E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Ullstein Das Haus Ullstein
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0631-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0631-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hermann Ullstein, geboren 1875, war der jüngster Sohn von Verlagsgründer Leopold Ullstein. 1902 trat er in das Familienunternehmen ein. Er widmete sich vor allem der modernen Werbung und verfasste das Buch Wirb und werde! Ein Lehrbuch der Reklame - sein Motto: Wer nicht langweilig sein will, muss originell sein. 1939 musste er in die USA emigrieren und ließ sich als Privatmann in New York nieder, wo er 1943 starb.
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Am nächsten Tag, dem 31. Januar 1933, ist die Stimmung im Verlag an der Kochstraße sehr angespannt. Geregelte Arbeit scheint unmöglich. Die Leute stehen in den Korridoren herum, reden miteinander, streiten sich. Die Pessimisten sagen das Ende des Verlags voraus. Die Optimisten betrachten Hitlers Sieg als ein Zwischenspiel vor seinem nahen Sturz.
Unser Diplomaticus gehört jetzt zu den Pessimisten – er verschwindet in einem der Automobile, die jederzeit am Haupteingang für ihn bereitstehen. »Zur Reichskanzlei«, ruft er dem Fahrer zu. Die Fahrt dauert höchstens zehn Minuten, aber mit jeder Sekunde werden die Aussichten düsterer. Zwei Tage zuvor auf dem Presseball hatte er noch verkündet, dass Hitler von Hindenburg abgelehnt werde, dass Papen ein Comeback bevorstehe und dass man die Nerven behalten solle. Alle seine Voraussagen waren falsch. Hatte er auf einmal seinen politischen Spürsinn verloren? Er wird es gleich erfahren.
Der Wagen hält vor der Reichskanzlei. Diplomaticus steigt aus und schickt sich an, das Gebäude zu betreten.
»Halt!«, ruft der Portier. »Ausweis vorzeigen!«
Diplomaticus steht starr vor Schreck. »Aber Kessler«, ruft er dem Portier zu, »das ist doch nicht dein Ernst. Wir kennen uns doch!«
»Für Sie immer noch Herr Kessler. Wo wollen Sie hin?«
»Zum Staatssekretär selbstverständlich.«
»Das ist nicht möglich.«
Diplomaticus fängt an, sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. »Wollen Sie mir etwa sagen, guter Mann, dass Sie in höherem Auftrag handeln? Sie wissen doch, dass ich jeden Tag komme, um die Regierungserklärungen entgegenzunehmen.«
Der Pförtner schneidet ihm das Wort ab. »Nur, wer einen Passierschein von der Parteizentrale vorweisen kann, bekommt Zutritt.«
Deprimiert kehrt Diplomaticus ins Büro zurück. Es stellt sich heraus, dass es seinem Kollegen von der B.Z. am Mittag ähnlich ergangen ist. Alle Verbindungen zur Regierung sind abgerissen.
Der Kollege Reiner macht sich darüber lustig, dass Diplomaticus den Kopf so hängen lässt. »Du musst nicht immerzu schwarzsehen, lieber Herr Professor. Ich bin überzeugter Optimist.«
»Und worauf gründet sich dein Optimismus?«
»Auf die Tatsache, dass die Gemäßigten genauso in Hitlers Regierung sitzen werden, wie sie es schon bei Papen getan haben. Sie werden alle Schlüsselpositionen in der Verwaltung besetzen. Papen wird Vizekanzler, und die Ministerien des Äußeren und des Inneren, das Finanzressort, das Verteidigungsministerium und die Landwirtschaft werden allesamt von seinen Freunden besetzt. Also was kann Hitler schon groß tun? Gar nichts!«
Das war Diplomaticus neu, aber er lässt es sich nicht anmerken. Jetzt spielt er seine Trumpfkarte aus. Trotz der Informationssperre ist es ihm gelungen, eine wichtige Mitteilung aufzuschnappen. »Um vier Uhr nachmittags«, weiß er zu berichten, »wird Hitler seine Jungfernrede als Kanzler im Radio halten. Da werden wir ja sehen, wie weit er sich aus dem Fenster lehnt.«
»Natürlich nicht besonders weit«, erwidert Reiner. »Als Kanzler muss er Verantwortungsgefühl demonstrieren. Da kann er nicht länger wüten wie auf einer seiner Massenkundgebungen. Er wird die Dinge nun aus einem anderen Blickwinkel beurteilen.«
Um vier Uhr nachmittags steht alles still im Ullsteinhaus und lauscht. So hatte es Clausner, der Anführer der nationalsozialistischen Betriebszelle, angeordnet. Das gilt für alle Angestellten, auch für die Redakteure. Befehl ist Befehl.
Die Betriebszelle hat sich quasi über Nacht in eine Art Schattenregierung verwandelt und kontrolliert nun, ganz nach russisch-bolschewistischem Vorbild, das Tagesgeschäft, Angestellte und die Geschäftsleitung. Sie ist zu einem Machtfaktor geworden, mit dem man rechnen muss.
Auf ihre Initiative hin werden überall Lautsprecher angebracht, damit die Stimme des Führers auch von jedem gehört werden kann. Niemand darf seinen Arbeitsplatz verlassen, bevor der Führer zu Ende gesprochen hat. Und überhaupt: Nun ist das erste Mal vom »Führer« die Rede. Beklommenheit macht sich breit in den Büros und Werkhallen.
Plötzlich ertönt ein Gong. Dann kommt die Stimme des Radioansagers. Aber es ist keine der gewohnten Stimmen. Es ist eine unangenehm schrille Stimme, die uns die Ankunft des Führers verkündet. Wilde Begrüßungsschreie – »Heil« – verstummen auf einen Schlag, als der Führer seine Rede beginnt.
»Volksgenossen! 15 Jahre lang hat eine unfähige Regierung auf unserem Land gelastet. 15 Jahre lang durften die Juden das deutsche Volk ausbeuten. Acht Millionen Arbeitslose sind das traurige Resultat dieses Irrtums, der Volk und Staat in den Ruin getrieben hat. Von nun an werden sich die Dinge ändern. Denn nun halte ich die Zügel in Händen.«
Was für eine Arroganz! Kein Kanzler zuvor hatte gewagt, über seine Vorgänger mit so viel Verachtung zu sprechen!
»Binnen vier Jahren wird die Arbeitslosigkeit überwunden sein. Gebt mir diese vier Jahre, und ich werde Ordnung schaffen.«
In einem Wort: ein Vierjahresplan, ganz ähnlich dem, den Stalin 1928 einführte, als er versprach, in fünf Jahren die Landwirtschaft zu verstaatlichen. Jetzt hebt Hitler die Stimme: »Ich werde streng sein. Ich werde weder Kritik dulden noch irgendwelche Opposition. Ich fordere –«, und hier überschlägt sich seine Stimme, »nichts als Gehorsam!«
Wir starren uns an. Wie verträgt sich diese Forderung nach Gehorsam mit der Reichsverfassung, auf die er vereidigt worden war? Von blindem Gehorsam steht dort nichts, dafür aber von freier Meinungsäußerung. Was werden seine deutschnationalen Minister zu so einer Ankündigung sagen? Bei dem Wort »Gehorsam« schrie er, so wie auf seinen Massenveranstaltungen. »Gott steh uns bei«, murmeln wir, während wir dasitzen und auf das Ende der Suada warten.
Irgendwann hört sie tatsächlich auf. Viele von uns stehen sprachlos da, unfähig, sich zu rühren – als wartete man auf einen Befehl, wieder an die Arbeit zu gehen. Einer will sich kritisch äußern und wird sofort zurechtgewiesen. Erst jetzt wird uns klar, wie massiv die Propaganda im Untergrund tätig war – auch hier bei Ullstein, wo freiheitlich-demokratische Zeitungen gedruckt werden. Ein Drittel der Belegschaft gehört bereits der Hitlerpartei an, sie wagen es erst jetzt, sich dazu zu bekennen, die einen verschämt, die anderen schon offensiv. Die Mehrheit hält den Mund. Die kleinste kritische Bemerkung landet sofort in Clausners Zelle.
Ein paar Tage nach Hitlers Rede hatte ich eine Unterredung mit Kappusch, einem unserer Redakteure, der mir stets mit Ehrerbietung begegnet war. Bei keiner Gelegenheit versäumte er, mich daran zu erinnern, wie sehr ich ihm und seiner Familie einst aus der Not geholfen hatte. Nun schlug er andere Töne an. »Jetzt werden sie alle ankommen«, sagte er, »jetzt wollen sie plötzlich alle Parteimitglieder sein. Aber das ist eine Ehre, die man sich verdienen muss. Ein jeder muss beweisen können, dass sein Herz für die Partei schlägt.«
Ich gab meiner Verwunderung Ausdruck: »Kappusch, wie reden Sie denn? Seit wann gehören Sie zu den Nationalsozialisten?«
»Seit dem Beginn der Bewegung 1923.«
»Und dennoch sind Sie in diesem demokratisch orientierten Verlag geblieben?«
Hierauf entließ er eine dröhnende, humorlose Lachsalve, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Erst in diesem Moment erkannte ich, dass wir schon seit Jahren von Feinden umgeben waren. Zweifellos führten sie schon seit langem geheime Dossiers über die unverbesserlichen Demokraten. Von nun an blühte das Denunziantentum, und es herrschte eine Atmosphäre der Angst. Clausner war allgegenwärtig und omnipotent.
Ein paar Tage nach dem Gespräch mit Kappusch klopfte es laut an meine Tür. Clausner trat ein, flankiert von zwei Kollegen. Er kam gleich zur Sache: »Wir fordern die Entlassung von Direktor Ross. Er muss die Firma unverzüglich verlassen.«
Ich war überrascht: Fritz Ross war nicht nur der Schwiegersohn meines ältesten Bruders, sondern auch der Bruder von Colin Ross, einem prominenten Nationalsozialisten, der als Reisejournalist auch schon für Ullstein unterwegs gewesen war. Seine Nähe zu einem Parteimitglied schien ihn nicht zu schützen.
»Warum sollte Direktor Ross entlassen werden?«, fragte ich.
»Wir haben in Erfahrung gebracht, dass er mit einem gewissen Wendriner Umgang pflegt, der seinerseits mit dem Kommunisten Tucholsky befreundet ist.«
Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. »Meine Herren, ich fürchte, Sie sind das Opfer eines bedauerlichen Irrtums geworden. Der Wendriner, mit dem Direktor Ross Umgang pflegt, ist weit davon entfernt, Kommunist zu sein. Er ist ein pensionierter Hauptmann der Reichswehr. Und bei dem Wendriner von Tucholsky handelt es sich um eine satirische Erfindung.«
Den drei Herren blieb die Spucke weg. Clausner fand als Erster die Sprache wieder. »Aber ist nicht der Schriftsteller Tucholsky ein Kommunist?«
»Mag sein. Vielleicht im Herzen. Ich kann es wirklich nicht beurteilen. Jedenfalls sind seine Wendriner-Geschichten völlig unpolitisch.«
Clausner entschied sich dafür, Großmut zu demonstrieren: »Diesmal wollen wir es durchgehen lassen, aber seien Sie gewarnt und geben Sie die Warnung auch an Ross weiter.«
Damit verzogen sie sich. Ich ließ meinen Neffen Ross kommen und erzählte ihm die Geschichte. Anfangs war er schockiert, aber als er begriff, dass er Opfer einer albernen Verwechslung...