E-Book, Deutsch, 196 Seiten
Uhl / Snyder / Smolar Transit 35. Europäische Revue
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-8015-0623-0
Verlag: Verlag Neue Kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Europäische Gedächtnispolitik
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-8015-0623-0
Verlag: Verlag Neue Kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der erste Schwerpunkt des Heftes beschäftigt sich Europäischer Gedächtnispolitik. 'Die Zukunft der europäischen Solidarität hängt von der Neubewertung und -erzählung der jüngeren Vergangenheit Europas ab.' schrieb Timothy Snyder vor einiger Zeit in dieser Zeitschrift. Zu einer solchen Neubewertung und -erzählung wollen die AurorInnen des ersten Teils beitragen. Heidemarie Uhl leitet den ersten Teil mit einer kritischen Reflexion über die europäische Erinnerungskultur ein. Burkhard Olschowsky kartographiert die Brüche in der Erinnerungslandschaft des alten Kontinents und sucht nach einem verbindenden Gedächtnis. Aleksander Smolar unterzieht die jüngste polnische Gedächtnispolitik einer kritischen Bilanz. Timothy Snyder erinnert an den vergessenen Holocaust in Osteuropa, und Dirk Rupnow diagnostiziert einen tiefgreifenden Wandel im Gedächtnis des Holocaust. Den Schwerpunkt schließt eine Diskussion zwischen Alexander Motyl und Timothy Snyder über die unterschiedliche Bewertung totalitärer Verbrechen ab. Der zweite Schwerpunkt stellt den 'Mai '68' in den Ost-West-Kontext. Jacques Rupnik vergleicht den Prager mit dem Pariser Frühling und bringt ein Interview über das Missverständnis von 1968 mit, das er zehn Jahre später mit Rudi Dutschke führte. Aleksander Smolar resümiert 1968 aus der Perspektive eines Exilanten, der Polen, wie so viele andere Juden, in jenem Jahre verlassen musste. Mykola Riabchuk schließlich berichtet über die Wahrnehmung der damaligen Ereignisse in Ost- und Westeuropa durch die ukrainischen Dissidenten. Die letzten beiden Artikel sind Russland gewidmet: Ivan Krastev untersucht die Krise der europäischen Nachkriegsordnung und den neue Konfrontationskurs Russlands mit dem Westen. Henrike Schmidt dokumentiert, wie die neuen Technologien zur Imagebildung von Putin und Medwedjew genutzt werden.
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Heidemarie Uhl SCHULDGEDÄCHTNIS UND ERINNERUNGSBEGEHREN Thesen zur europäischen Erinnerungskultur Paradoxien: das Verschwinden der Erinnerung im Gedenken Der Historiker Tony Judt beschließt seine monumentale Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart1mit einem Appell, das europäische Erinnerungsprojekt an die Barbarei des Holocaust vor dem Vergessen zu bewahren: »Wenn wir uns in kommenden Jahren erinnern möchten, warum es so wichtig war, ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen, kann uns nur die Geschichte helfen. (…) wenn Europas Vergangenheit seiner Gegenwart auch weiterhin als Mahnung und moralische Zielvorgabe dienen soll, muss sie jeder Generation erneut vermittelt werden.«2 Bereits 2001 hatten Natan Sznaider und Daniel Levy das Gedenken an den Holocaust emphatisch als den kosmopolitischen Erinnerungsort des »globalen Zeitalters« beschrieben: als universalisierbaren, nicht mehr allein auf den »nationalen Container« begrenzten historischen Bezugspunkt für zivilgesellschaftliche Werte und die Berufung auf universale Menschen- und Bürgerrechte.3 Dass die Parole »Nie wieder Auschwitz« zum Credo humanitärer und militärischer Interventionen im Kampf gegen Völkermord und Genozid wurde, zeigt die Wirkungsmächtigkeit ebenso wie die Globalisierungsfähigkeit dieses Gedächtnisortes, der symbolisch auch im Herzen der Vereinten Nationen verankert wurde: Im Januar 2008 wurde im Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York die Ausstellung The Holocaust and the United Nations eröffnet.4 Umso überraschender ist Natan Sznaiders kürzlich veröffentlichter Befund über den »Gedächtnisraum Europa«: »jüdische Stimmen« würden nicht wahrgenommen, das jüdische Gedächtnis sei »ausgelöscht«. »Das jüdische Gedächtnis ist aus dem europäischen Diskurs verschwunden. Und das trotz aller Rituale und Gedenktage! Oder vielleicht auch deswegen.«5 Diese These ist ein neues Argument in der Debatte um die »Aporien des Gedenkens«.6 Die moralisch aufgeladene Gegenüberstellung von Erinnerung und Amnesie, das Vertrauen in die kathartische Wirkung des Erinnerns an eine »verdrängte« Vergangenheit hat allerdings bereits seit längerem Risse bekommen, und es ist gerade die von Sznaider angesprochene Paradoxie des Verschwindens von Erinnerung durch das Gedenken, die dazu den Anstoß gab. Denn der Gedächtnisraum Europa ist mittlerweile durchdrungen von Zeichen der Erinnerung an den Holocaust – zugleich stellen aber die seit den 1980er Jahren errichteten Denkmäler, die neuen Museen und Gedenktage die Schlusssteine des jeweils im nationalen Rahmen ausgetragenen Kampfs um die Durchsetzung einer neuen Erinnerungskultur dar.7 Und dieses Gedenken kann sich offenkundig der Logik des kulturellen Gedächtnisses nicht entziehen: Durch ihre materielle Präsenz wird die Erinnerung an den »Zivilisationsbruch Auschwitz« (Dan Diner) »normalisiert«, zum Bestandteil eines seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Formenrepertoires historischer Identitätsstiftung im öffentlichen Raum. Die Hoffnung auf neue Denkmals-Formen, von denen eine nachhaltige Irritation ausgehen könnte und die »die tiefste Wunde der westlichen Zivilisation« 8 offen zu halten vermögen, hat sich nicht erfüllt. Das Scheitern dieser Erwartungen geht bereits aus der alltäglichen Selbstverständlichkeit hervor, mit der diese Zeichen im öffentlichen Raum präsent sind. Offenkundig wirkt eher die Leerstelle, das Fehlen eines Erinnerungssymbols als »Messer in der Wunde« (Jochen Gertz).9 Die realisierten Denkmäler hingegen fügen sich harmonisch in das Weichbild der Metropolen ein, werden zu Tourismus-Attraktionen,10 zu einem »Ort, an den man gerne geht«.11 Es sind tröstliche Orte, denn sie symbolisieren die Möglichkeit der »Überwindung der Verbrechen im Gedenken an deren Opfer«.12 Nicht zuletzt erinnert ein Denkmal an den geschichtspolitischen Erfolg seiner Durchsetzung und wird so zum Symbol für die Erinnerungsfähigkeit eines Kollektivs an seine schuldhaften Verstrickungen – ein Ort, auf den man stolz sein kann. Nur selten werden diese Gefühlswerte durchbrochen. Der »Audioweg Gusen« des österreichischen Künstlers Christoph Mayer schafft durch das Begehen der nicht mehr vorhandenen, durch Wohnhäuser überbauten Topographie des KZ Gusen eine soziale Versuchsanordnung, die Wohlfühlen im Gedenken nicht zulässt. Eine sanfte, weibliche Stimme führt den Besucher durch die Dorfstraßen, fordert ihn auf, einen Blick auf ein bestimmtes Haus zu werfen, die Stimme einer Zeitzeugin berichtet von den Grausamkeiten, die hier, an genau dieser Stelle, begangen worden waren. Der fremde Besucher, mit einem Kopfhörer versehen, Häuser und Landschaften mit den Augen von Opfern, Tätern und Zuschauern betrachtend, erzeugt eine Situation, die außerhalb der Regeln der face to face-Kommunikation in einem Dorf steht. Man ist sich der zugewiesenen Rolle als Störfaktor ständig peinvoll bewusst – hier atmet man auf, wenn man den Ort des Gedenkens verlässt. Aber auch diese Irritation ist womöglich nur temporär erfahrbar, die verstörende Wirkung auf beiden Seiten – bei den BesucherInnen wie bei den OrtsbewohnerInnen – kann verblassen oder durch neue Rituale an Spannung verlieren.13 Als »soziales Vergessen« beschreibt Elena Esposito das Paradox des Verschwindens von Erinnerung im Gedenken: »Die beste Art, Erinnerung auszulöschen, besteht nicht im Löschen von Informationen (dies ist ja auch nicht möglich), sondern in der Produktion eines Überschusses an Information – nicht durch die Erzeugung einer Abwesenheit, sondern in der Vervielfältigung der Präsenzen. Das Vergessen wird nicht durch eine Hemmung, sondern geradezu durch die Förderung des Gedächtnisses durchgesetzt.«14 Konkret bezogen auf das Holocaust-Gedenken vermu-tete James E. Young bereits in einem 1992 publizierten Aufsatz, dass Denkmäler Instanzen des Vergessens sind, die dem Betrachter die »Last der Erinnerung« abnehmen sollen: »Mag sein, daß der Impuls, Ereignisse wie den Holocaust zu monumentalisieren, im Grunde dem gegensätzlichen und gleichermaßen starken Wunsch entspricht, sie zu vergessen.«15 Post-mémoire: Gedächtnis jenseits von
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik Erinnerungsboom und Vergessensangst sind signifikant für das Bedürfnis nach Bezugspunkten in der Vergangenheit, von dem die Gesellschaften der Spätmoderne durchdrungen sind und der in den Formaten einer neuen Erinnerungskultur zum Ausdruck gebracht wird. Insofern kann das Konzept des kulturellen Gedächtnisses auch als eine Theorie sozialen Handelns gelesen werden: Im agonalen Handlungsfeld Gedächtnis beziehen sich die Konflikte nicht allein auf die Ebene der Deutungen und Interpretationen, also auf die Diskurse über die Vergangenheit, sondern vor allem auch auf die materiellen Repräsentationen. Denn gerade auf der Ebene der Institutionalisierung von Gedächtnis kommen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ins Spiel: Es geht nicht allein darum, eine neue Haltung zur Vergangenheit einzunehmen, sondern diese auch sichtbar im öffentlichen Raum zu manifestieren und damit ihre gesellschaftliche Relevanz zu demonstrieren. Insofern sind Denkmäler auch Siegeszeichen im Kampf um die Erinnerung: welcher Gruppe gelingt es, sich in welcher Form in den öffentlichen Raum einzuschreiben, welche Position nimmt ein Erinnerungszeichen in den Hierarchien eines Gedächtnisraumes ein? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sind mithin jene Kategorien, die das Feld der Praktiken des Gedenkens strukturieren, darauf richtet sich auch der analytische Blick der mittlerweile etablierten kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Das Gedächtnis einer Gesellschaft erscheint dabei als »Arena«16, die von der Logik des Ausverhandelns divergierender Standpunkte bestimmt ist. Diese permanenten Verhandlungen können in Phasen verdichteter Kommunikation über die Vergangenheit durchaus die Form leidenschaftlich ausgetragener gesellschaftlicher Grundsatzdebatten annehmen. Gedächtnis wird dabei als Handlungsfeld verstanden, das von rational-funktionalen Logiken und Strategien bestimmt ist, als planbar und kontrollierbar konzipiert. Selbst unvorhergesehene Skandale und Interventionen – etwa Kurt Waldheims Bekenntnis zur »Pflichterfüllung« in der Wehrmacht, der Auslöser für die Implosion des österreichischen Nachkriegsmythos vom »ersten Opfer« – werden als letztlich notwendiger Anstoß zur Veränderung von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur gesehen – Waldheim gilt heute als »Aufklärer wider Willen«. Die folgenden Überlegungen gehen demgegenüber von der These aus, dass die Relevanz, die Gedächtnis im ausgehenden 20. Jahrhundert gewonnen hat, mit den Kategorien Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nicht hinreichend zu erklären ist. Jenseits dieser Oberflächen-Phänomene stellt sich die Frage, warum am Ende des 20. Jahrhunderts eine bestimmte, neue Form von Gedächtnis – gerichtet auf die »guilt of nations«17, auf »politics of regret«18, das »negative Gedenken« an die historische Schuld einer Nation – zu einem zentralen Bezugspunkt gesellschaftlicher Imagination, kollektiver Emotionalisierung und »moralischer...