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E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Turansky Das Tagebuch von Longdale Manor
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96122-680-1
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-96122-680-1
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carrie Turansky ist bereits mit diversen Preisen für ihre Romane ausgezeichnet worden. Ihre Freizeit verbringt die fünffache Mutter und zwölffache Großmutter am liebsten mit ihrer Familie, im Museum oder in ihrem Garten. Sie lebt mit ihrem Ehemann im US-Bundesstaat New Jersey.
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1
2012
Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Gwen Morris betrat die Etage mit den Büroräumen von einem der renommiertesten Auktionshäuser für Kunst und Antiquitäten in London. Sie verspürte immer noch ein Kribbeln in der Magengegend, wenn sie auf dem Weg zu ihrem neuen Büro den Flur mit der dunklen Vertäfelung entlangging und die ausgestellten Gemälde, Schmuckstücke und Antiquitäten auf sich wirken ließ.
Als sie sich dem Empfangstresen näherte, hob die Rezeptionistin den Kopf. Die Augen der jungen Frau weiteten sich, und sie blickte schnell wieder auf ihren Schreibtisch und kramte in einigen Papieren.
Gwens Schritte verlangsamten sich. „Guten Morgen, MaryAnn.“
„Morgen.“ MaryAnn hob zögerlich den Kopf und erwiderte Gwens Blick. „Ihr Großvater – ich meine natürlich, Mr Morris – bittet darum, dass Sie sofort in sein Büro kommen.“
Ein spürbares Unbehagen erfasste Gwen, aber sie verdrängte das Gefühl. Wahrscheinlich wollte er nur mit ihr über das eine oder andere neue Objekt sprechen oder ihr eine Rückmeldung hinsichtlich ihres ersten Monats als Kunsthistorikern in seinem Auktionshaus geben.
„Danke.“ Sie setzte ihren Weg fort und warf einen Blick durch Charlenes offen stehende Bürotür. Als die ältere Frau sie bemerkte, wurde ihre Miene härter, und sie wandte den Kopf zum Fenster. Das war sonderbar. Normalerweise begrüßte Charlene Gwen mit einem freundlichen „Guten Morgen“ oder wenigstens mit einem Kopfnicken.
Sie ging weiter den Flug entlang und erntete von drei weiteren Kollegen eisige Blicke. Was hatte das zu bedeuten? Ja, das Wetter war trüb und sie alle hatten riesige Berge Arbeit auf den Schreibtischen, aber Gwen konnte sich nicht erklären, warum heute Morgen anscheinend alle übel gelaunt waren.
Sie betrat das Vorzimmer zum Büro ihres Großvaters, wo Mrs Huntington, seine fünfzigjährige Assistentin, den Kopf hob und Gwen ohne erkennbare Gefühlsregung ansah. „Mr Morris hat gesagt, dass Sie direkt hineingehen sollen.“
Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in Gwens Magengegend aus. Das klang überhaupt nicht gut! Sie straffte die Schultern, betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Ihr Großvater blickte von seiner Arbeit auf, und seine grauen Augen musterten sie kühl. Er saß an seinem großen Schreibtisch aus edlem Holz; rechts von ihm die breite, bodentiefe Fensterfront. Dunkelgraue Wolken hingen über den Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite der St. James’s Street, und kleine Rinnsale flossen in einem schwindelerregenden Tanz die Glasscheiben hinab. Der Platzregen draußen schien die düstere Miene ihres Großvaters perfekt zu untermalen.
Er deutete mit dem Kinn auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich, Gwen.“
Ein Schauer lief über Gwens Rücken, als sie der Aufforderung nachkam. Sie sollte ihn wohl fragen, was los war, aber sie konnte sich nicht überwinden, diese Worte auszusprechen.
„Wir haben ein Problem … Ein sehr ernst zu nehmendes Problem, möchte ich hinzufügen.“ Seine buschigen grauen Brauen zogen sich zusammen. „Eines der impressionistischen Gemälde, die wir letzten Samstag versteigert haben …“ Er warf einen Blick auf seinen Computerbildschirm. „ das du als Kopie von Childe Hassams Gemälde mit demselben Namen aufgelistet hast …“
Gwen erinnerte sich noch gut an das Bild und nickte. Hassam war ein amerikanischer Impressionist, der in Großbritannien, Frankreich und in den USA gelebt und gewirkt hatte. Seine Gemälde waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von etlichen Malern kopiert worden.
Ihr Großvater schaute sie eindringlich an. „Es war das Original.“
Schockiert sog Gwen die Luft ein.
„Der Käufer ist natürlich begeistert, dass er einen echten Hassam für ein Zehntel des tatsächlichen Werts ersteigert hat“, fuhr ihr Großvater fort. „Aber Ivan Saunders, der Verkäufer, ist außer sich. Er droht damit, überall zu verbreiten, wie inkompetent wir sind, und will uns sogar anzeigen!“
Gwen starrte ihren Großvater an und versuchte zu schlucken, aber der riesige Kloß in ihrer Kehle machte das unmöglich. Wie hatte ihr ein so schrecklicher Fehler unterlaufen können?
Ihre Gedanken rasten zur letzten Februarwoche zurück, als sie die Stelle angetreten hatte. Nach einem Jahr als Volontärin war es für sie ein großer Schritt gewesen, offiziell als Kunsthistorikerin im Auktionshaus angestellt zu werden. In derselben Woche hatte sie die schmerzliche Trennung von ihrem Freund Oliver verkraften müssen. Dieser Kummer hatte sie viele Stunden Schlaf gekostet, und ihr Verstand war wie benebelt gewesen. War das der Grund, warum ihr nicht aufgefallen war, dass sie einen original Hassam in den Händen gehalten hatte?
„Nun, Gwen, was hast du zu deiner Rechtfertigung vorzubringen?“
„Ich … Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich habe die Herkunft des Bildes geprüft. Dann habe ich es mit anderen Werken Hassams verglichen, den Stil und den Pinselduktus, die Farbwahl und die Größe des Kunstwerks untersucht. In alldem schien es sich deutlich von seinen übrigen Gemälden zu unterscheiden, und es gab keine Signatur. Deshalb nahm ich an …“
„Die Signatur kam zum Vorschein, als der Rahmen entfernt wurde. Das Bild wurde inzwischen als Original verifiziert.“ Ihr Großvater legte die Fingerspitzen aneinander und durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. „Warum hast den Rahmen nicht entfernen lassen und nach einer Signatur gesucht?“
„Der Rahmen wirkte so edel. Ich dachte, er könnte möglicherweise mehr wert sein als das Bild, deshalb wollte ich ihn nicht beschädigen. Und da das Bild keine sichtbare Signatur aufwies, ging ich davon aus, dass es sich um eine Kopie handelte.“
„Hast du im Werkverzeichnis nachgesehen?“
„Ja. Dort stand, dass das Original zu einer Privatsammlung gehört, die im Besitz von … irgendjemandem ist. Ich erinnere mich nicht an den Namen, aber es war definitiv nicht Ivan Saunders.“
„Wenn du Fragen hattest, hättest du mit Charlene sprechen sollen oder deine Einschätzung von jemandem, der mehr Erfahrung hat als du, bestätigen lassen müssen, bevor du das Werk katalogisierst.“
Das Brennen in ihrem Magen stieg nach oben und breitete sich in ihrer Kehle aus. „Charlene war in jener Woche krank und damit nicht verfügbar.“
Ihr Großvater nickte knapp. „Charlene und einige andere Kollegen haben die Objekte geprüft, die du seitdem bewertet hast. Sonst ist nichts Gravierendes aufgefallen, aber das entschuldigt keinesfalls den Fehler, den du bei dem Hassam-Gemälde gemacht hast.“
Gwen senkte den Blick und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte ihren Großvater schwer enttäuscht. Noch schlimmer war, dass sich das bestätigt hatte, was sie eigentlich längst wusste: Sie war nicht gut genug. Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Vielleicht würde sie es niemals sein! Sie hatte diese Stelle nur bekommen, weil sie Lionel Morris’ Enkelin war. Und jetzt, da ihr dieser schreckliche Fehler unterlaufen war, stand sie in Gefahr, die Stelle zu verlieren, die sie sich so hart erarbeitet hatte.
Ihr Herz war schwer vor Schmerz und Bedauern, als sie den Kopf wieder hob und ihren Großvater anschaute. „Du hast recht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich hätte gründlicher vorgehen und den Rat der anderen einholen müssen, statt zu versuchen, es allein zu schaffen.“
„Ich kann nachvollziehen, dass du dich beweisen wolltest, aber das Resultat war leider eine sehr kostspielige Fehleinschätzung. Ich fürchte, du hast deinen Ruf in der Kunstszene und bei deinen Kollegen von erheblich geschädigt.“
Er hatte zwar nicht gesagt aber Gwen konnte diese unausgesprochenen Worte deutlich fühlen. „Es tut mir leid.“ Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern.
„Das ist gleich zu Beginn deiner Karriere ein herber Rückschlag.“
Das war ihr klar. „Was wird jetzt passieren …? Wegen des Bildes, meine ich?“
„Ich habe bereits mit unserer Rechtsabteilung gesprochen.“
Gwens Herz zog sich zusammen. Oliver arbeitete in der Rechtsabteilung. Jetzt war er bestimmt erst recht froh, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte. Alle bei würden sie jetzt als blutige Anfängerin betrachten, die bewiesen hatte, dass sie die Stelle, die man ihr anvertraut hatte, nicht verdiente.
„Dort arbeitet man auf Hochtouren an einer gütlichen Einigung mit Ivan Saunders“, sprach ihr Großvater weiter. „Aber die Sache wird uns teuer zu stehen kommen, und niemand wird das so schnell vergessen.“
Gwen antwortete mit einem langsamen Nicken. Wie hatte ihr so etwas passieren können? Hatte ihr Stolz oder ihre mangelnde Erfahrung zu diesem Fehler geführt? Oder beides?
Sie hob den Kopf und erwiderte den Blick ihres Großvaters. „Was kann ich tun? Wie kann ich das wiedergutmachen?“
Er tippte einige Sekunden lang die Zeigefinger aneinander und betrachtete die regennassen Fensterscheiben zu seiner Linken. „Ich habe eine alte Freundin, Lilly Benderly, die auf Longdale Manor in der Nähe von Keswick lebt. Sie möchte einige Kunstwerke und Antiquitäten verkaufen, kann sich aber das übliche Gutachterhonorar nicht leisten. Da jedoch die Möglichkeit einer künftigen Zusammenarbeit besteht – und weil wir uns schon sehr lang kennen –, möchte ich ihr helfen.“ Er richtete den Blick wieder auf Gwen. „Fahr zu ihr, begutachte die...