E-Book, Deutsch, 508 Seiten
Unger Die treue Freundin
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7325-9447-4
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 508 Seiten
ISBN: 978-3-7325-9447-4
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Als Zwölfjährige entkam Rain Winter nur knapp einem grausamen Entführer, der danach selbst Opfer eines kaltblütigen Mordes wurde. Viele Jahre später - Rain arbeitet inzwischen als Journalistin - stößt sie auf einen rätselhaften Fall, der auffällige Parallelen zu dem Mord an ihrem Entführer aufweist. Am Tatort hinterließ der Mörder ein rotes Kristallherz, das Rain allzu bekannt vorkommt - und auf einmal ist das dunkelste Kapitel ihrer Kindheit wieder beängstigend nah ...
Lisa Unger ist eine amerikanische Bestsellerautorin, deren Romane in ihrem Heimatland vielfach begeistert besprochen wurden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.
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Gestern Nacht
Ich warte, weil ich nichts habe außer Zeit. Vom ruhigen, dunklen Innenraum meines Autos aus beobachte ich die ruhige Nachbarschaft, drücke mich tiefer ins Polster. Herbst. Laub segelt durch die kühle Luft. Geschmacklose, gruselige Halloween-Dekorationen schmücken die Veranden und Rasenflächen, hängen von Bäumen – Skelette und Kürbislaternen, Hexen auf Besenstielen. Morgen ist Schule, also spielen keine Kinder Fangen mit Taschenlampen, kein spontanes Fußballmatch auf der Straße. Vielleicht machen Kinder das auch gar nicht mehr. Habe ich jedenfalls gehört. Sie sind jetzt alle iPad-abhängige Stubenhocker. Das ist die »neue Grenze« der Erziehung. Aber das wirst du besser wissen, als ich es vermutlich je tun werde. In dieser Straße leben jüngere Familien. SUVs wurden eilig abgestellt, Basketball-Netze hängen in den Auffahrten, Fahrräder wurden auf den Rasen geworfen. Mittwochs warten die Wertstoff-Tonnen geduldig am Straßenrand, der Restmüll wird am Freitag abgeholt. Heute läuft ein Footballspiel. Ich kann es parallel auf drei Großbildfernsehern in drei verschiedenen einsehbaren Wohnzimmern verfolgen. Doch das Haus, das ich beobachte, liegt im Dunkeln. Ein schöner silberfarbener Benz, der bald zwangsversteigert werden wird, steht in der Einfahrt. Es ist eins von diesen Autos – ein Traumwagen, ein Wagen für Aufsteiger, den man sich anschafft, wenn … Aber er hat seinem Besitzer ganz sicher kein Glück gebracht. Der Typ, den ich beobachte – er ist deprimiert. Ich erkenne es an seiner gebeugten Haltung, wenn er das Haus betritt oder verlässt, an den dunklen Ringen unter seinen Augen, dem gehetzten Blick. Ich kann kein Mitgefühl für ihn aufbringen. Und ich weiß, dass auch du keine Träne um ihn vergießt. Ich würde wetten, dass du fast so häufig an ihn gedacht hast wie ich – obwohl du jetzt natürlich anderes im Kopf hast. Ein älterer Mann führt seinen Hund spazieren, eine weiße Flauschkugel an einer dünnen Leine. Eigentlich überhaupt kein Hund, eher ein übergroßes Meerschweinchen. Ich lasse mich etwas tiefer in den Sitz sinken und bleibe reglos wie ein Stein. Den Mann habe ich in dieser Straße noch nie gesehen, und ich verbringe schon seit einer ganzen Weile die meisten Abende und Nächte hier. Er ist von seiner Routine abgewichen, hat vermutlich beschlossen, heute mal einen anderen Weg zu nehmen. Allzu große Sorgen mache ich mir aber nicht. Mein beiger Toyota Corolla ist absolut unauffällig, praktisch unsichtbar, so verbreitet ist das Modell, und die Fenster sind getönt (aber nicht zu dunkel). Solange er mich nicht sieht, eine einsame Gestalt auf dem Fahrersitz, die offensichtlich nichts Gutes im Schilde führt, wird der Wagen ihm überhaupt nicht auffallen. Ich habe Glück. Er starrt auf das Display seines Handys. Er ist schon älter, nicht damit aufgewachsen, es erfordert also seine ganze Konzentration. Dieses Gerät ist wirklich das Beste, was Leuten passieren konnte, die unsichtbar bleiben wollen. Er geht direkt an mir vorbei, ohne auf das Auto, mich oder überhaupt auf seine Umgebung zu achten. Sogar der Hund ist abgelenkt, nicht neugierig, hat die Nase dicht am Boden. Schnüffel, schnüffel, schnüffel. Endlich sind sie weg, und ich bin wieder allein. Die Zeit vergeht. Ich atme in die Nacht. Hinter einem Fenster nach dem anderen wird es dunkel, nur ein paar wenige Lampen brennen noch. In Nummer 704 wohnt ein Schlafloser und in Nummer 708 eine Krankenschwester, die mittwochs und freitags gegen drei Uhr nachts nach Hause kommt. Kurz nach zwei steige ich aus, schließe leise die Autotür und schultere meinen Rucksack. Ich bin ein Schatten, der durch die Schatten der Bäume gleitet und lautlos zum Haus huscht. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, das Schloss am Seiteneingang aufzubrechen – heutzutage kann jeder auf YouTube lernen, wie alles Mögliche geht. Ich betrete das Haus durch die unverschlossene Innentür. Aus der Garage in die Waschküche. Aus der Waschküche in die Küche – ein typischer Grundriss in den Vororten. Ich verharre einen Moment und lausche. Ich habe sie immer noch im Ohr, weißt du, die Schreie ihres Vaters. Ich würde wetten, dass es dir ebenso geht. Vielleicht hörst du in ruhigen Momenten, wenn du nachts im Bett liegst, wieder sein verzweifeltes Wehklagen. Ich stelle mir vor, wie deine Gedanken in den Gerichtssaal zurückschweifen. Dein Gesicht war angespannt, diese hilflose Mischung aus Wut und Trauer, die Nasenflügel bebten ganz leicht. Ich war auch da, obwohl du mich nicht bemerkt hast. Oder vielleicht doch. Manchmal frage ich mich, ob du weißt, wie nahe ich dir bin. Ob du mich spüren kannst. Als das Urteil verkündet wurde, gab es diesen Moment, weißt du noch? Eine winzige Zeitspanne, in der die Information durch die Synapsen und Neuronen lief, einen Herzschlag lang, einen Atemzug. Ich sah, wie das bisschen Energie und Farbe, das ihr geblieben war, aus dem ausgemergelten Körper ihrer Mutter wich. Ich sah, wie ihr Vater zusammensackte, wie ihr Bruder das Gesicht in den Händen vergrub. Das gnadenlose Licht im Gerichtssaal, dieses hässliche weiße Sirren, wurde irgendwie noch greller. Und dann brach ein Tumult aus, Ausrufe und Schreie mit allen Nuancen von Verzweiflung, Ungläubigkeit, Wut. Ich hatte schon früher Ungerechtigkeit erlebt, wie du auch. Du kennst es, wenn sie wie Rauch aus den schwarzen Höhlen zwischen Tischen und Stühlen aufsteigt. Sie erhebt sich, groß und bedrohlich. Ich war schon immer da, scheint sie zu sagen, während sie über dir aufragt, riesenhaft, siegreich. Es bringt einen auf die Knie. In der Gegenwart von nichts sonst fühlt man sich kleiner oder machtloser. Wenn wir jung sind, sind wir naiv genug, an Gerechtigkeit zu glauben. Wir werden dazu erzogen, an ein Ideal wie aus dem Comic-Heft zu glauben, in dem das Gute das Böse besiegt. Wir glauben, dass weiße Magie stärker ist als schwarze. Dass Verbrecher ihre Strafe erhalten und die Justiz stets gerechte Urteile fällt. Selbst wenn es scheint, als würde das Böse triumphieren – nein. Im letzten Moment sorgt eine kosmische Kraft auf die eine oder andere Art für den Sieg des Guten. Das wollen wir so gern glauben. Aber so ist es nicht immer. Manchmal braucht es einen kleinen Schubs, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Ich mache einen schnellen Rundgang durch das Haus, um sicherzustellen, dass alles so ist wie beim letzten Mal, als ich hier war. Die Einrichtung ist von Target, IKEA-Chic, weiß und taubengrau, markante Muster setzen Akzente. Es gibt eine Menge dieser Fotocollagen mit Wörtern wie LIEBE und TRAUM und FAMILIE. Ihre Eltern, lächelnd und wohlwollend, ihre Hochzeitsfotos – ein hauchdünner Schleier, ein Märchentraum –, eine Schar Nichten und Neffen mit Zahnlücken, ein Mädelsabend, Anstoßen mit rosa Drinks in Martini-Gläsern. Drei Kissen und weiche Wolldecken, Schnickschnack, dekorative Treibholz-Stücke, kunstvoll arrangiert. Sie war stolz auf ihr Heim, die Frau, die hier mal gelebt hat. Sie mochte es, wenn alles schön und gemütlich war. Jetzt ist alles von einer Staubschicht bedeckt. Ihr Zuhause riecht wie eine Müllkippe. Als ich meinen Rundgang beende, verspüre ich einen Anflug von Traurigkeit ihretwegen. Sie war eine Frau, die alles richtig gemacht hatte. Sie befolgte alle Regeln, ging aufs College, bekam eine Stelle im Public-Relations-Bereich, heiratete, wurde schwanger. Hübsch war sie, und, allen Berichten zufolge, reizend und freundlich. Und siehe da. Ihr entzückendes Zuhause, ihre kleinen Träume, ihr unschuldiges Leben – alles leer, verrottend. Sie hätte etwas Besseres verdient. Daran kann ich nichts ändern. Aber das hier ist das Zweitbeste. Ich weiß, was du denkst. Was jeder denken würde. Wer bin ich, dass ich sagen könnte, ein Mann, der von zwölf Geschworenen für unschuldig befunden wurde, ist eindeutig schuldig? Und selbst wenn er schuldig ist, wer bin ich, dass ich der Vollstrecker seiner gerechten Strafe sein könnte? Es ist wahr. Ich bin niemand. Aber ich wusste es. Als Laney Markham als vermisst gemeldet wurde, hatte ich sofort ihren ach-so-gut-aussehenden Mann im Verdacht. Denn machen wir uns nichts vor: Dass ein Verbrechen von einem Fremdtäter begangen wird, ist eine statistische Anomalie. (Wir hätten beide ein, zwei Dinge zu dem Thema beizusteuern, nicht wahr? Aber statistisch gesehen stimmt es, da wirst du mir sicher beipflichten.) Die Vorstellung des Anderen, des Fremden, des Zerstörers, der in unser Haus eindringt, unsere Familie ermordet oder ein Kind entführt? So was kommt vor. Aber bei Weitem nicht so oft, wie ein Mann seine Frau umbringt. Oder ein Vater seine Tochter vergewaltigt. Ein Onkel seine Nichte sexuell belästigt. Solche Dinge schaffen es nicht immer in die Nachrichten. Warum? Weil es nichts Neues ist. Es ist die alltägliche Horrorshow des ganz normalen Lebens. Also das war zum einen die »Es ist immer der Ehemann«-Schiene. Doch was es in meinen Augen besiegelte, waren seine Auftritte in den Morgenmagazinen der landesweiten Sender. Er machte die Runde, vorgeblich, um den Entführer anzuflehen, ihm seine schöne Laney unversehrt zurückzugeben. Hochgewachsen, attraktiv wie ein Filmstar – er war ein Naturtalent. Und die Moderatoren dieser Sendungen konnten gar nicht genug davon kriegen. Und Laney? Ebenfalls eine Schönheit. Eine von diesen jungen Frauen, die schwanger zum Anbeißen aussehen – sogar noch hübscher mit ihrem kleinen Babybauch, der glatten, rosigen Haut und dem seidigen Haar, das durch die Hormone voll und glänzend wirkt. Wenn das Ehepaar Markham...