Tumler / Bernhart | Hier in Berlin, wo ich wohne | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Tumler / Bernhart Hier in Berlin, wo ich wohne

Texte 1946-1991

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3573-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In sprachlich einzigartigen Betrachtungen schildert einer der großen Autoren der deutschsprachigen Moderne seine Wahlheimat. Der Südtiroler Franz Tumler verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens in Berlin. Dort teilte er den Kneipentisch mit Gottfried Benn, kam später mit Autoren wie Uwe Johnson, Günter Grass oder Peter Härtling zusammen. Seine Werke standen in einer Reihe mit den ihren.
Dieser Band versammelt Essays, Erzählungen, Reportagen und Gedichte von Franz Tumler, die Berlin zum Thema haben, darunter auch unveröffentlichte Texte und Skizzen. Seine Themen sind vielfältig: von Zeit- und Alltagsgeschichte im geteilten Deutschland über das literarische Leben in Berlin bis zu Tumlers schriftstellerischer Wende hin zur erzählerischen Moderne, die für seine großen Romane stilbildend ist. In seinen Berliner Texten zeigt Franz Tumler im Kleinen, was seine Romane für Publikum und Kritik beispiellos gemacht hat - schlicht das Leben in ebenso kunstvoller wie sinnlicher Sprache.
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Die Zeit der Einsicht
1946, veröffentlicht 1952 Das Dasein, in dem keine Richtung und Entwicklung entschieden vorgreift, dauert schon sehr lange. Ich glaube, es wird noch länger dauern. Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, wie einer die Zeit äußeren Stillstandes, diese Zeit des Aufenthaltes in einem Niemandsland gewissermaßen, nützt. Ich möchte sie benützen um Einsichten zu gewinnen weniger mit dem Verstand als mit dem ganzen Trachten meiner Person. Ich sage mir: in dem inneren Stand, in den ich mich jetzt bringe, werde ich später auf lange Zeit hin endgültig sein. Schon der Krieg war für mich eine solche Zeit der Einsicht, und nichts hätte sie mir mehr fördern können als die Abgeschiedenheit des Lebens damals; ich habe sie aufgesucht und mich zu ihr hingenötigt. Dann kam die andere Zeit; ich muß sie nochmals als einen Umstand wahrnehmen, der mich genauer das werden läßt, was ich werden soll. Zuweilen denke ich: je näher ich dem Nichts komme, umso unabhängiger und furchtloser kann ich sein. Manchmal aber fliegt mich eine Ahnung an, als wäre die Entschlossenheit zum Nichts heute schon eine veraltete Erscheinung, die noch fortgeistert in der Welt, während der wahre Ort des Menschen an anderem Punkte gegründet wird. Dann sage ich mir, ich dürfte den äußeren Dingen nicht zuviel Einfluß auf den inneren Kern der Person gestatten. Dies aber ist eine täglich zu leistende Arbeit und ist eine Frage der Gesundheit und Geduld im weitesten Sinne. Eine Handlung traue ich mir heute zu, wenn sie auf ein tägliches nahes Bedürfnis gerichtet ist. Wenn ich ein Ding, das außerhalb dieses Kreises liegt, betrachte, werde ich unsicher, gar, wenn ich Handlungen sehe, die aufs allgemeine gerichtet sind. Einer Macht, die im allgemeinen wirkt, mich anzuvertrauen, bin ich nicht fähig, weil ich sie nicht durchschauen kann wie mich selber. Dies ist ein sehr schmaler Grund, auf dem ich stehe. Ich will versuchen, ihn mir im einzelnen Satz für Satz vorzustellen. Das Dasein, sagte ich, in dem keine Richtung und Entwicklung vorgreift, dauert schon sehr lange, es wird noch länger dauern. Ich sehe nicht, daß die zusammengeschlagene Welt wieder aufgebaut wird. Zwar strenge ich mich wie jedermann an, daß ich mich in dem Vorhandenen notdürftig einrichte, aber über das Dringende hinaus eine Einrichtung auf Dauer zu berechnen, dafür bringe ich die Zuversicht nicht auf, weil ich sehe, daß die Zeit einer solchen Absicht entgegen ist. Ich bin geneigt, diesen Zug der Zeit für ein Streben nach Umbau zu halten; eher ist mir davon gewiß, daß dieser Umbau noch einmal für jeden Zerstörung und Abbruch bedeuten kann. Merkwürdig ist das Verhalten des einzelnen Menschen in dieser Lage. Er hat zwar genug von den überstandenen Schrecken und möchte Ruhe haben. Aber er weiß, daß es Ruhe nicht geben wird, und richtet sich darauf ein, neuen Schrecknissen zu begegnen. Er tut es ohne Widerstand und ohne zu zögern und auch ohne genau zu fragen, von wem die fortwährende Unruhe ausgeht, wo doch jeder nur die Ruhe wünscht. In diesem Verhalten, scheint mir, beweist der einzelne Mensch, daß er die Art des Vorgangs richtig einschätzt; er schreibt ihn einem unablenkbaren Wettlauf zu. Hier muß ich eine Anschauung anführen, die sich in mir über diese Dinge gebildet hat. Ich sehe nicht, daß irgendwo Halt gemacht wird in einem Sinne, der das Wenige an Leben, das heil geblieben ist, schützt und bei diesem Wenigen anfängt. Im Gegenteil sehe ich, daß seit langem bestimmte Entwicklungen vorwärtsgetrieben werden, gleichgültig unter welcher Regierungsform und in wessen Namen sie geschehen. Es kommt mir so vor, als ob die Entwürfe der Staatsmänner und die Vorsätze der Völker dem wirkenden Geist der Geschichte nur zu Vorwänden dienen. Ich sehe ein unbekanntes Etwas am Werk, das abwechselnd die entgegengesetzten Strebungen als Mittel gebraucht, um eine umfassende Verwandlung des Menschen Schritt für Schritt zu vollziehen. Weil ich diese Einsicht habe, liegt mir wenig daran, der einen oder anderen Richtung zu helfen; gewiß ist mir vielmehr, daß alle Handlungen, gleich mit welcher Absicht sie begonnen werden, so einem Ziele beitragen, das von jeder Absicht unabhängig ist. Davon eben kommt es, daß ich zögere, in einer bestimmten Entwicklung vorzugreifen. Ich bin mit der Schicksalsmacht in einem tieferen Grunde einverstanden und kann einem menschlichen Plan, den Geschicken zu steuern, kein Zutrauen schenken. Umgekehrt sogar muß ich mir eingestehen, daß ich den Gehalt dessen, was im Augenblick geschieht oder jüngst geschehen ist, gar nicht einsehen kann. Was dies betrifft, so ist es vielleicht möglich zu sagen, daß in der Zeit ab 1914 alle Völker in Europa sich vereinigt haben, ihre herkömmlichen Ordnungen zu vernichten, ihre Städte zu zerstören, die festen Menschen-Heimaten aufzulösen und die geschlossenen Volkskörper durcheinanderzumischen, wobei sie zuweilen entgegengesetzte Absichten bekundeten – und auch entgegengesetzte Handlungen ausführten –, aber trotzdem nicht weniger erfolgreich bei dieser Arbeit waren, zu der noch gehört, daß die Menschen sich entschlossen haben, in Armut zu leben: ohne feste Wohnungen, ohne Eigentum, ohne Sicherheit und Freizügigkeit der Person, welche Dinge alle sie zuerst durch Willkür, dann durch Verordnungen, die sich scheinbar notwendig ergaben, abgeschafft haben. Was aber eigentlich geschieht, indem dies alles sich vor unsern Augen vollzieht, können erst spätere Zeiten einsehen. Ich glaube nun, daß es sehr wichtig ist, wie einer die Zeit äußeren Stillstandes, diese Zeit des Aufenthaltes in einem Niemandsland, nützt. Falsch wäre es, in den Zeiten des Stillstandes gewaltsam nach Handlungen zu drängen. Jeder Erfolg wäre ein Scheinerfolg, jedes Ergebnis eine Einbildung. Besser ist es, auf solche Beruhigung zu verzichten, anstatt den Verstand zur Erzeugung des Scheinhaften zu gebrauchen. In höherem Rang stehen die Mittel, die dem menschlichen Leben Nähe und Wärme geben: Bescheidung, Häuslichkeit, der fromme, den kleinen Gewährungen des Täglichen zugewandte Sinn, die einfache Arbeit. Dazu möchte ich sagen, daß ein Mensch, der körperlich arbeitet, für gewöhnlich nüchtern und zuverlässig urteilt; er kann mehrere Parteien hören. Der Fußbreit Bodens, den der Arbeiter mäht, die Schraube, die er in den Traktor eingesetzt hat, sind ihm wirklicher als eine zugespitzte Rede. Hier herrscht eine reinere Stimmung, die in jedem Fall die Kräfte spart. Ich sagte, ich möchte diese Zeit benützen, um Einsichten zu gewinnen, weniger mit dem Verstand als mit dem ganzen Trachten meiner Person. Dieser Vorsatz erfordert Ausdauer und Vorsicht. Die Einsichten, die gewonnen werden, sind zunächst oft nicht faßbar, aber die Ungeduld darüber muß hintangehalten werden. Jemand, der sich auf solche Weise vorbereitet, gleicht einem Manne, der in einer dunklen Kammer seine Kleidung auswählt. Er kann sich die Stücke anpassen, aber er kann sie nicht sehen. Wie er aussieht in ihnen, wird er erst gewahr werden, wenn er ans Licht tritt. In dem Beispiel ist vieles enthalten, was von unserer Lage zu sagen ist: die Unsicherheit, der wir ausgesetzt sind, ebenso wie die Wachsamkeit, die wir aufbringen müssen, aber auch die Möglichkeit der Überraschung, die wir uns bereiten können. Ich sage mir: in dem inneren Stand, in den ich mich jetzt bringe, werde ich später auf lange Zeit hin endgültig sein. Das kann eine Einbildung sein, ein Umweg, mit dem ich meine Zuversicht anfeuere. Aber der Satz entspricht der alten Wahrheit, daß jede Verwandlung schon vollzogen ist, ehe sie sichtbar wird, jedes Ding entschieden ist, ehe es geschieht. In der Art, wie einer stillhält, wird ausgemacht, was er später tun wird. Kein Augenblick ist gleichgültig, kein Einfall bleibt ohne Spur. In den Zeiten des Handelns ist Aufmerksamkeit weniger nötig als in den Zeiten, die der Handlung vorausgehen. Es gibt in unserem Leben jetzt keinen Tag, der unbewacht verstreicht. Schon der Krieg war für mich eine solche Zeit der Einsicht, und nichts hätte sie mehr fördern können als die Abgeschiedenheit des Lebens damals; ich habe mich zu ihr hingenötigt. Damals war es, daß ich jenes Einverstandensein, von dem zu Anfang die Rede war, gelernt habe, und daß es mich zu Freundwilligkeit und Einsamkeit gleichermaßen erzogen hat. Ich habe gelernt, daß die Menschlichkeit das einzige Gut ist, das mir in meinem Rang zu verteidigen zukommt, und daß mich nur das ehrenhafte Gewissen rechtfertigen kann, dem nichts hinzugefügt wird. Ich bin darum gegen die Hinzufügung von Meinungen, Überzeugungen und Glaubenssätzen abweisend geworden und habe mich an jenen Ort begeben, an den sie mir nicht nachgekommen sind. Je länger ich so mit den einfachen Leuten gelebt habe, bei einfachen Beschäftigungen und abgetrennt an entlegenen Punkten, desto unangefochtener dufte ich innen sein. Wenn ich heimgekommen war, bin ich hellhörig gewesen, und wenn ich dorthin wieder zurückgekehrt war, habe ich gewußt, wie ich gleich allen, mit denen ich das Leben geteilt habe, von dem weltlichen Stand fortgerückt worden bin in eine Art geistlichen Stands – wenn dieses Wort nicht mißzuverstehen ist; – und in ihm sind wir verblieben. Dann kam die andere Zeit. Ich muß sie nochmals als einen Umstand wahrnehmen, der mich genauer das werden läßt, was ich werden soll. ...


Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, übersiedelte 1913 mit seiner Mutter nach Linz und lebte ab Mitte der 1950er Jahre in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Als Direktor der Sektion Literatur in der Akademie der Künste war er ein wichtiger Protagonist des literarischen Lebens in Berlin. Seine Romane und Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet und gelten bis heute als Marksteine moderner Erzählliteratur, u.a. Der Mantel (1959), Volterra. Wie entsteht Prosa (1961, HAYMONtb 2011) sowie die Romane Nachprüfung eines Abschieds (1961, Haymon 2012), Aufschreibung aus Trient (1965, Haymon 2012) und Der Schritt hinüber (1956, Haymon 2013).


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