E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Ulrich Quattro Stagioni
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92069-6
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Jahr in Rom
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-548-92069-6
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Ulrich wurde 1963 in Starnberg geboren. Im August 2005 zog er mit seiner Frau Annette und den Kindern Franziska (acht Jahre) und Julius (sechs Jahre) von München nach Rom um. Von dort berichtet er als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung über Rom, Italien und den Vatikan.
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Eins
Wir wussten, es würde heiß werden, und es wurde heiß. Ab dem Brenner stieg die Temperaturanzeige im Auto unaufhaltsam, vor Bozen waren es 28 Grad, bei Modena sind es bereits 39. Die Poebene verschwimmt vor unseren Augen zu einem klebrigen Milchbrei. Beim Zwischenstopp an der großen Agip-Tankstelle hinter Bologna umhüllt uns die schwüle Luft, als ob sie uns ersticken will, langsam zwar, aber unerbittlich.
»C’è tanta afa«, sagt der Tankwart mit einem mitleidigen Blick auf unsere erhitzten Gesichter. »Es ist furchtbar schwül.«
»Vielleicht hätten wir nicht gerade am ersten August umziehen müssen«, sagt Antonia, während wir in die Raststätte wanken. »Wir könnten jetzt auch am Starnberger See liegen.«
»Jetzt nur keinen Defätismus«, murmele ich, wenig überzeugend.
Ich denke an das graublaue, kühle Wasser des Sees, an das flauschige Grün der Roseninsel, das sich beim Hinausschwimmen vom Ufer löst, an den Blick auf Schloss Ammerland und den breiten Rücken der Benediktenwand. Und ich denke – es sei gestanden – an ein eiskaltes Weißbier. Bye-bye Chianti. Dann gebe ich mir einen Ruck. Schließlich kann man nicht alles haben.
»Warte, bis du unsere Wohnung in Rom siehst«, sage ich mit aufgesetzter Munterkeit. »Heute Abend sitzen wir bei einem Glas Rotwein auf unserer Terrasse und lauschen den Zikaden.«
Seit ich denken kann, mag ich solche romantischen Italien-Klischees. Doch hier, an diesem bleiernen Augustnachmittag auf dem benzinschwangeren Parkplatz der Tankstelle, fällt es mir schwer, mich richtig zu begeistern. Die bistecca alla fiorentina und der Rucola-Salat heben jedoch meine Laune. In Italien isst man sogar in Autobahnraststätten gut. Eine schlechte Küche könnte sich einfach nicht halten. Wir bestellen Cappuccino nach dem Essen, ein Sakrileg. Non si fa, das macht man nicht in diesem Land, warum auch immer. Italiener trinken stattdessen einen caffè, einen Espresso, und zwar erst nach dem dolce, der Süßspeise, und keineswegs dazu. Basta!
Wir wissen das wohl, doch was schert es uns? Noch sind wir nicht angekommen, noch sind wir nur Reisende in Richtung Rom.
Bologna, Firenze, das kleine, verschachtelte Dorf Orte auf seinem Tuffsteinfelsen, Roma Nord. Wir schwenken ein in den sogenannten »GRA«, die große Ringstraße rund um die Hauptstadt. Die Sonne klebt inzwischen wie ein orangeroter Medizinball eine Handbreit über dem Horizont. Es hat noch immer 36 Grad. Ich freue mich auf eine kühle Wohnung, eine kalte Dusche, unser neues Zuhause. Das Handy klingelt.
»Wo seid ihr gerade?«, fragt Klaus, der Freund und Kollege von meiner Zeitung in München, die mich für die nächsten Jahre als Korrespondent nach Rom geschickt hat.
»Fast am Ziel«, antworte ich. »Wir sehen schon die Stadt. Jetzt sind es vielleicht noch zwanzig Minuten.«
»Na dann, viel Glück«, sagt Klaus. »Und denkt immer daran, wie gut ihr es habt. Leben in Rom!«
»Habt ihr’s gut«, das haben wir in den vergangenen Wochen unzählige Male gehört, von Kollegen und Freunden in München, von Eltern und Geschwistern, den Kindergärtnerinnen unseres Sohnes Nicolas und der Klassenlehrerin unserer Tochter Bernadette.
»Rom, das ist doch ein Traum«, meinten sie alle und ich gab ihnen recht.
Am Abend vor der Abfahrt waren wir noch einmal mit unseren Nachbarn in einem Restaurant in München essen, in einer italienischen Trattoria versteht sich. Wir saßen im Wirtsgarten, es war ein herrlich milder Abend.
»So werdet ihr es demnächst immer haben«, meinte die Nachbarin. »Wie wir euch beneiden.«
Wir merkten nicht, wie sich hinter den Bäumen im Westen schwarze Wolken ballten. Auf einmal, der vitello tonnato kam gerade auf den Tisch, fegte eine Windböe durch den Garten, riss an den Decken, griff in die Sonnenschirme. Gleich darauf knallte der erste Donnerschlag, Hagelkörner prasselten herab, Gäste und Kellner flüchteten ins Haus. Ein dramatischer Abschied – ein böses Omen? Zum Glück sind wir nicht abergläubisch.
Wir verbrachten die letzte Nacht in unserem ausgeräumten Haus auf einem Lager aus Isomatten.
»Geht so Zelten?«, fragte Nicolas, der mit seinen fünf Jahren noch nie auf dem Boden geschlafen hatte.
»Bist du dumm«, sagte die zweidreiviertel Jahre ältere Bernadette. »Zelten tut man draußen.«
»Aber draußen regnet es doch, du Kuh«, krähte Nicolas.
Die beiden begannen sich sofort zu balgen. Wir waren alle aufgeregt, halb freudig, halb beklommen. Am nächsten Tag würden wir die Kinder für eine Woche zu meinen Eltern nach Tutzing am Starnberger See bringen, während wir in Ruhe die Wohnung in Rom einrichten wollten.
Ich schlief schlecht in jener Nacht. Unruhige Träume mischten sich mit Erinnerungen. Unscharfe Bilder mit blassen Farben, wie in einem alten Super-8-Film. Santa Margherita Ligure, 1969. Das erste Mal am Meer, kurz vor der Einschulung. Im Traum sah ich wieder die bunten Schirme, spürte den heißen Sand zwischen den Zehen, hörte das Schwapp, Schwapp der kleinen, auslaufenden Wellen. Draußen, bei dem dunklen Felsen im Meer, tauchte ab und an eine gelbe Taucherbrille mit dem Kopf meines Vaters auf, ein Wasserstrahl spritzte aus dem Schnorchel. Mein Vater verbrachte jenen Urlaub fast ausschließlich unter Wasser. Immer wenn er mit einem Seestern, einer Muschel oder einem lila Seeigel mit weißen Stachelspitzen an Land kam, schickte ich ihn energisch wieder los.
»Los, fang mir noch einen Kraken«, schrie ich. Schließlich hatte der dicke Italiener unter dem Nachbarschirm seinen Kindern auch so ein unheimliches Tier mit Fangarmen voller Saugnäpfe aus dem Meer getaucht. Das konnten wir unmöglich auf uns sitzen lassen. Mittags gingen wir dann immer zu Alfonso, der in seinem winzigen Strandlokal kleine Fische und calamari frittierte. Alfonso wunderte sich, wie viel ich mit meinen sechs Jahren davon verputzen konnte.
»Mangia bene il bambino«, sagte er anerkennend zu meinem Vater. »Der Junge isst aber gut.« Es wurden meine ersten italienischen Wörter.
Das war Santa Margherita, nichts Besonderes, ein ganz normaler Strandurlaub, aber er hat sich damals in meinen Jungenkopf eingebrannt wie Musik auf eine CD. Der Traum vom Süden.
Wieder watete mein Vater an Land, sein nasses Gesicht strahlte. In der Hand hielt er einen riesigen Kraken. Er wollte etwas rufen, doch dann begann das Bild plötzlich abzutauchen und eine Schiffssirene läutete. Nein, es war der Wecker. Sechs Uhr früh und wir vier sprangen sofort hellwach von unseren Isomatten hoch. Nun ging es los – unser römisches Abenteuer. Als wir zwei Stunden später die Kinder bei meinen Eltern abgaben, sagte meine Mutter zum Abschied: »Und grüßt mir Italien. Habt ihr’s gut!«
Wir verlassen den GRA und nehmen die Via Aurelia Richtung Città del Vaticano, also Richtung Innenstadt. Es ist Montagabend und es herrscht erstaunlich wenig Verkehr. Wo sind die Römer? Weg, am Meer. Von früheren Italien-Reisen weiß ich: Man bleibt nicht im August in Rom, non si fa. Die Stadt gehört in dieser Zeit den Katzen, den sandalierten Touristen und den Hausangestellten. Die bewachen nämlich die großen, ziegelroten und melonengelben Palazzi, die Mehrfamilienhäuser, während die Herrschaft im Urlaub ist. Früher waren all die Pförtner, Hausmeister und Dienstmädchen Italiener, heute kommen sie oft von den Philippinen. Sie sind fleißig und zuverlässig und haben, was die Römer sehr schätzen, scheinbar kaum eigene Bedürfnisse. Oft hausen diese Philippiner das ganze Jahr über in winzigen Pförtnerwohnungen seitlich des Eingangs zum Palazzo oder in einem Kämmerchen neben den Küchen der Wohnungen. Freundlich, leise und nahezu unsichtbar verrichten sie ihre Arbeit wie Geisterwesen. Jetzt, im August, aber leben sie auf, verabreden sich in den ferienverwaisten Wohnungen, streifen plaudernd in Grüppchen durch die Häuser oder sitzen im Schatten der Pinien in den römischen Parks beisammen.
Unser Palazzo liegt in Prati, einem Stadtviertel am rechten Tiberufer unweit des Vatikans, das nach der italienischen Einigung 1870 mit klassizistischen, gutbürgerlichen Mehrfamilienhäusern entlang schachbrettartig angelegter Straßen bebaut wurde. Ich hatte das große, sechs Stockwerke hohe Haus, in das wir nun einziehen sollten, nur flüchtig besichtigt. Ein Bekannter hatte mir im Frühjahr von der frei werdenden Wohnung im dritten Stock erzählt. Daraufhin flog ich sofort von München nach Rom, denn es ist nicht leicht, in einer besseren Gegend, noch dazu in zentraler Lage, eine Unterkunft zu finden. An jenem Tag regnete es in Rom, die riesige, dunkle Wohnung mit ihren langen Gängen und vielen Türen stand voller Umzugskisten, die Möbelpacker gingen ein und aus. Ein Blick in die Zimmer, ein Blick auf die Balkone, ein kurzes Gespräch mit dem Besitzer, einem gewissen Signor Cornetti, und ich unterschrieb den Mietvertrag, froh, so rasch eine Wohnung gefunden zu haben.
»Jetzt bin ich aber wirklich gespannt auf die Wohnung«, sagt Antonia, während wir im letzten Abendlicht die breite Wohnstraße entlangfahren.
»Ich auch. Ich habe sie ja damals gar nicht richtig gesehen. Doch ich bin sicher, sie wird dir gefallen.«
Wir finden rasch einen Parkplatz, schließlich ist es August, und stehen kurz darauf vor einem hohen Portal aus poliertem Holz. Suchend blicken wir auf die Klingelanlage aus blank geputztem Messing. Gut eineinhalb Dutzend Namen stehen darauf. Etwa die Hälfte der Nachnamen lautet auf Cornetti. Dann entdecke ich, ganz unten, die Aufschrift portinaio, Hausmeister. Ich drücke den...