E-Book, Deutsch, Band 92023, 136 Seiten
Tschechow / Sommermeyer / Syrg Anton Tschechows Ausgewählte Prosa II
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-5837-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Schauspiele: Die Möwe, Onkel Wanja
E-Book, Deutsch, Band 92023, 136 Seiten
Reihe: Orlando Syrg Taschenbuch: ORSYTA
ISBN: 978-3-7583-5837-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Einsamkeit, Bitternis, Verlassenheit, Leid, Indolenz des Milieus, kaputte Beziehungen, Pseudoidealismus, elende Liebe, Lebensangst, existenzielle Langeweile, banale Konversation innerhalb öder Konventionen, Erschöpfung, aussichtslose Fluchten; sinnfremd, sinnlos, ausweglos, fruchtlos! Nach den Meistererzählungen Anton Tschechows (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 12021) bringt dieser Band zwei seiner berühmten Meisterdramen, Spitzenwerke der Weltliteratur, nach wie vor mitreißend und uneingeschränkt aktuell.
Anton Pawlowitsch Tschechow, geb. am 29. Januar 1860 in Taganrog (Russland). Novellist und Dramatiker. Vater Kaufmann. Gymnasium Taganrog, 1879-1884 Studium der Medizin in Moskau. 1884 Ausbruch einer Lungenkrankheit. Kurzzeitige Ausübung des Arztberufs, danach vorwiegend literarische Tätigkeit. Zunächst Humoresken und Anekdoten für Zeitungen und Zeitschriften, später viele ernste und tragische Erzählungen sowie Kurzgeschichten. 1890 Reise zur Strafkolonie auf der Insel Sachalin. 1892-1897 auf seinem Landgut Melichovo bei Moskau, seit 1898 vorwiegend in Jalta auf der Krim. Reisen nach Westeuropa. Die Möwe, 1895. Onkel Wanja, 1896. Drei Schwestern, 1901. Heirat mit der Schauspielerin Olga Knipper. Der Kirschgarten, 1903. Tschechow stirbt am 15. Juli 1904 im Kurort Badenweiler (Markgräflerland; 30 km südlich von Freiburg).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erster Aufzug Park auf dem Landgut Ssorins. Eine breite Allee, die vom Zuschauer aus in die Tiefe des Parkes zu einem See führt und durch eine improvisierte Liebhaberbühne so verbaut ist, dass man den See nicht sieht. Links und rechts von dieser Bühne Gebüsch. Ein paar Stühle, ein Tischchen. Die Sonne ist eben untergegangen Auf der Bühne, hinter dem herabgelassenen Vorhang, Jakow und andere Arbeiter; man hört ihr Husten und ihr Klopfen. Mascha und Medwjedenko kommen von links, von einem Spaziergang. Medwjedenko: Warum gehen Sie immer in Schwarz? Mascha: Ich trauere um mein verlorenes Dasein. Ich bin unglücklich. Medwjedenko: Warum? Nachdenklich. Ich verstehe das nicht ... Sie sind gesund, Ihr Vater ist zwar kein reicher Mann, aber doch nicht unbemittelt. Ich hab's weit schwerer als Sie. Ich bekomme monatlich ganze dreiundzwanzig Rubel Gehalt, wovon noch die Pensionsabzüge abgehen, und dennoch trage ich keine Trauer. Mascha: Es kommt nicht aufs Geld an. Auch ein Bettler kann glücklich sein.
Medwjedenko: In der Theorie vielleicht, in der Praxis liegt die Sache aber so, dass fünf Personen von den dreiundzwanzig Rubeln leben sollen: ich, meine Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder. Man will essen und trinken, man braucht Tee und Zucker, man braucht Tabak - da heißt es sich drehen und winden! Mascha blickt nach der Bühne: Die Vorstellung wird gleich beginnen. Medwjedenko: Ja. Die Sarjetschnaja spielt, und das Stück ist von Konstantin Gawrilowitsch. Sie sind ineinander verliebt, und heute werden ihre Seelen sich in dem Streben vereinigen, dasselbe künstlerische Gebilde zu gestalten. Und unsere Seelen haben keine gemeinsamen Berührungspunkte. Ich liebe Sie, ich kann es vor Sehnsucht zu Hause nicht aushalten, laufe Tag für Tag sechs Werst hin und sechs Werst zurück, um Sie zu sehen – und begegne bei Ihnen stets derselben Gleichgültigkeit. Das ist wohl zu verstehen – ich bin mittellos, hab' eine große Familie ... einen Menschen, der selbst nichts zu beißen hat, heiratet man doch nicht ... Mascha: Unsinn. Sie nimmt eine Prise. Ihre Liebe rührt mich, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist's. Reicht ihm die Schnupftabakdose. Bitte! Medwjedenko lehnt ab: Ich danke. – Pause. – Mascha: Es ist schwül – 's wird wohl in der Nacht ein Gewitter gebe. Sie philosophieren immer oder reden von Geld. Nach Ihrer Meinung gibt's kein größeres Unglück als die Armut, nach meiner Meinung aber ist's tausendmal leichter, in Lumpen zu gehen und zu betteln, als ... Doch das verstehen Sie nicht. Ssorin und Treplew kommen von rechts. Ssorin stützt sich auf seinen Stock: Ich fühl' mich einmal nicht wohl auf dem Lande, mein Lieber, und ich glaube, ich werde mich nie hier einleben. Gestern ging ich um zehn Uhr zu Bett, und heut morgen bin ich um neun Uhr aufgewacht, mit einem Gefühl, als klebte mir vom langen Schlafen das Him am Schädel fest – und so! – Lacht. – Nach Tisch bin ich unversehens wieder eingeschlafen, und jetzt bin ich ganz zerschlagen, habe Alpdrücken, am Ende ... Treplew: Du musst eben in der Stadt wohnen, Onkel. – Er erblickt Mascha und Medwjedenko. – Meine Herrschaften, wenn's anfängt, wird man sie rufen! Jetzt dürfen Sie nicht hier sein, bitte, gehen Sie! Ssorin zu Mascha: Marja Iljinitschna, sagen Sie doch, bitte, Ihrem Papa, er möchte anordnen, dass man den Hund von der Leine lässt, sonst heult er. Meine Schwester hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen. Mascha: Sagen Sie's meinem Vater doch selbst, ich tu's nicht. Erlassen Sie mir's bitte. Zu Medwjedenko: Kommen Sie! Medwjedenko zu Treplew: Also, wenn's anfängt. Lassen Sie's uns sagen. – Beide ab. – Ssorin: Der Hund wird also wieder die ganze Nacht heulen. Das ist's ja eben: nie konnte ich auf meinem Gute so leben, wie ich wollte. Da nahm man vier Wochen Urlaub, um auszuruhen und so – und hier setzten sie einem mit allen möglichen Dummheiten so zu, dass man am liebsten am ersten Tage wieder abgefahren wäre. – Lacht. – Ich war immer froh, wenn ich von hier wegkam ... Jetzt bin ich verabschiedet – weiß nicht, wohin am Ende ... Da heißt es dableiben, ob man will oder nicht ... Jakow zu Trepljew: Wir gehen jetzt baden, Konstantin Gawrilowitsch. Treplew: Gut, aber in zehn Minuten müsst ihr auf euren Posten sein. Er sieht nach der Uhr. Es geht bald los. Jakow: Jawohl, gnädiger Herr. – Ab. – Treplew lässt seinen Blick über die Bühne schweifen: Da hätten wir also unser Theater. Der Vorhang, dann die erste Kulisse, dann die zweite und dann der leere Raum. Gar keine Dekoration. Der Blick geht direkt nach dem See und dem Horizont. Punkt halb neun, wenn der Mond aufgeht, hebt sich der Vorhang. Ssorin: Prachtvoll. Treplew: Wenn die Sarjetschnaja zu spät kommt, ist natürlich der ganze Effekt verloren. Sie müsste eigentlich schon hier sein – aber Vater und Stiefmutter bewachen sie, und sie kann schwer loskommen, wie aus einem Gefängnis. – Zieht dem Onkel die Krawatte zurecht. – Dein Haar ist ganz zerzaust und auch der Bart ... Müsstest mal zum Friseur gehen ... Ssorin kämmt sich den Bart: Das ist die Tragödie meines Lebens. Hab' auch als junger Mann immer so ausgesehen, als wenn ich immer betrunken wäre. Die Frauen haben mich nie gern gehabt. Setzt sich. Sag mal – warum ist meine Schwester so schlecht gelaunt? Treplew: Warum? Sie langweilt sich. – Setzt sich neben Ssorin. – Und dann ist sie eifersüchtig. Sie ist aufgebracht gegen mich und gegen diese Vorstellung und gegen mein Stück, nur weil nicht sie darin spielt, sondern die Sarjetschnaja. Sie kennt mein Stück noch gar nicht – und hasst es schon. Ssorin lacht: Was du dir alles einbildest! Treplew: Es verdrießt sie schon, dass hier auf dieser kleinen Bühne die Sarjetschnaja Erfolge haben wird und nicht sie. – Er sieht nach der Uhr. – Sie ist ein psychologisches Kuriosum, meine Mutter. Unstreitig sehr begabt und klug, über einem Buch kann sie bitterlich weinen; den ganzen Nekrassow kann sie auswendig, und am Krankenbett ist sie ein Engel; aber versuch mal, in ihrer Gegenwart die Duse zu rühmen! Oh! Nur sie allein soll man loben, nur von ihr schreiben, nur ihren Namen ausschreien, von ihrem unübertrefflichen Spiel in der »Kameliendame« oder im »Dunst des Lebens« entzückt sein, und weil sie hier, auf dem Lande, diesen Rausch entbehren muss, so langweilt sie sich, ist wütend – und wir alle sind natürlich ihre Feinde, wir alle sind daran schuld. Dann ist sie auch abergläubisch, erschrickt, wenn sie drei brennende Kerzen sieht, hat Angst vor der Zahl dreizehn. Und geizig ist sie – sie hat in Odessa siebzigtausend Rubel auf der Bank liegen, das weiß ich genau. Will man aber von ihr eine Kleinigkeit borgen – dann weint sie. Ssorin: Du bildest dir ein, dass dein Stück der Mutter nicht gefällt, und regst dich darum so auf – und so. Beruhige dich. Deine Mutter vergöttert dich. Treplew die Blättchen einer Blume abzupfend: Sie liebt mich – liebt mich – liebt mich nicht, liebt mich – liebt mich nicht. – Lacht. – Siehst du, meine Mutter liebt mich nicht. Kein Wunder: Sie will leben und lieben, sie will helle Kleider tragen – und ich, ihr Sohn, bin fünfundzwanzig Jahre alt, ich erinnere sie beständig daran, dass sie nicht mehr jung ist. Bin ich nicht da, dann zählt sie erst zweiunddreißig, in meiner Gegenwart aber ist sie dreiundvierzig. Darum hasst sie mich. Sie weiß auch, dass ich für das Theater nichts übrig habe. Sie schwärmt für die Bühne, sie glaubt der Menschheit, der heiligen Kunst zu dienen, während ich das Theater von heut für Routine und Konvention halte. Wenn der Vorhang aufgeht und in dem Zimmer mit den drei Wänden diese großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst dem Publikum im Rampenlicht vormachen, wie die Leute essen, trinken, lieben, umhergehen, ihre Röcke tragen; wenn sie aus banalen Bildern und Phrasen eine Moral herauszutüfteln suchen – eine kleinliche, vulgäre Moral für jedermanns Hausgebrauch, wenn sie mir in tausend Variationen immer und immer wieder dieselbe Kost servieren – dann möchte ich fortlaufen, weit. Weit weg, wie Maupassant vor dem Eiffelturm fortlief, dessen Banalität sein Hirn zu Boden drückte – Ssorin: Wir können das Theater nicht entbehren. Treplew: Dann muss es neue Formen annehmen. Wir brauchen neue Formen, und wenn sie nicht da sind – dann lieber gar nichts. Blickt auf die Uhr. Ich liebe meine Mutter, liebe sie sehr, aber sie führt ein unvernünftiges Leben, schleppt sich ewig mit diesem Belletristen herum, ihr Name wird immerfort durch die Zeitungen gezerrt – und das quält mich. Zuweilen regt sich in mir einfach der Egoismus eines gewöhnlichen Sterblichen; ich bedaure dann, dass meine Mutter eine bedeutende Schauspielerin ist, und es scheint mir, dass ich weit glücklicher sein würde, wenn sie eine einfache Frau wäre. Sag selber, Onkel: kann's eine fatalere, eine albernere Lage geben; da versammelten sich zuweilen bei ihr Künstler und Schriftsteller,...