Tumler | In einer alten Sehnsucht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Tumler In einer alten Sehnsucht

Ein Südtirol-Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ferruccio Delle Cave
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7099-3743-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Südtirol-Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ferruccio Delle Cave

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3743-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



LITERARISCHE ANNÄHERUNGEN AN DIE ALTE HEIMAT SÜDTIROL
Franz Tumler, in den 1960er Jahren in einem Atemzug mit Günter Grass oder Uwe Johnson genannt, gilt bis heute als einer der wichtigsten Autoren der literarischen Moderne. In Bozen geboren, wuchs Tumler in Oberösterreich auf und lebte ab den 1950ern bis zu seinem Tod in Berlin. Doch in seinem Schreiben hat er sich seiner ursprünglichen Heimat Südtirol beharrlich genähert, in Romanen ebenso wie in Erzählungen, Essays, Reportagen, Gedichten und Tagebuchaufzeichnungen.

SÜDTIROL IN ALLEN FACETTEN DURCH DIE AUGEN FRANZ TUMLERS
Dieser Band versammelt erstmals Franz Tumlers eindrücklichste Betrachtungen zu Südtirol über fünf Jahrzehnte hinweg: von Auszügen aus seiner monumentalen literarischen Landvermessung "Das Land Südtirol" bis hin zu bislang kaum beachteten und unveröffentlichten Texten aus seinem Nachlass. In drei große Themenbereiche gegliedert, verteilen sich die Texte auf die Felder Autobiographie, Ortsbestimmung sowie Sprache und Leben.

Dieser Band ist der sechste in der laufenden Werkausgabe der wichtigsten Werke Franz Tumlers im Haymon Verlag.

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Bisher erschienen in der laufenden Werkausgabe in Einzelbänden von Franz Tumler:
Volterra. Wie entsteht Prosa
Nachprüfung eines Abschieds
Aufschreibung aus Trient
Der Schritt hinüber
Hier in Berlin, wo ich wohne
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Tumler In einer alten Sehnsucht jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Jahrgang 1912
autobiographische Prosa, 1967 Zwischen Angehörigen desselben Jahrgangs gibt es eine Art Brüderschaft und Ähnlichkeit, die nichts mit persönlichen Eigenschaften zu tun hat oder ihnen doch entfernter ist als das Erbteil von Eltern, Abstammung, Heimat, Erziehung, oder das eigene Erlebnis – trotzdem geht in jedem Menschen etwas mit von dieser Ziffer seines Geburtsjahres, so als hätte auch Chronos ihn mitgezeugt und miterzogen. Es ist etwas von außen, das den einzelnen hier erfaßt; und es scheint mir kein Zufall zu sein, daß sich ebendieses Wort „Erfaßtwerden“ dort einstellt, wo uns das Wort „Jahrgang“ im gewöhnlichen Leben begegnet. „Erfassung des Geburtsjahrganges 1946 zur Ableistung der allgemeinen Wehrpflicht“, lese ich von einem Plakat. Ich las es im Frühjahr 66 bei einem Besuch in meiner österreichischen Heimat, las es in Westdeutschland, las es drüben in Ostberlin, als ich dahin meinen Weg machte von meiner Wohnung im westlichen Teil der Stadt; und ich las es anderthalb Jahre zuvor mit einer anderen Ziffer in meiner Geburtsheimat Südtirol, und dort zweisprachig: italienisch und deutsch. Ich glaube, ich bin hier bei einer ersten wichtigen Sache, durch die das Schicksal des einzelnen von seinem Geburtsjahrgang her in unserem Jahrhundert bestimmt worden ist. Österreich hatte wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg 17 Jahre lang ein Berufsheer. In beiden Staaten wurde die allgemeine Wehrpflicht ungefähr zur selben Zeit, 1935, eingeführt. Mein Jahrgang 1912 wurde davon nicht mehr betroffen. Es gab die um weniges jüngeren Jahrgänge, die damals, oder in den Jahren darauf, eingezogen wurden und dann, 1939, entweder sofort aufgerufen wurden oder gar nicht erst nach Hause entlassen wurden; für sie kamen nach den zwei Wehrdienstjahren die viereinhalb Kriegsjahre und dann vielleicht noch Jahre der Gefangenschaft. Es waren die Jahrgänge mit den höchsten Verlusten. Und auch wer überlebte, für den war es, wenn er dann endlich heimkehrte, das halbe Leben gewesen. Der Jahrgang 1912 war besser dran. Er wurde auch 1939 nicht generell eingezogen: Es gab Möglichkeiten des Aufschubs. Ich selber erhielt meinen Einberufungsbefehl im Juni 1941. Ich kam zur Marine-Artillerie, zuerst zur Ausbildung nach Holland, dann an die Deutsche Bucht, später an die französische Küste. Das Kriegsende erlebte ich in einer Flakstellung am Jadebusen bei Wilhelmshaven. Ich erwähne diese Daten, weil sie mir Gelegenheit geben, über das Persönliche hinaus etwas Allgemeines zu dem Thema „Jahr und Jahrgang“ zu sagen, das, wie mir scheint, beachtet werden muß. Es ist folgendes: ich kann von meiner eigenen Kriegsteilnahme behaupten, daß ich glimpflich davongekommen bin. Ich kann – wie ich es vorhin getan habe – weiter sagen: das hängt mit meiner Zugehörigkeit zum Jahrgang 12 zusammen, der nicht unter die Wehrpflicht fiel usw. – Aber wenn ich näher zusehe, kann ich dieses „glimpflich Davonkommen“ doch nicht allein dem Jahrgang zuschreiben. Andere Umstände spielten mit, so dieser eine, an dem ich einigermaßen deutlich machen kann, was ich meine. Es gab bei der Kriegsmarine zwei Gruppen Soldaten: die einen hatten vor ihrer Stammrollennummer den Buchstaben „N“, die andern den Buchstaben „O“. „N“ hieß „Marinestation Nordsee“, sie hatte ihren Sitz in Wilhelmshaven. „O“ war die „Marinestation Ostsee“ mit dem Sitz in Kiel. Die „Marinestation Nordsee“ schickte ihre Einheiten zu den westlichen Küsten bis zum Golf von Biskaya; die „Marinestation Ostsee“ zu den östlichen Küsten (erst in den letzten Kriegsjahren wurde diese Einteilung nicht mehr gehalten) – und wer ein „O“ vor seiner Nummer hatte, mußte damit rechnen, ins Baltikum geschickt zu werden und bis vor Leningrad, nach Finnland und ans Nördliche Eismeer. Er wurde in den russischen Krieg verwickelt. Ein „N“ zu haben war eine Chance mehr. Das stellte sich erst zuletzt heraus bei der Rückflut von Königsberg und Danzig. Ich hatte ein „N“, das war Zufall. Man sieht an dem Beispiel, wie das Thema „Jahr und Jahrgang“, wenn man genauer überlegt, was sich da Typisches von dem einzelnen Fall ableiten ließe, in Frage gestellt wird. Unendlich viele Dinge: Zufälle, der Platz im Alphabet, in der Liste, in der Reihe, an dem man steht, wenn einem die „Erkennungsmarke“ zugeteilt wird, lassen eine allgemeine Bestimmung gar nicht zu. Auch nicht in einer solch äußeren Sache wie der Ausmusterung für den Kriegsdienst, um wieviel weniger in der Verflochtenheit des Persönlichen, das den Weg des Menschen im ganzen bestimmt. Vielleicht ist der Vergleich, der mir dazu einfällt, gewagt, aber ich möchte sagen: der einzelne trägt das Kleid seines Jahrganges kaum anders als das Kleid der Mode, die in diesem Jahr dran ist. Er kann sich ihm allerdings auch kaum entziehen. So ähnlich, scheint mir, ist es mit der Zugehörigkeit eines Mannes zu seinem Jahrgang. Und trotzdem sieht man, wenn man seine Fotos aufschlägt aus diesem oder jenem Lebensalter, zuerst sein Kleid und dann darin ihn selbst. So viel zur Begrenzung des Themas und zur nur bedingungsweisen Gültigkeit der Ansichten, die aus ihm gezogen werden können. Es ist, glaube ich, wichtig, diese Einschränkung zu machen. Nur dann kann man beim Erzählen persönlicher Erfahrungen abschätzen, wieviel von der eigenen Figur mitgeprägt und mitbestimmt wurde durch den Habit des Jahrgangs. Ich sagte als erstes bisher, zu meinem Jahrgang 12 gehöre es, daß er im allgemeinen durch den Krieg weniger betroffen wurde als die Jahrgänge nach ihm. Nun komme ich zu einer zweiten Sache, bei der es sich umgekehrt verhält. Von ihr wurde mein Jahrgang ungleich stärker, als ich es mir von Älteren oder Jüngeren vorstellen kann, in Mitleidenschaft gezogen: das war die Politik. Ich habe den Ausdruck „Mitleidenschaft“ gebraucht und will später noch zeigen, warum. Zunächst aber möchte ich auch für diese Sache der Politik ein anschauliches Beispiel bringen: wir Angehörige des Jahrganges 12 waren die ersten, nach 1918 groß gewordenen Leute, die nicht mehr demokratisch gewählt haben. Wenigstens war das in Österreich so. In Deutschland gingen die Dinge ähnlich, nur mit verschobenen Akzenten, da gab es noch die von Hitler verordneten Plebiszite mit suggestiven Fragestellungen wie nach der Saarabstimmung, die den Charakter einer Wahl nicht mehr hatten. In Österreich fiel auch das weg. Dort wäre im Sommer 1933 eine Nationalratswahl fällig gewesen, bei ihr wäre mein Jahrgang zum erstenmal stimmberechtigt gewesen. Die Wahl fand nicht statt, denn inzwischen hatte, am 4. März 1933, die Regierung Dollfuß mit einer Manipulation der Geschäftsordnung das Parlament lahmgelegt; der Vorgang war so: daß der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter (der Sozialdemokrat Dr. Renner, der Christlichsoziale Ramek, der Großdeutsche Straffner) im Zug der Debatte ihren Rücktritt erklärt hatten; nun sei es – so ließ die Regierung verlauten – weder möglich, die Sitzung weiterzuführen, noch sie zu vertagen, noch den Nationalrat neu einzuberufen; theoretisch dauerte die Sitzung noch an, nur war niemand befugt, sie zu leiten; praktisch gingen die Abgeordneten formlos auseinander. Ein paar Jahre später wurden sie mit einer Art Notstandsklausel wieder zusammengerufen, nur zum Schein: denn inzwischen waren die sozialdemokratischen Mandate für ungültig erklärt worden, und die christlichsozialen Mandatare konnten mit ihrer auf diese Weise hergestellten Mehrheit eine ihnen vorgelegte Ständestaats-Verfassung zu einem Gesetz machen. So wurde bei uns der Faschismus eingeführt: auf dem Verfahrensweg sozusagen und auf Verwaltungsebene, und das war für Österreich typisch. Nicht typisch war, daß sich die Österreicher in jenen Jahren nicht mehr bloß verwalten lassen wollten. So kam es im Februar 1934 zum Aufstand der österreichischen Sozialdemokraten, er begann im Linzer „Zentralkino“, einem Haus, das ich genau kannte, denn dort hatte ich von Schulzeit auf alle Filme gesehen, die mich interessierten. In diesem Haus war das Parteiheim der SPÖ. Es sollte in den Morgenstunden des 12. Februar von der als Hilfspolizei deklarierten Starhemberg-Heimwehr und von Polizei besetzt werden. Aber da schoß um 9 Uhr früh aus dem an die Mauer geklebten Beton-Erker, in dem sich der Filmvorführapparat befand, ein Maschinengewehr auf das anrückende Besetzungskommando. Und drei Tage später, am Ende des Februaraufstandes, schoß in Wien das Bundesheer mit Artillerie auf die zu Festungen ausgerüsteten Arbeiterwohnungen. 300 Tote. Fünf Monate später, im Juli 34, besetzte eine im Untergrund zusammengezogene Gruppe nationalsozialistisch organisierter Soldaten des Bundesheeres das Kanzleramt auf dem Ballhausplatz, die Regierung wurde überwältigt, der Bundeskanzler Dr. Dollfuß, ein Mann aus der Landwirtschaft, der mehr Intelligenz hatte, als man ihm nachsagte, wurde bei dem nie ganz geklärten Vorgang ermordet. Den Putschisten wurde im Namen des designierten Kanzler-Nachfolgers Dr. Schuschnigg, wegen der prekären Lage auf dem Ballhausplatz, von der Straße zum Balkon hinauf, freier Abzug versprochen. Aber dann wurden sie, als sie das Haus ohne Waffen verließen, unter Berufung auf den Mord an Dollfuß – als einer Grausamkeit, die, jetzt erst bekannt, die Lage völlig veränderte – verhaftet, und dann wurde ihnen der Prozeß gemacht, und ihre Anführer wurden gehängt. Andere, die in Wien und auswärts mitgetan hatten: Bauernsöhne und Holzknechte aus der Steiermark und aus Kärnten, entkamen mit Hilfe der ein halbes Jahr zuvor zusammengeschlagenen sozialistischen Aufständischen in die Tschechoslowakei; sie wurden z. T. per Faltboot von den Auen unterhalb Wiens nach Preßburg gebracht und von dort...


Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, aufgewachsen in Linz, lebte ab Mitte der 1950er Jahre in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Seine wichtigsten Werke, die bis heute als Wegweiser moderner Erzählliteratur gelten, werden bei Haymon neu aufgelegt.



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