Ullmann | Die Papageieninsel | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 208 Seiten

Reihe: Prosathek

Ullmann Die Papageieninsel

oder Von der Kunst, sich selbst zu finden
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-25149-9
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

oder Von der Kunst, sich selbst zu finden

E-Book, Deutsch, Band 1, 208 Seiten

Reihe: Prosathek

ISBN: 978-3-641-25149-9
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein vielversprechendes Debüt über Vertrauen, Freiheit und Selbsterkenntnis

„Hannah muss ungefähr acht Jahre gewesen sein, da waren sie plötzlich da. An dem kleinen Haken an der Decke über ihrem Bett hatte man die beiden Papageien aus Stoff aufgehängt. Wenn sie nicht schlafen konnte, sprach sie mit ihnen und Coco und Lora gaben Antworten auf all ihre Fragen.“

Lange hatte sie nicht mehr an sie gedacht. Doch als sie nun als junge, aufstrebende Frau zur Fortbildung auf eine kleine Mittelmeerinsel geschickt wird, warten ungeahnte Herausforderungen auf sie. Und auf einmal sind sie wieder da, ihre zwei Papageien aus der Kindheit und helfen ihr, inmitten großer Selbstzweifel, Misstrauen und Leistungsdruck einen Weg zu finden, der sie frei werden lässt.
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1


Hannah hasste es zu warten. Zwischen fremden Menschen herumzustehen. Die hektischen Finger an den Oberschenkeln, den nächsten Schritt im Kopf. Sie sah den Koffern zu, die nacheinander auf das Fließband knallten. Sie hatte den besten Platz erwischt. Hinter ihr schepperten Gepäckwagen suchend über gesprungene Fliesen. Es war ein kleiner Flughafen mit kurzen Wegen. Der Ausgang war vorne rechts ausgeschildert: , in einen Leuchtkasten gesperrt mit Schmutz hinter den Buchstaben. Dort müsste sie jemand von CHL abholen. Das hoffte sie zumindest. Denn sie hatte keine Ahnung, wie sie von dort zur Firma finden sollte. Auf die Fortbildung war sie gespannt, aber hätte sie die nicht in Berlin machen können, wo auch ihr zukünftiger Arbeitsplatz sein würde? Sie war gerade erst umgezogen und hatte noch nicht einmal ihre Kartons auspacken können. Dabei wollte sie endlich ankommen und sich einleben. Ihr Stadtviertel entdecken, ein neues Lieblingscafé finden und sich einen neuen Freundeskreis aufbauen. Ohne den Gedanken im Hinterkopf, dass sie in ein, zwei Jahren wieder alle Zelte abbrechen müsste. Von Zwischenstationen hatte sie genug. Endlich konnte sie langfristig planen. Eine Flugreise war das Letzte gewesen, wonach ihr der Sinn stand. Die Personalerin am Telefon hatte sie letzte Woche völlig überrumpelt: »Für die Einarbeitungsphase haben wir Sie der Inselniederlassung zugeordnet«, hatte sie gesagt und ihr dann das Flugticket zugemailt. Weder von der Insel noch von diesem Flughafen hatte Hannah jemals etwas gehört. Auf der Firmenhomepage waren keinerlei Informationen über diesen Standort zu finden gewesen, was sie nun noch mehr beunruhigte. Sie fühlte sich an ihrem ersten Arbeitstag wie ins kalte Wasser geworfen und konnte nicht einmal die Wartezeit nutzen, um sich vorzubereiten. Sie checkte wiederholt ihr Smartphone, rief die E-Mails ab, aber es wurden keinerlei Benachrichtigungen angezeigt. Vielleicht hatte sie auch keinen Empfang. Ein Mann mit penetrantem Aftershave drängte sich neben sie ans Fließband. Hannah spannte die Arme an, um ihren Platz zu sichern. Aber der Mann, der viel größer und breiter war als sie, wich nicht zurück. Ihr Koffer rutschte aus der Luke, sie stürzte sich auf das Hartschalenungetüm, der Mann ebenso. Mit seinen kräftigen Fingern hob er ihn vom Fließband und stellte ihn vor sich ab. »Sorry, Miss. That’s mine«, sagte er, lächelte und zeigte ihr das Adressschild. Hannahs Name stand nicht darauf. Bevor sie ihre Kiefer lockern und eine Entschuldigung murmeln konnte, war der Mann mit ihrem Kofferdoppelgänger schon auf dem Weg zum Ausgang. Als sie ihm hinterherblickte, sah sie, dass auf seiner Schulter ein riesiger grüner Papagei saß.

***

Hannah steckt das Smartphone zurück in die Tasche und setzt sich hin. Sie versucht, sich zu entspannen, ertappt sich aber dabei, wie sie die Haut um ihre Fingernägel abzupft. Lass es, befiehlt sie sich und versteckt ihre Hände zwischen ihren Oberschenkeln. Seit fünf Minuten drehen vor ihr dieselben paar Gepäckstücke ihre Runden, wie die Gedanken in ihrem Kopf. Gedanken an die letzten Wochen. Die Probleme mit der Kündigungsfrist. Überstunden. Projektübergaben. Schwierige Kunden. Diskussionen. Überstunden. Permanenter Schlafmangel. Projektübergaben. Schwierige Kunden. Und dann noch der Umzug. Es kann nur besser werden, nicht wahr? Ein weiterer unnötiger Blick auf ihren Touchscreen. Nach und nach werden die Gepäckstücke vom Band gehoben. Ein Schwung neuer kommt hinzu. Ein Rucksack vollgestopft mit Fragen. Sollte ich jetzt nicht glücklich sein? Hab ich jetzt nicht endlich die Stelle bei CHL, von der ich immer träumte? Auf die ich jahrelang hingearbeitet habe? Aber viel Freude ist da nicht. Eine Tasche voll Angst wird heraufbefördert, die gegen das Metall donnert. Schwarze Koffer ziehen vorüber. Ich muss einen guten ersten Eindruck machen. Ich darf die Fehler vom letzten Mal nicht wiederholen, mich nicht so im Hintergrund halten. Ich muss Kontakte zu den richtigen Leuten knüpfen, schreibt Hannah auf ihre innere To-do-Liste. Dass sie mich genommen haben, heißt noch gar nichts. Ich muss was daraus machen. Ich werde das Beste daraus machen, dieses Mal und gleich die Fortbildung voll ausnutzen. Zwei Reisetaschen fallen von der Luke aufs Band. Aber glaubt man nicht immer, dass beim nächsten Mal alles besser wird? Aber warum glaubt man das? Und wie soll das gehen? Wenn man doch immer noch dieselbe ist … Die Haut an ihrem linken kleinen Finger brennt ein wenig. Ich werde an mir arbeiten müssen, in jeder Hinsicht, stellt Hannah fest und dann leider auch, dass keine weiteren Koffer mehr aus der Luke fallen.

***

»Was kann ich für Sie tun?« Die Frau mit dem gestreiften Halstuch lächelte, als wüsste sie nicht, dass die Leute meistens nur an ihren Schalter kamen, um sich zu beschweren.

Hannah legte ihr Flugticket vor.

»Mein Koffer war eben nicht dabei.« Sie fixierte die Frau, die einen kurzen Blick auf ihr Ticket warf, etwas in ihren Computer eintippte und dabei weiterlächelte, als hätte sie noch immer nicht begriffen, dass es ein Problem gab.

»Das tut uns sehr leid. Ich bin mir sicher, dass wir Ihren Koffer schnell finden werden. Und dann lassen wir ihn sofort zu Ihrer Unterkunft bringen. Tragen Sie hier bitte Ihren Namen, Ihre Kontaktdaten und die Adresse Ihrer Unterkunft ein.«

Hannah zögerte, das Formular entgegenzunehmen.

»Was heißt ›schnell‹?«, fragte sie. »Wissen Sie, ich brauche den Koffer wirklich dringend!«

»In spätestens ein bis zwei Tagen haben Sie ihn zurück. Das kann ich Ihnen versichern.«

Ein bis zwei Tage. Hannahs Magen zog sich zusammen. Sie drehte sich um, um für kurze Zeit das Lächeln der Servicekraft aus dem Blickfeld verschwinden zu lassen. Sie atmete ein, ohne dass wirklich Luft in ihre Lunge kam. Ein bis zwei Tage ohne alles! Sie wandte sich wieder der Frau zu.

»Und wo … wo ist mein Koffer jetzt? Ich meine, ich habe ihn in Berlin aufgegeben … die Koffer der anderen Passagiere sind doch auch hier angekommen … wie kann das sein?«

»Es tut uns sehr leid. Wir werden uns darum kümmern.« Mit ihren manikürten Fingern schob sie Hannah noch einmal das Formular entgegen. Hannah presste ausgefranste Großbuchstaben und Ziffern in die Kästchen. Der Kugelschreiber schmierte. Natürlich schmierte er! Nichts in diesem Flughafen funktionierte, dachte Hannah und knallte den Stift auf die Theke. Aber die Anspannung verschwand nicht, sondern wurde größer. Plötzlich schämte sie sich ein wenig. Die Frau am Schalter machte schließlich nur ihren Job. Sie konnte nichts dafür, dass Hannah auf diese Insel musste. »Tut mir leid. Vielen Dank«, sagte Hannah, steckte ihr Ticket zurück in ihre Handtasche und ging.

***

Ihr Koffer. Eine ehemalige Kollegin hatte ihr das Modell empfohlen. Groß, aber leicht zu schieben. Sie hatte Stunden gebraucht, ihn zu packen. An der Gardinenstange hatte sie ihre Blusen aufgereiht. Die bewährten, eher unscheinbaren, die sich gut kombinieren ließen, neben den extravaganteren, die sie letzte Woche erst bestellt hatte. Die Seidenbluse war für den ersten Arbeitstag reserviert. Nur die, mit langen Ärmeln? Die Büros würden sicher klimatisiert sein, überlegte sie. Freizeitkleidung würde sie nicht brauchen. Zwei Wochen sind nicht viel. Trotzdem: Lieber zu viele Blazer als zu wenige. Sie wollte nicht den Anschein erwecken, als würde sie nur einen besitzen. Brauchte sie das Reisebügeleisen? Die Schuhe nahmen so viel Platz weg. Die Stilettos stellte sie wieder in den Schrank. Zu aggressiv. Die neuen Pumps aus Mailand mussten auf jeden Fall mit. Bei den Ballerinas zögerte sie wieder. Sie waren unglaublich bequem, aber schon ausgetreten. Nein, sie durfte gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich damit zu zeigen. Laptoptasche und Kosmetiktasche standen bereit. Ionen-Föhn und Paddel-Bürste. Gürtel, Armbanduhr, Ohrringe und Halskette. Eine in Gold. Die in Silber auch? Sie musste sich die neuen Pumps noch einmal ansehen. Brauchte sie eine Sonnenbrille oder sah das zu sehr nach Urlaub aus? Vielleicht, wenn im Handgepäck noch Platz war. Sie schrieb, um den Gedanken loszuwerden »Sonnenbrille? Regenschirm?« auf den Zettel, der auf dem Esszimmertisch lag:

Ladegerät!

Müll raus

Schlüssel

***

»HANNAH KAHL, CHL«. Das Schild mit ihrem Namen war nicht zu übersehen, gehalten von einer Frau um die Fünfzig. Hannah straffte ihre Schultern, hob den Kopf. Es ging los. Ihr Lächeln fühlte sich an, als wäre es von der Angestellten der Fluglinie auf sie übergesprungen. »Guten Tag, Frau Kahl! Ich bin Frau Bergé-Patt von CHL. Hatten Sie einen guten Flug? Ja? Folgen Sie mir!« Hannah musterte ihr maßgeschneidertes Kostüm und den energischen, federnden Gang. Wahrscheinlich gehörte sie zu den bewundernswerten Menschen, deren ruhige Hände immer wussten, wo ihr Platz war. Hände, die nicht herabhingen, sich ständig umentschieden oder etwas zum Festhalten brauchten. Vielleicht war sie ihre neue Vorgesetzte, die sie hier höchstpersönlich abholte, dachte Hannah. Sie spürte, wie die Ränder ihrer neuen Lederpumps auf der Haut scheuerten. Ihre Füße fühlten sich nach dem Flug geschwollen und klebrig an. Dazu der unebene Fliesenboden des Terminals. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, Schritt zu halten. »Entschuldigen Sie, Frau Bergé-Patt, dass ich so spät dran bin, aber es gab ein Problem mit meinem Koffer. Ich müsste vielleicht noch ein paar Dinge besorgen und …« Frau Bergé-Patt wandte sich zu ihr um und lächelte. Auf ihren Wangen zeichneten sich kleine Grübchen ab. »Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Kahl, das...


Ullmann, Verena
Verena Ullmann (Jg. 1989) hat in Deutschland und Frankreich Romanistik und Kunstgeschichte studiert. Sie hat international als Online-Redakteurin und Werbetexterin gearbeitet. Heute ist sie im Verlagswesen tätig.Für ihr Lyrikprojekt Wedafest erhielt sie den Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis der Stadt München. Außerdem wurde sie mit dem Straubinger Kulturförderpreis ausgezeichnet.



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