Einleitung
Umweltpolitik nach Merkel
Im Sommer 2013 nahte eine Bundestagswahl, aber das bewegte jenseits der Parteizentralen kaum jemanden. Lustlos plätscherte der Wahlkampf vor sich hin, obwohl es eigentlich eine Menge zu diskutieren gab. Die Euro-Krise hatte den Kontinent erschüttert und die Europäische Union vor die größte Herausforderung ihrer Geschichte gestellt. Eine neue Partei, die eine »Alternative für Deutschland« versprach, machte sich daran, den Unmut wütender Bürger politisch auszuschlachten. Zwei Jahre zuvor hatte die Regierung Merkel eine Energiewende verkündet, aber was daraus werden würde, war weithin offen. In Syrien herrschte Bürgerkrieg, im Mittelmeer ertranken Flüchtlinge, und in Ungarn bastelte Viktor Orbán an seiner »illiberalen Demokratie«. Es brannte an allen Ecken und Enden, und große Entscheidungen bahnten sich an. An sich war klar, dass dem Atomausstieg über kurz oder lang ein Kohleausstieg folgen müsste, aber irgendwie wollte niemand darüber reden. In ihrem Regierungsprogramm zur Bundestagswahl 2013 bekannte sich die CDU zum Bau neuer Kohlekraftwerke.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich im besagten Sommer in München saß und meine Habseligkeiten in Kisten packte. Drei Wochen vor der Bundestagswahl trat ich eine Stelle an einer britischen Universität an, und so dachte ich darüber nach, welch seltsames Vaterland ich da eigentlich gerade verließ. Woher kam die merkwürdige Selbstgefälligkeit, die das Land seit ein paar Jahren prägte und offenbar selbst in Wahlkampfzeiten nicht verschwinden wollte? Warum diskutierte man vor einer Bundestagswahl nicht über Zukunftsentwürfe und Pläne, sondern allenfalls über Trivialitäten? Kurz vor der Wahl präsentierte die CDU in Berlin ein riesiges Poster, auf dem nichts anderes zu sehen war als Merkels Hände, und löste damit ein heftiges Rauschen im Internet aus.
In meiner neuen Heimat wurde hingegen eifrig diskutiert. Die Bankenkrise von 2008 hatte Großbritannien heftig getroffen, die Regierung fuhr einen rigiden Sparkurs, unter dem das Land spürbar ächzte, und über die Folgen gab es eine lebhafte Debatte. Der verbale Schlagabtausch ist im Vereinigten Königreich eine Art Volkssport, am bekanntesten sind die Debattierclubs von Oxford und Cambridge und die legendär turbulenten Redeschlachten im Unterhaus. Auch über die Unabhängigkeit Schottlands wurde ausführlich und hitzig diskutiert, bevor sich der nördliche Landesteil im September 2014 in einer Volksabstimmung dagegen entschied. Ein wenig spürte man da schon die ersten Schockwellen des nahenden politischen Erdbebens namens Brexit.
Es dürfte bekannt sein, welche Kapriolen sich mein neues Heimatland seit dem Referendum von 2016 geleistet hat. Weniger bekannt sind die Folgen für deutsche Migranten in angelsächsischen Ländern. Sie dürfen sich seither freundliche Bemerkungen über ihre Bundeskanzlerin anhören, und zwar auch von Leuten, die sonst eher keine Freunde christdemokratischer Politik sind und womöglich gar nicht genau wissen, was es mit dieser Christdemokratie eigentlich auf sich hat. Aber wenn man täglich mit dem Aberwitz eines Boris Johnson oder eines Donald Trump konfrontiert war, wirkte Angela Merkel plötzlich wie eine Heilsfigur, bis sie auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft die Impfkampagne gegen COVID-19 fulminant versemmelte.
Als Deutscher hört man es mit gemischten Gefühlen. Einerseits freut sich jeder Migrant, wenn die eigene Heimat auf wohlwollendes Interesse stößt. Ich bin viel in der angelsächsischen Welt unterwegs, seit ich im Studium ein Jahr in den USA verbracht hatte, aber ich kann mich nicht erinnern, dass Helmut Kohl oder Gerhard Schröder jemals ähnlich sentimentale Anwandlungen ausgelöst hätten. Andererseits weiß man um die Schattenseiten der Ära Merkel: eine sedierte politische Kultur und ein Regierungsstil, bei dem die Dinge gemächlich vor sich hinplätscherten und am Ende vermeintlich alternativlose Entscheidungen präsentiert wurden. Aber wie konnte man darüber reden, ohne mal eben einen Schnellkurs bundesdeutsche Politik abzuhalten? Wieder einmal spürte man den Zwiespalt, der sich durch die politischen Debatten des neuen Jahrtausends zu ziehen scheint. Es gab einerseits populäre Gewissheiten, hinter denen sich bestenfalls eine Halbwahrheit verbarg, und andererseits eine kompliziertere Wirklichkeit, die sich jedoch einer konzisen Beschreibung in zwei oder drei Sätzen entzog.
Dieser Zwiespalt war mir aus zahlreichen Debatten über ökologische Fragen bestens vertraut. Ich hatte darüber sogar schon einmal ein Buch geschrieben. Am Ende der Gewissheiten hieß das Werk, das im August 2011 bei Campus erschienen war und eine Gesamtinventur der bundesdeutschen Umweltdebatte unternahm. Es ging um die Atomkraft und die Agrarwende, das Klima und die Gentechnik und einiges mehr, und immer wieder fanden sich populäre Klischees, die ihre eigene Geschichte hatten und längst anachronistisch geworden waren. Das Buch war auch ein Plädoyer für einen neuen Politikstil: mutig, experimentierfreudig, mit Augenmaß und wissenschaftlicher Expertise, die ja nicht immer nur aus der naturwissenschaftlichen Forschung kommen muss, sondern durchaus auch aus den Geisteswissenschaften.
Es ist nicht unbedingt so, dass solche Ausflüge in die Tagespolitik in akademischen Kreisen auf große Begeisterung stoßen. Gerne werden flott geschriebene Texte für eine breite Leserschaft unter Wissenschaftlern als »journalistisch« tituliert, und das ist an deutschen Universitäten kein Kompliment. Damals hatte ich jedoch ein Fellowship der VolkswagenStiftung, die solche Ausflüge durchaus wohlwollend verfolgt, und außerdem war ich Deputy Director am Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft in München, das sich der Förderung ökologischer Forschung in den Geisteswissenschaften verschrieben hatte. So war Am Ende der Gewissheiten auch eine Programmschrift, mit der ich zeigen wollte, was man als Historiker zur laufenden Umweltdebatte beitragen konnte. Im Wissen um die historischen Wurzeln konnte man klarer und gezielter diskutieren, warum wir eigentlich so und nicht anders über ökologische Herausforderungen reden.
Aber ob ein solches Projekt auch den Segen von Klio hatte, der Schutzpatronin der Geschichtswissenschaft? Ich bin nicht abergläubisch, aber es waren schon ausgesprochen unzeitgemäße Betrachtungen, die da im August 2011 auf den Buchmarkt kamen. Ein paar Monate zuvor waren die Atomreaktoren von Fukushima explodiert, der Bundestag beschloss den Atomausstieg, während das Buch in den Druck ging, und die Grünen standen in den Umfragen zeitweise bei 25 Prozent. Das sind nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für ein Buch über die Krise der Umweltbewegung. Zu allem Überfluss hatte mein Doktorvater Joachim Radkau kurz zuvor ein Buch über die Ära der Ökologie veröffentlicht, das im Kern eine große Liebeserklärung an die Umweltbewegung und ihre charismatischen Vorkämpfer war. Das traf die Stimmung nach Fukushima irgendwie besser. Manche haben das Glück, auf einer Welle des Zeitgeists zu reiten, andere werden unter ihr begraben.
Auf dem Markt der öffentlichen Meinung weht ein rauerer Wind als im akademischen Elfenbeinturm, aber das muss man nicht unbedingt negativ sehen. Wer als Wissenschaftler immer nur unter seinesgleichen verkehrt, verliert leicht aus dem Blick, wie rasant sich die Welt da draußen verändert. Als ich mich vor ein paar Jahren mit der Geschichte der deutschen Landwirtschaft beschäftigte, habe ich viel Zeit mit Bauern und Experten unterschiedlichster Provenienz verbracht. Das war nicht immer ein Vergnügen, weil fachfremde Akademiker mit Sympathie für eine Agrarwende seinerzeit in bäuerlichen Kreisen ein gern gepflegtes Feindbild waren. Aber wenn man einfach mal zuhört, kann man aus solchen Gesprächen eine Menge lernen.
Deshalb musste ich nicht lange überlegen, als ich Anfang 2017 von der Redaktion von Focus Online gefragt wurde, ob ich vielleicht als Gastautor über umweltpolitische Themen schreiben wollte. Es lockte nicht nur ein reichweitenstarkes Nachrichtenportal, sondern auch das perfekte Spielfeld für einen Akademiker, der sich immer mal wieder zwischen alle Stühle setzt. Wenn Stefan Rahmstorf für Spiegel Online schreibt, orientiert er sich meist eng an den Orthodoxien von Klimaforschung und Klimapolitik. Bei Focus Online merkte ich beim Blick in die Kommentarspalte ziemlich rasch, dass ich mir um linksliberale Beißreflexe keine großen Sorgen machen musste. Immer wenn ein Artikel erschien, las ich nach ein paar Tagen alle Reaktionen meiner Leser – die Habermas’sche Diskursethik forderte ihren Tribut –, und deshalb wusste ich nach einiger Zeit, was passieren würde, wenn mir die Redaktion die Worte »Trump«, »Merkel« oder »AfD« in den Titel redigierte.
Ein Online-Medium hat sein eigenes Tempo, und daran muss man sich als akademischer Autor erst einmal gewöhnen. Über das Ende der Gewissheiten hatte ich mehrere Jahre lang nachgedacht, und etliche Kapitel wurden in den Diskussionsrunden des Rachel Carson Centers kontrovers diskutiert. Wenn Focus Online anfragte, was ich eigentlich über die Waldbrände am Amazonas dachte, musste hingegen nach ein paar Stunden ein Text vorliegen, auch wenn ich in diesem Fall zum Beispiel gerade auf einer Konferenz in Estland war. Die Themenpalette hing zwangsläufig an den Wechselfällen der Tagespolitik, aber als ich in einem ruhigen Moment ein paar ältere Kolumnen las, fiel mir auf, dass ich da unter der Hand an einer Fortsetzung zum Ende der Gewissheiten schrieb. Nicht alles war über den Tag hinaus von Bedeutung, aber in der Gesamtschau ergab...