Tschiersch | Rita und die Zärtlichkeit der Planierraupe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Tschiersch Rita und die Zärtlichkeit der Planierraupe

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-07257-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine wunderbare Geschichte vom Fortgehen und vom Ankommen – und vom großen Wagnis der Liebe.Wie jedes Jahr gewinnt Ewald Fricker auch beim diesjährigen Sommerfest der Allgäuer Kiesgrube, in der er arbeitet, den Pokal im Wettplanieren. In Ratzisried hält man ihn für einen Deppen, doch Ewalds großer Traum ist es, an der Deutschen Meisterschaft im Präzisions-Planieren an der Ostsee teilzunehmen. Dieser Traum platzt, als Kiesgrubenchef Karl Zwerger der Belegschaft mitteilt, dass er in Insolvenz gehen muss. Nur seine Disponentin und Geliebte Rita Zieschke weiht er ein, dass die Pleite vorgetäuscht ist: Zwerger hat das Geld beiseite geschafft, um mit Rita ein neues Leben zu beginnen. Kurzerhand fährt Ewald nachts heimlich vom Hof, in Richtung Norden. Am nächsten Morgen fehlt die Planierraupe, und Zwerger schickt Rita mit seinem Porsche los, um ihn und die Raupe wieder herbeizuschaffen. Bald stößt Rita auf Ewalds Spur, doch es gelingt ihm immer wieder, Rita ein Schnippchen zu schlagen – und schon befinden sich die beiden auf einer Reise, die sie nicht nur an die Ostsee führt, sondern auch mitten ins Herz ihrer Sehnsüchte und Träume ...
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1 Es war der pure Kitsch wie auf den analogen Postkarten oder im neuen Hochglanz-Internet-Auftritt der Gemeinde Ratzisried im westlichen Allgäu: Die Mittagssonne ließ den Hochgrat-Gipfel vor dem unverschämt saumäßig blauen Himmel glühen, an dem sich schon ein paar verfrühte Kumuluswolken aufgeplustert hatten. Davor lagen die sanften Moränenhügel, der kleine Elenschwander See ruhte eingebettet in grüne saftige Wiesen, auf denen mutmaßlich glückliche Allgäuer Braunvieh-Kühe standen und stoisch mit ihren Glocken herumbimmelten, passgenau zur Voralpenidylle, in der wochenweise einfallende Kurgäste aus Norddeutschland mittlerweile horrende Nächtigungspreise abdrückten. Ewald Fricker hatte keinen Blick für die Kulisse, er war hier aufgewachsen und schrieb sowieso keine Postkarten. Er stand in seinem Zimmer und zog sich seine blaue Montierkombi an. Das Zimmer war klein und spärlich eingerichtet: ein altes Holzbett mit weißer Bettwäsche, ein kleiner Tisch und ein einfacher Schrank aus Kiefernholz, wie Städter ihn sich gern mal in ihre Neubauwohnungen stellten. Ewald hatte den Schrank aber nicht vom Antiquitätenhändler gekauft, sondern von seinem Großvater geerbt, als der gestorben war, kurz nach Ewalds zehntem Geburtstag. Fünf blaue Overalls hingen in dem Schrank, die alle schon recht ausgewaschen waren und völlig identisch zu sein schienen. Daneben baumelte auf einem Holzbügel Ewalds Sonntagsanzug, der im selben Blau gehalten war wie die Montieranzüge. Über dem Bett glotzte ein röhrender Hirsch in Öl aus einem Holzrahmen, sonst gab es keine Bilder an den weißen Wänden, die längst einen neuen Anstrich nötig gehabt hätten. Auch Bücher hätte man vergeblich gesucht. Einzig über dem Tisch, neben dem Fenster, war mit Reißzwecken ein vergilbtes Schwarzweißfoto angeheftet. Es zeigte Ewald Fricker als jungen Kerl auf einer gelben Planierraupe. Durch das kleine Fenster konnte man, wenn man sich bückte, am oberen Rand einen schmalen Streifen der Allgäuer Berge sehen, denn das alte Bauernhaus lag in einem Tal, in das die Sonne auch im Sommer nur stundenweise hineinschien. Ewald zog den Reißverschluss der blauen Kombi nach oben, als seine Mutter hereinkam, wie immer ohne anzuklopfen. Ewalds Mutter war klein und von einem schwer schätzbaren Alter, ihr gebückter Gang ließ sie manchmal gar wie eine Greisin aussehen. Sie hatte ihr Kopftuch um die strähnigen Haare gebunden und trug die alte Kittelschürze, mit der sie sowohl in der Küche als auch im Stall herumwerkelte. Zum Glück besaß sie zwei dieser Schürzen, die beide in grünlich blauen Tönen gehalten waren. Ewald sah, dass die Mutter heute am Sonntag wenigstens die Gummistiefel, die sie im Stall trug, gegen die alten Filzpantoffeln eingetauscht hatte. Misstrauisch beäugte sie Ewald. »Warum ziehst du Seckel nicht den Sonntagsanzug an?« Ewald zuckte mit den Schultern. »Der ist doch bloß für was Besond’res!« »Den hast du noch kein einzig’s Mal angehabt! Der hat ein unverschämt’s Geld ’kostet!« »Ja mei, es war halt nie was Besond’res.« Ewalds Mutter dachte gar nicht daran, auf diese Argumentation einzugehen. Überhaupt war sie schwer zu bremsen, wenn sie einmal mit ihrer Litanei des Schimpfens angefangen hatte. Aber so war sie halt, es hätte Ewald eher gewundert, wenn die Mutter gar nichts gesagt hätte, was manchmal sogar noch schlimmer sein konnte als das verbale Dauernörgelfeuer. Sie riss Ewalds Geldbeutel auf, der auf dem Tisch lag. »Da hast wieder einen Fuch’ziger drin, Sakrament nochmal! Da kriegst dann wieder bloß die Hälfte z’ruck, die bescheißen dich doch, wo’s geht!« Mit dem Geld war’s sowieso ein rechtes Geschiss. Die Mutter regte sich immer auf, dass Ewald große Scheine dabeihatte, wo er doch mit dem Geld nicht umgehen konnte. »Aber wenn wir mein’ ganzen Lohn auf dem Konto droben lassen, dann platzt’s vielleicht irgendwann, das Konto …« »Du bist doch ein Depp!« Die Mutter ließ ihm einen Zehner im Geldbeutel, aber der war auch rot. Ewald wusste, dass die Zehner etwas kleiner waren als die Fünfziger und das Rot ein bissle anders war, aber er fand es schon blöd, dass der Staat ein Geld druckte, das man kaum voneinander wegkannte, wenn man die Zahlen nicht lesen konnte. Er überhörte, dass er nichts saufen und nicht mitten in der Nacht nach Hause kommen sollte, schließlich stand er jeden Morgen um halb fünf Uhr auf und molk die Kühe, bevor er zur Arbeit ging. Ewald nahm den schwarzen Koffer, der neben dem Bett stand. »Ja, nimm’s nur mit, des blöde Trum! Und mach mir bloß koi Schand!« Ewald wusste, dass er seiner Mutter heute bestimmt keine Schande machen würde, als er die schmale Holztreppe hinunterging und sein Fahrrad aus der Scheune holte. Er radelte den staubigen Feldweg entlang, der vom Grenis-Hügel in Richtung Dorf führte. Sein Staiger-Damenrad hatte mindestens schon so viele Jahre auf dem Buckel wie er selbst. Wobei Ewalds Alter wie das seiner Mutter auch schwer zu schätzen war: Es konnte irgendwo zwischen dreißig und fünfzig liegen. Sein Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht hatte die gesunde Röte eines Landbewohners, der viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Wie ein Intellektueller sah er nicht aus, aber seine Augen waren blau wie der Elenschwander See, und aus ihnen konnte schon mal der Schalk blitzen wie ein Springteufelchen auf der Durchreise. Sein Körper war kräftig, ein wenig gedrungen, auf dem breiten Rücken hatte er, wie einen Rucksack, seinen schwarzen abgeschundenen Akkordeon-Koffer festgeschnallt. Mit wohldosierter Energie trat er in die Pedale wie ein sturer Allgäuer Bock eben, der weiß, wo er hinwill. Ewald hatte die Motorhaube hochgeklappt, kniete neben der Maschine und hörte genau auf den Klang der einzelnen Zylinder. Die Ventile machten keine übermäßigen Geräusche, allein die Leerlaufdrehzahl war ein wenig hoch. »So schnell brauchst du gar nicht laufen, gell.« Manchmal sprach Ewald ein paar Worte zu seinem Dieselmotor, aber er konnte ihm auch stundenlang zuhören, es lag etwas Beruhigendes und Friedliches im Klang des Aggregats, er mochte den Geruch des heißen Öls. Das schmeckte nach Leben und Maschine, fast ein bissel wie der Schweiß bei einem, der richtig viel geschafft hat. Ewalds Fiat-Allis FL 10 C mit der 3,4-Liter-Vierzylinder-Dieselmaschine mit 125 PS war noch eine alte Planierraupe ohne technischen Schnickschnack, ohne Kunststoffverkleidungen, ohne Display-Anzeigen und ohne das nervtötende Gepiepse beim Rückwärtsfahren. Und vor allem hatte die FL 10 C keinen dieser neumodischen Joysticks, sie war noch mit zwei Hebeln zu steuern wie früher. Da musste man schon mal ordentlich zulangen, aber Ewald mochte die haptische Ehrlichkeit des Gerätes viel lieber als diese modernen Sesselfurzer-Raupen, die auch seine Mutter hätte fahren können, wenn sie nur einer auf den Fahrersitz gehoben hätte. So ein Schmarren wie »haptische Ehrlichkeit« wäre dem Ewald natürlich nie und nimmer in den Sinn gekommen, überhaupt war er nicht gerade ein Verschwender der Worte, er überlegte schon oft dreimal, bevor er etwas sagte. Oder lieber doch nichts sagte, statt einen Mist daherzureden, nur damit etwas gesagt wäre. Bei ihm daheim hatte man nicht viel geredet, sein Vater war schon weg gewesen, bevor der Ewald irgendetwas hätte sagen können. Und genau dazu hatte Ewalds Mutter auch nichts gesagt, ihr Leben lang. Sie hatte genug zu tun, die kleine Landwirtschaft zu betreiben, die ihre Eltern ihr überlassen hatten, und nach dem Tod von Ewalds Großeltern war es noch schwieriger geworden. Ewald hatte schon früh auf dem Hof helfen müssen, und statt im Kindergarten »Fangis« zu spielen wie die anderen, hatte er daheim auf dem Hof mit der Heugabel herumgetobt. Vier Stück Milchvieh waren nicht viel, aber sie wollten versorgt sein. Dazu kam ein wenig Obstbau. Und weil der mütterliche Einsiedler-Hof höllisch weit draußen lag, hinter dem Hügel von Grenis, im Tal beim Weissach-Bächlein, hatte Ewald kaum Spielkameraden. In der Schule hatten die anderen bald gemerkt, dass der Ewald ein bissle anders war, und wer im Allgäu ein bissle anders war, der wurde gehänselt. »Aus’m Wald, da kommt ein Dicker, das ist der blöde Ewald Fricker, der sei’ Milch im Saustall trinkt, und allerweil nach Kuhstall stinkt!« Irgendjemanden brauchte man zum Hänseln, Ausländer gab es damals noch nicht, zumindest nicht in der Dorfschule in Ratzisried. Den Ewald hatten die Hänseleien nicht gestört, er hatte die Trietzereien an sich abprallen lassen, denn um halb eins am Mittag musste er sich ohnehin wieder auf den halbstündigen Fußmarsch zum mütterlichen Grenis-Hof machen. Bis dorthin hatten sich die Schulkameraden selten getraut, die Eltern hatten ihnen eingebleut, da gehe man nicht hin, was ja eigentlich ein Grund gewesen wäre, erst recht hinzugehen. Ein bisschen Angst vor Ewalds Mutter hatten sie auch gehabt, weil die immer mit Kopftuch, Kittelschürze, grantigem Gesicht und einer für ihre Größe unverhältnismäßig wuchtigen Mistgabel in Erscheinung trat. Mit sechs konnte Ewald den Traktor fahren,...


Tschiersch, Jockel
Jockel Tschiersch wurde 1957 in Weiler im Allgäu geboren und begann seine Karriere vor über 25 Jahren auf Münchner Kabarett-Bühnen. Er arbeitet als Schauspieler bei Film und Fernsehen sowie in Gastrollen auch im Theater. Jockel Tschiersch lebt heute in Berlin.


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