizations);290
16.5;13.5 Herausforderndes Verhalten im Pflegeprozess;291
16.5.1;13.5.1 Pflegeassessment herausfordernden Verhaltens;293
16.5.2;13.5.2 Pflegediagnosen und herausforderndes Verhalten;297
16.5.3;13.5.3 Pflegeinterventionen bei herausforderndem Verhalten;305
16.5.4;13.5.4 Pflegeinterventionen zum Management u?bermäßiger Vokalisationen;312
16.6;13.6 Ausblick;320
16.7;Literatur;321
17;Literaturverzeichnisse (dt.);324
17.1;Das Dementia-Care-Programm des Verlages Hogrefe;324
17.2;Herausforderndes Verhalten – bei Menschen mit Demenz;329
18;Autorenverzeichnis, Nachruf auf Prof. Dr. Wilfried Schnepp, Sachwortverzeichnis;331
2 Am Anfang war der Schrei? An dieser Stelle wird die Darstellung des Ursprungs der Sprache in Verbindung mit der Bedeutung des Schreis kurz skizziert. Trabant (2008) schreibt, dass im 18. Jahrhundert der Schrei an den Anfang der menschlichen Sprache gestellt wurde, wonach Condillac die Sprache aus dem «cri des passions», dem Schrei der Leidenschaft entstehen ließ. Herder übersetzte diesen «cri des passions» als «Geschrei der Empfindungen». Demnach empfand der «Urmensch» ein Bedürfnis wie Hunger oder Durst, das er nicht unmittelbar und alleine befriedigen konnte, so dass er, begleitet durch eine Bewegung seines Körpers, einen Schrei ausstieß. Dieser Schrei wurde von den anderen Menschen wahrgenommen und in einem Akt des Mit-Leids kamen sie ihm zu Hilfe. Trabant (2008) bemerkt weiter, dass Rousseau diese Entstehung kritisierte, weil er an dem angeborenen Instinkt des Mit-Leids zweifelte. In seinem 1. Discours stellt Rousseau den Schrei ebenfalls als Ursprung der Sprache des Menschen dar: Le premier langage de l’homme [...] est le cri de la Nature. [...] Quand les idées des hommes commencérent à s’étendre et à se multiplier, et qu’il s’ établit entre eux une communication plus étroite, ils [...] exprimoient [...] les objets visibles et mobiles par des gestes, et ceux qui frappent l’ouye, par des sons imitatifs [...]; on s’avisa enfin de lui [au geste] substituer les articulations de la voix, qui, sans avoir le même rapport avec certaines idées, sont plus propres à les représenter toutes, comme signes institués; substitution qui ne put se faire que d’un commun consentement (I, 122; Herv. P.G.) Die erste Sprache des Menschen ist der Schrei der Natur. Als die Vorstellungen der Menschen sich zu erweitern und zu vermehren begannen und eine engere Kommunikation unter ihnen aufkam, drückten sie die sichtbaren und beweglichen Gegenstände durch Gebärden und diejenigen, die das Gehör wahrnimmt, durch nachahmende Laute aus: schließlich ließ man es sich einfallen, die Gebärde durch die Artikulation der Stimme zu ersetzen, die, ohne die gleiche Beziehung zu bestimmten Vorstellungen zu haben, geeigneter sind, sie als eingeführte Zeichen alle zu repräsentieren: eine Ersetzung, die nur mit allgemeiner Zustimmung geschehen konnte. (Übersetzung nach Geyer (2005) Trabant (2008: 50) bemerkt dazu, dass im 18. Jahrhundert Rousseau unter Sprache «im Wesentlichen ein kommunikatives soziales Verhalten, also etwas Gesellschaftliches» verstand, während Herder vor allem «Sprache als Erzeugung von Gedanken begriff». Weiter äußert Trabant in diesem Zusammenhang, dass im 18. Jahrhundert die Suche nach dem Sprachursprung nicht unter dem Gesetz der Biologie stand, sondern unter dem der Philosophie. Er bemerkt weiter (ebd.: 30): «Im 18. Jahrhundert geht, wie immer sich auch die Geschichten über den Ursprung der Sprache im Detail unterscheiden, Sprache aus dem Schrei hervor: Stille ? Schrei ? Interjektion ? artikulierte Sprache. Die Sprache ist ein Zähmen des Schreis durch Artikulation.» Trabant (2008) weist zudem darauf hin, dass damals die Philosophie die Religion infrage stellte und die philosophische Emanzipation besonders das Verhältnis zu Gott in den Vordergrund stellte und er betont, dass es auch heute um dieselbe Frage geht. «Nur daß Gott jetzt nicht mehr Gott, sondern ‹die Evolution› heißt.» (Trabant, 2008: 51). Schnell (2005: 37) schlägt bei dem Thema Sprache den Bogen zur Pflege, wenn er die These formuliert: «Dass das Zur-Sprache-Kommen der Pflege damit zusammenhängt, dass die Pflege sich als ein Ort konstituiert hat oder noch dabei ist, sich als ein Ort zu konstituieren, an dem auf das artikulierte Befinden eines Menschen eingegangen werden kann und in Zukunft noch besser eingegangen werden könnte. Eingehen bedeutet: sich dem anderen Menschen zuzuwenden, kommunikativ, ethisch, alltagspraktisch.» Schnell spricht von artikuliertem Befinden eines Menschen und fasst so den Schrei eines Menschen mit Demenz ein. Die Bedeutung der artikulierten Bedürfnisse wird dem Menschen mit Demenz nicht abgesprochen, sondern deutlich unterstrichen. Abt-Zegelin und Schnell (2005: 13) betonen, dass auch Menschen mit Demenz als Gesprächsteilnehmer gelten, wobei die Kommunikation besonderen Bedingungen unterliegt. Sie sagen: «Während kleine Kinder sich in der Phase der Vorsprache hinsichtlich der Artikulation, Bedeutung und Regelhaftigkeit befinden, treten Menschen mit Demenz allmählich in eine Phase nach der Sprache ein, die nicht auf vollen Spracherwerb aus ist, sondern gerade den Abschied von ihm bedeutet.» Sachweh (2008: 135) weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin: «wenn demenziell erkrankte Menschen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium in die Welt ihrer Kindheit regrediert sind oder von sich aus keinen Kontakt mehr zu uns aufnehmen [können], heißt das nicht, dass sie nicht mehr kommunizieren wollen und dass wir sie deshalb ignorieren können». 2.1 Die Bedeutungsebenen von Schreien und Rufen Schreien und Rufen eines Menschen hat immer eine Bedeutung, weil die Schreie oder Rufe absichtsvoll und zielgerichtet sind und weil sie zum Beispiel Ausdruck von Emotionen sein können. Schreien besitzt sehr vielschichtige, komplexe und ineinandergreifende Ebenen. Wichtig ist jedoch, dass jeder Schrei und jeder Ruf nicht isoliert betrachtet wird, sondern der räumliche und gesellschaftliche Kontext sowie die soziale Lebenswelt der Menschen immer und umfassend Berücksichtigung finden. Die Schreie und die Rufe, die stets eine individuelle Färbung einer Person tragen, sind mehr als unartikulierte und laut ausgestoßene Laute, wie der Duden (1997) es kurz zusammenfasst. Es geht um viel mehr als allein um die Intention der Schreienden oder Rufenden, die den Informationsgehalt ihrer Nachricht auch in weiter Entfernung gehört wissen wollen (Urselmann, 2004). Buchholz et al. (1983) greifen diese Zusammenhänge auf und fragen provokativ: «Wer schreit denn noch?» Sie stellen diese Frage mit einem Blick auf die «Disziplin der Selbstbeherrschung», die alle Menschen in ihren Sozialisierungsphasen erlernt haben. «Nimm-dich-zusammen», «Schreie nicht so rum», «Verliere nicht die Fassung», «Wer schreit, hat unrecht» sind nur einige plakative Postulate, die unseren Erziehungsprozess begleiten. Es ist eine zu erlernende Disziplin, sich zu beherrschen, sich anzupassen und nicht aufzufallen. Es gibt keine Gesellschaft, in der Schreien oder Rufen die «normale» verbale Kommunikationsebene darstellt. Das muss gelernt werden. Gelernt wird allerdings auch, dass es Ausnahmen gibt. Ein Beispiel ist der Schrei, der ein Bild der Macht und Machtlosigkeit widerspiegeln kann und einzelne Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie betont. Gemeint ist die Situation, in der es einem Vorgesetzten durchaus erlaubt sein kann, den Untergebenen mit pseudojovialen Gesten, wie auf die Schulter klopfen, zu begegnen oder ihn in Konfliktsituationen anzuschreien (Urselmann, 2004). Schreie und Rufe können zur Macht in der Statushierarchie transzendieren, wie Buchholz et al. (1983: 8) an einem anderen Beispiel deutlich machen: «… beschwert man sich bei seiner türkischen Schneiderin darüber, daß sie einen wertvollen Stoff zerschnitten hat, und brüllt sie laut zurück, so wird eine Dimension ihrer Macht spürbar, der wir – die wir den Schrei zu unterdrücken gelernt haben – uns nicht gewachsen fühlen». Searl (1983: 33) sieht den Schrei bei Säuglingen sogar als «... einzige machtvolle Waffe in jeder Situation des inneren oder äußeren Unbehagens oder der Gefahr». Er sagt weiter: «Die früheste menschliche Reaktion auf Gefahr ist nicht Flucht, sondern ein Schrei.» Säuglinge können nicht nur schreien, sondern sie müssen schreien. Für sie steht der Schrei am Anfang der menschlichen Kommunikation. Diese Schreie müssen gehört und verstanden werden, weil indem «die Mutter die jeweils schreiend artikulierte Not oder Wut des Babies versteht, verleiht sie dem Schrei einen zunehmend differenzierten Bedeutungsgehalt, der in subtile Ausdrucksformen befriedigend und befriedend übergeht» (Buchholz et al., 1983: 9). Der Säugling kann und muss auf Verständnis und Toleranz der Eltern bauen, weil sein Schrei gehört, befriedigt und befriedet werden muss. Aber auch erwachsene Menschen können mit ihren Schreien oder Rufen durchaus auf Toleranz hoffen. Ein Beispiel ist der körperliche Schmerzschrei oder der kollektive Schrei bei einem Tor eines Fußballspiels. Bis zu einer bestimmten, situativ und kontextuell festgelegten Grenze werden Schreie gesellschaftlich toleriert (Urselmann, 2004). An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, wie auf die Schreie und Rufe reagiert wird, die auf den ersten Blick völlig sinnlos erscheinen und für die es offenbar keinen Grund gibt. Gemeint ist der Schrei der «Verrückten», deren Geschrei zum bestätigenden Zeichen ihrer «Geistesgestörtheit» wird. Dieses Geschrei wird nicht verstanden, es stört, und diesem Schreien oder Rufen will man sich entziehen. Hierbei wird oft vergessen, dass diese Menschen aufgrund ihrer Erkrankung vielfach in einer anderen, nicht leicht zugänglichen Welt leben. Es ist eine Welt, die verrückt ist, verrückt im Sinne von verschoben und nicht leicht erreichbar. Erst wenn es gelingt, Eingang in diese Welt zu finden, erscheinen diese Schreie nicht mehr sinnlos. Den Schrei gilt es also aus seiner ordnenden Alltäglichkeit zu lösen und er gehört nicht an das Ende der verbalen Kommunikation, sondern kann auch den Anfang bilden (Urselmann, 2004). Steppe (1983: 130) sagt in diesem Zusammenhang, als sie zwei Erlebnisse aus ihrer Pflegearbeit im Krankenhaus schildert: «Das Schreien hat weniger Lärm verursacht als viele leise...