E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Tschinderle Albanien
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7076-0763-5
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aus der Isolation in eine europäische Zukunft
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0763-5
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Partisanenstatuen neben Werbeplakaten, Moscheen neben Kirchen, Wahlkampf im Fußballstadion und Flu?chtlingslager mit Swimmingpool: Die Journalistin Franziska Tschinderle zeigt in ihren Reportagen u?ber Albanien den Weg des Landes aus der Selbstisolation und stalinistischen Diktatur unter Enver Hoxha hin zu einer jungen Demokratie in Europa.
Kaum ein anderes Land in Europa hat sich in ju?ngster Zeit so radikal gewandelt wie Albanien. Fast ein halbes Jahrhundert war es vom Rest der Welt isoliert. Religionen, Reisen und Rockmusik waren verboten, Stalins Lehre hingegen Pflicht. Heute sind Straßen nach US-Präsidenten benannt und Albanien ist EU-Beitrittskandidat.
Vor 30 Jahren brach die kommunistische Diktatur zusammen, nun zieht Franziska Tschinderle Bilanz und findet Antworten auf zentrale Fragen: Wie sieht das Albanien von heute aus? Wer bestimmt das politische Geschehen? Und warum wollen so viele junge Menschen von dort wegziehen, wo doch der Tourismus zu wachsen beginnt?
Franziska Tschinderle, geboren 1994 in Villach, studierte Journalismus und Zeitgeschichte in Wien. Sie arbeitet als Journalistin mit dem Schwerpunkt Su?dosteuropa. Ihre Reportagen aus Kosovo, Serbien, Albanien sowie anderen Ländern dieser Region sind u. a. in der »ZEIT«, »Le Monde Diplomatique« sowie bei »Ö1« erschienen. Tschinderle lebt als Korrespondentin in Tirana und ist unter anderem für das Auslandsressort des österreichischen Nachrichtenmagazins »profil« tätig.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 2
EIN DRITTES MAL EDI RAMA
Als Basketballspieler war er Teamplayer, als Künstler debattenfreudig. Jetzt, bei Antritt seiner dritten Amtszeit als Albaniens Ministerpräsident, muss sich Edi Rama der Frage stellen: Hat er als Politiker beides verlernt? Edi Rama sieht nicht so aus, als hätte er Lust auf dieses Interview. Der zwei Meter große Mann ist tief in seinem Sessel und sein Smartphone versunken, eine runde Brille auf der Nase, vor ihm ein unaufgeräumter Schreibtisch voller Filzstifte. Seit der Corona-Pandemie ist das mit den Begrüßungsritualen so eine Sache. Menschen haben sich an den peinlichen Moment gewöhnt, an dem man sich uneins ist, wie man einander Hallo sagen soll. Mit Händedruck? Mit Ghetto-Faust? Mit Ellbogen? Mit einer verkrampften Verbeugung? Bei Rama muss man sich darüber keine Gedanken machen. Er bleibt sitzen und steht gar nicht erst auf. Kein Smalltalk, keine Begrüßungsworte, einfach nur Schweigen. Menschen, die mit Rama arbeiten, erzählen, dass Albaniens Ministerpräsident ein sehr launischer Mensch sei, abhängig von seiner Tagesstimmung. »Es war neun Uhr am Morgen und da kam dieser super aufgelegte Typ zur Tür rein«, sagt jemand, der Rama kürzlich für Gespräche getroffen hat, »wir waren überrascht, wie freundlich, aufmerksam und gut vorbereitet er war. Ich wusste ja, dass er auch ganz anders kann.« Rama hat gute und schlechte Tage. Heute, so scheint mir, ist ein schlechter Tag. Vielleicht schweigt Rama so penetrant, damit ich Zeit habe, sein Büro auf mich wirken zu lassen. Es ist fünf Uhr nachmittags und die Jalousien sind vollständig heruntergezogen. Im Eck steht ein Kleiderständer voller bunter Krawatten, manche davon mit knalligen Motiven bedruckt. Die Wände sind – vom Boden bis zur Decke – mit Ramas Malereien bedeckt: Zeichnungen aus feinen Filzstiftstrichen, die an bunte Organe aus einem Biologielehrbuch erinnern. Im Vorraum hängt ein Basketballkorb, im Flur steht ein Käfig mit zwei grauen Papageien namens Pipu und Lulu. Wenn sie kreischen, klingt es, als würde im Haus der Feueralarm losgehen. Für einen Ministerpräsidenten haben Sie ein sehr
unkonventionelles Büro. Rama: Ich bin nicht wie die anderen. Ich bin sehr groß. Ich
bin der beste Künstler unter den Politikern. Ich sollte ein Büro
haben, das anders aussieht, oder? Sind Ihre Gäste geschockt, wenn sie hier reinkommen? Rama: Ich kann mich an den einen oder anderen erinnern, ja. Seit acht Jahren regiert Rama, ein ehemaliger Basketballspieler und Künstler, Albanien von diesen Räumlichkeiten aus. Im Holz des Schreibtisches ist immer noch das alte Staatswappen aus der Zeit der Diktatur eingelassen: ein Doppeladler mit Stern in der Mitte. Demokraten vs. Sozialisten:
Albaniens Parteien
Ramas Sozialistische Partei, die Partia Socialiste e Shqipërisë (PS), hat ein schweres Erbe zu tragen. Sie ging direkt aus Enver Hoxhas Einheitspartei hervor und benannte sich 1991 lediglich um. Damals, bei einem historischen Parteienkongress, wurde Hoxhas Kurs erstmals öffentlich kritisiert, einzelne Politbüro-Mitglieder ausgeschlossen sowie Hammer und Sichel aus dem Parteiemblem verbannt. Ramas Vater Kristaq, von Beruf Bildhauer, meißelte während der Diktatur Partisanenbüsten und Kriegerdenkmäler. Sein Sohn Edi hingegen begehrte gegen die Kommunisten auf und schloss sich als junger Kunstprofessor der Demokratiebewegung an. Später machte er doch noch bei den Sozialisten Karriere: zuerst als Kulturminister (1998), dann als Bürgermeister von Tirana (2000–2011) und seit 2013 als Ministerpräsident. Albaniens Politik ist heute in zwei Farben geteilt: in Violett, die Farbe von Ramas Sozialisten, und in Blau, die Farbe der oppositionellen Demokraten, der Partia Demokratike e Shqipërisë (PD). Ihr Gründer, Sali Berisha, einst der große Hoffnungsträger der Wende, ist mittlerweile 77 Jahre alt und immer noch in der Politik tätig. Seit Albanien vor drei Jahrzehnten demokratisch wurde, stehen sich Sozialisten und Demokraten als verfeindete Parteienblöcke gegenüber. Sie haben (mit einer einzigen Ausnahme im Juni 1991) noch nie gemeinsam regiert und zeichnen sich durch einen Mangel an Dialog- und Kompromissbereitschaft aus. Charakteristisch für die politische Kultur in Albanien sind gegenseitige Anschuldigungen sowie der Boykott von Wahlen und des Parlaments. Anders als in Westeuropa spielen Ideologien, also die Frage, ob man sich als »links«, »rechts«, »konservativ« oder »liberal« bezeichnet, eine nachrangige Rolle. Entscheidend sind Klientelnetzwerke und persönliche Vorteile, etwa das Versprechen, Jobs im öffentlichen Sektor zu schaffen. So ist Ramas Partei zwar Teil der Sozialistischen Internationale, betreibt aber eine unternehmerfreundliche und gewerkschaftsfeindliche Politik. Auch die Demokraten wurden ihrem Namen nicht immer gerecht. Während ihrer Regentschaft wurden im Jahr 2011 vier Demonstranten vor dem Regierungssitz erschossen. Die PS wird heute tendenziell von Sozialdemokraten, die PD von Christdemokraten in Europa unterstützt. Abseits von Etikett und Farbe sind die beiden Parteienblöcke ideologisch schwer zu trennen. Politische Beobachter vergleichen sie mit Coca-Cola und Pepsi. In den letzten 30 Jahren hat in Albanien kein Elitenwechsel stattgefunden. Im Jahr 2004 ist mit der »Sozialistischen Bewegung für Integration« (LSI) zwar eine dritte Kraft entstanden, allerdings gilt diese als »Königsmacherin«, da sie einmal den Demokraten, einmal den Sozialisten zur Mehrheit verhilft. Seitdem die LSI von der Frau des amtierenden Präsidenten Ilir Meta geführt wird, steht dieser in der Kritik, sein Amt nicht neutral auszuüben. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum die Politikverdrossenheit in Albanien groß ist. Anders als im Kosovo, wo neue Kräfte die alten Eliten der Kriegskommandanten abgelöst haben, ziehen in Albanien mitunter immer noch dieselben Personengruppen die Fäden wie vor 25 Jahren. Seit der Wende hat sich kein Regierungschef länger gehalten als Edi Rama. »Solange ich noch das Feuer in mir spüre, mache ich weiter«, sagt er im Interview mit mir. Und: »Wenn ich müde werde, dann gehe ich.« Er klingt müde, während er das sagt. Dabei hätte Rama allen Grund zur Freude. Als ich Albaniens Ministerpräsidenten im Herbst 2021 treffe, ist er auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Ramas Gegenspieler, der Oppositionsführer Lulzim Basha, gilt derzeit als äußerst unbeliebt bei der Parteibasis. Ramas zweiter Rivale auf dem heimischen Parkett, der in die Jahre gekommene Sali Berisha, wurde von den USA wegen Korruptionsvorwürfen mit einer Einreisesperre belegt. Während die Opposition mit Flügelkämpfen beschäftigt war, reiste Rama nach Washington und machte mit der Verlautbarung, Tausende Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen, Schlagzeilen (siehe Kapitel Hotel Afghanistan, S. 44). Zuletzt gab es viel Gerede über Albaniens neues Kabinett, das zu 75 Prozent aus Frauen besteht – ein Weltrekord. Dabei ist Rama alles andere als ein Feminist. Er ist für seine sexistischen Witze bekannt und hat Aktivistinnen, die seine Regierung kritisierten, als »gackernde Hühner« bezeichnet. Jetzt profitiert ausgerechnet er vom Image eines progressiven Politikers. Die albanische Feministin Gresa Hasa bringt dafür kein Verständnis auf. In einem Artikel für das Onlineportal Kosovo 2.0 schreibt sie: »Rama ist weder ein Sozialist noch ein Feminist. Er benutzt Frauen nur, wenn sie ihm in die Agenda passen.« Der Rama hinter den zugezogenen Jalousien dementiert das. Denken Sie, dass Frauen die besseren Politikerinnen sind? Rama: Die Besetzung des Kabinetts mit so vielen Frauen war
keine Strategie. Es ging darum, die richtigen Leute für die
richtigen Posten zu finden. Und jetzt sitzen eben mehr Frauen
als Männer dort. Pragmatische, knapp gehaltene Antworten: So ist Rama, wenn er Interviews gibt. Lassen sich damit Wahlkämpfe gewinnen? April 2021: Auf Wahlkampftour
Dafür muss man in den April 2021 zurückblicken. Für profil und das Schweizer Magazin Republik begleite ich Ramas Wahlkampfteam gemeinsam mit dem Fotografen Ilir Tsouko für einige Tage aus nächster Nähe. Ilir und ich sehen dabei zu, wie Rama in Jogginghosen aus seinem gepanzerten Fahrzeug steigt und Reden mit Baseballkappe in Fußballstadien hält. Dafür bekommen wir einen schweigsamen Fahrer an die Seite gestellt. Sein Job ist es, immer eine halbe Stunde früher vor Ort zu sein als der Ministerpräsident. Der Chauffeur rast über holprige Bergstraßen, als wäre der Teufel hinter ihm her. Ilir und ich klammern uns am Türgriff fest und versuchen mit...