E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Ulmer Solange wir uns haben
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1777-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1777-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrea Ulmer wurde 1985 geboren. Sie arbeitet als Lektorin und Autorin vorwiegend im Bereich der Phantastik. Ihre Romane erscheinen unter anderem bei Knaur und Klett-Cotta. 2015 erhielt sie den Deutschen Phantastikpreis in der Kategorie 'Bestes Sekundärwerk'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Heute würde sie es schaffen. Jessica Hanser bedachte ihr Auto mit einem Blick, den sie sich normalerweise für Leute aufsparte, die die Schrift Comic Sans für eine gute Wahl beim Flyerdesign hielten. Heute würde dieser ganze Spuk ein Ende haben. Da konnten die Ärzte noch so viel von einer Angsterkrankung faseln, ihr Medikamente verschreiben und sie an einen Therapeuten überweisen wollen. Sie war die Chefin über ihren Körper, und es gab keinen verdammten Grund dafür, dass ihre Hände jedes Mal anfingen zu zittern, sobald sie sich hinters Steuer setzte. Sie hatte einen wichtigen Job in einer hoch angesehenen Werbefirma, und sie hatte eine Tochter, um die sie sich kümmern musste. Sie hatte keine Zeit für diesen Blödsinn.
Mit entschlossenen Schritten ging Jessica auf den Wagen zu, der in der Einfahrt ihres kleinen Häuschens stand. Die Lichter des Autos blinkten einmal, wie zur Begrüßung, als Jessica das Schloss entriegelte. Sie riss die Fahrertür etwas heftiger auf, als nötig gewesen wäre, und ließ sich in den Sitz fallen.
Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, saß sie eine Weile einfach nur da. »Siehst du«, murmelte sie. »Nichts Besonderes. Nur das Auto. Ein stinknormales Auto.«
Nach einem tiefen Atemzug steckte sie den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Wagen an. Ihre Hände zitterten ein wenig, aber sie gab ihr Bestes, um das zu ignorieren. Sie war einfach ein wenig aufgeregt, das war alles. Immerhin hing viel davon ab, dass sie endlich wieder lernte, wie man Auto fuhr. Dreiecker war nicht gerade ein großes Dorf. Es hatte nur einen Bäcker, einen Metzger und einen Tante-Emma-Laden. Und die Werbeagentur, für die Jessica arbeitete, hatte ihren Sitz in Frankfurt. Seit der Panikattacke, die sie vor einer Woche beim Autofahren erlitten hatte, saß sie mehr oder weniger zu Hause fest. Das konnte nicht so weitergehen. Sie würde sich nicht ihr Leben von etwas ruinieren lassen, das rein in ihrem Kopf stattfand.
Entschlossen legte sie den Rückwärtsgang ein und setzte vorsichtig aus ihrer Einfahrt zurück.
Ausparken war nicht das Problem. Mit der Sicherheit jahrelanger Übung umfuhr sie das kleine Beet mit dem Baum rechts von ihrer Einfahrt. Am Rande nahm sie wahr, dass die Nachbarn gegenüber die Weihnachtsdekoration immer noch nicht abgenommen hatten, dabei war es bereits März. Und die verrückte Katzenfrau nebenan hatte vor ihrer Haustür etwas aufgebaut, das wie eine Hundehütte aussah. Dann war Jessica auf der Straße und gab Gas.
Sie kam vielleicht zehn Meter weit, bevor ihre Hände so stark zitterten, dass sie das Lenkrad kaum mehr halten konnte. Ihr Herz raste, sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu bekommen. Sie nahm den Fuß vom Gas und steuerte den Wagen schließlich an den Straßenrand.
»Verdammt!«
Jessica spürte Tränen in ihren Augenwinkeln und blinzelte sie wütend fort. Das konnte doch nicht wahr sein! Es war nichts passiert, rein gar nichts, was so eine Reaktion rechtfertigte. Sie hatte keinen Unfall gehabt. Ihr war nie etwas Schlimmes beim Autofahren zugestoßen. Natürlich war es ein wenig lästig, jeden Morgen eine Dreiviertelstunde zur Arbeit zu fahren, aber Herzrasen und zitternde Hände rechtfertigte das noch lange nicht. Dennoch hatte genau das sie vor einer Woche gezwungen, auf dem Weg nach Hause rechts ranzufahren und einen Notarzt zu rufen, weil sie dachte, sie hätte vielleicht einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall oder sonst irgendetwas Gefährliches erlitten.
Aber nein, wie sich herausgestellt hatte, drehte nur ihr Gehirn ein bisschen durch. »Angsterkrankung« hatte der Arzt es genannt. Wahrscheinlich stressbedingt. Hatte ihr Antidepressiva verschreiben wollen.
»Verräter!«
Jessicas Gehirn blieb von dieser Anschuldigung im Wesentlichen unbeeindruckt und sorgte weiter dafür, dass ihre Hände zitterten, als hätte sie gerade etwas Ernsthaftes erlitten wie einen Schock oder so. Manchmal wünschte sich Jessica fast, es wäre so. Wenn sie einen schrecklichen Unfall gehabt hätte, würde sie wenigstens nicht solche seltsamen Blicke ernten, jedes Mal wenn sie erklären musste, warum sie plötzlich nicht mehr Auto fahren konnte.
Jessica atmete mehrmals tief durch und setzte dann den Wagen zurück. Doch nun war sie so fahrig, dass sie mit dem Hinterreifen in dem kleinen Beet mit dem Baum landete. So hatte das keinen Zweck. Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Der Stoff ihrer Bluse klebte an ihrem Rücken, und sie verfluchte sich und die Welt und ihr blödes Gehirn, das einfach beschlossen hatte, zur falschen Zeit die falschen Botenstoffe auszuschütten.
Immerhin, das Auto stand jetzt wieder so, dass man noch dran vorbeikam. Vorausgesetzt, es kam kein Traktor, der auf die Felder am Ende der Straße wollte. Doch bei ihrem Glück würde genau das passieren. Sie musste dafür sorgen, dass das Auto von der Straße wegkam, und zwar schnell.
Jessica ging ins Haus zurück und die Treppe hoch. Schon auf halbem Weg hörte sie die Musik, die durch Miriams geschlossene Zimmertür dröhnte. Falls man das Musik nennen konnte. Als Jessica die Tür öffnete, schwappte die Geräuschkulisse wie eine Welle über ihr zusammen.
Miriam lag ausgestreckt auf dem Bett und spielte an ihrem Smartphone herum. Ihre Fingernägel hatten schon wieder eine neue Farbe. Nein, nicht einfach eine Farbe. Jessica konnte komplizierte Muster erkennen. Wenn Miriam die kreative Energie, die sie in ihre Fingernägel investierte, zumindest zur Hälfte auf Schulaufgaben verwenden würde, wäre sie wahrscheinlich eine Musterschülerin.
»Miriam? Miriam!«
Erst beim zweiten Mal sah ihre Tochter auf. Schlagartig wirkte sie irgendwie ertappt. »Ich hab meine Hausaufgaben schon gemacht!«
Das war eine glatte Lüge, und Jessica wusste es, aber für den Moment war es ihr egal. »Dein Benny lässt dich manchmal mit seinem Auto fahren, oder?«
Benny war achtzehn, und Miriam versuchte seit ein paar Wochen verzweifelt, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu beeindrucken. Bisher hatte das glücklicherweise nur insofern gefruchtet, als sie hin und wieder mit ihm und einigen anderen Jugendlichen herumhängen durfte. Da sie alle halbwegs verantwortungsvoll zu sein schienen, hatte Jessica nichts dagegen.
Miriam runzelte die Stirn. »Was?« Bevor Jessica noch einmal versuchen musste, gegen die Musik anzuschreien, stand Miriam auf, ging zu ihrem Computer hinüber und schaltete den Lärm aus. Jessica seufzte erleichtert auf.
»Benny lässt dich manchmal doch mit seinem Auto fahren, nicht?«
Sofort wirkte Miriam noch ertappter als zuvor. Sie zögerte, versuchte offensichtlich zu entscheiden, ob sie lügen oder zumindest einen Teil der Wahrheit preisgeben sollte. »Ich bin doch erst sechzehn, Mama. Ich darf nicht …«
»Es ist okay«, unterbrach Jessica sie schnell. Dann schaltete sich aber doch ein wenig mütterliche Sorge ein. »Solange ihr das nur auf irgendwelchen abgelegenen Plätzen macht«, fügte sie hinzu. »Aber du kannst einparken, ja?«
Sofort wirkte Miriam besorgt. »Hast du versucht, Auto zu fahren, Mama?«
Jessica nickte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so nutzlos gefühlt. »Es steht direkt vor der Einfahrt.«
Miriam verdrehte die Augen auf eine Art, die mehr wehtat, als Jessica sich eingestehen wollte. Eine Art, die sagte: Aber genau das hatte Jessica ja gerade versucht! Sonderlich viel gebracht hatte es ganz offensichtlich nicht.
»Ich kann einparken, ja.«
Etwas zögerlich ließ Jessica die Autoschlüssel in die ausgestreckte Hand ihrer Tochter fallen. Irgendwo musste sie den Zettel mit der Telefonnummer des Therapeuten noch haben. Vielleicht sollte sie doch mal dort anrufen und einen Termin ausmachen.
Der Therapeut hieß Christoph Köhler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und er sah nicht so aus, wie Jessica sich einen Therapeuten vorgestellt hatte. Das hieß, er war weder sonderlich alt, noch hatte er einen dichten grauen Bart. Er starrte sie auch nicht über die Gläser einer schmalen Brille hinweg an. Stattdessen hatte er eher etwas von einem Immobilienmakler. Nicht die schleimige Sorte, zum Glück. Dennoch war sich Jessica nicht sicher, ob Psychiater wirklich so aussehen sollten, als wollten sie einem etwas verkaufen.
Andererseits hätte er auch der sympathischste Mensch auf Erden sein können, und Jessica hätte ihn trotzdem auf den ersten Blick nicht leiden können. Wenn er sie noch einmal auf diese verständnisvolle, aber irgendwie auch ein wenig mitleidige Art anlächelte, mit der er sie begrüßt hatte, würde sie wahrscheinlich einfach aufstehen und gehen.
»Hören Sie«, begann Jessica, »ich will nicht über meine Kindheit reden oder so was. Ich will einfach nur wieder Auto fahren können. Wenn’s sein muss, nehme ich dafür auch Tabletten.«
Dr. Köhler lächelte auf seine verständnisvolle, aber irgendwie auch ein wenig mitleidige Art. Der einzige Grund, warum Jessica nicht einfach aufstand und ging, war, dass sie dann einen neuen Termin bei einem anderen Psychiater hätte ausmachen...