E-Book, Deutsch, 130 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
Tschechow Liebesgeschichten
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401831-7
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fischer Klassik PLUS
E-Book, Deutsch, 130 Seiten
Reihe: Fischer Klassik Plus
ISBN: 978-3-10-401831-7
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der russische Schriftsteller Anton Tschechow (1860-1904) wurde mit seinen Stücken, darunter ?Die Möwe?, ?Drei Schwestern?, ?Der Kirschgarten?, zu einem der berühmtesten und bis heute meistgespielten Autoren der Theatergeschichte.
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Von der Liebe
Zum Frühstück gab es ausgezeichnete Pasteten, Krebse und Hammelkoteletts; während man am Tische saß, kam der Koch Nikanor herauf, um zu fragen, was die Gäste zum Mittag wünschten. Der Koch war ein Mann von mittlerem Wuchs, mit aufgedunsenem Gesicht und kleinen Augen. Es war bartlos, sah aber so aus, als ob sein Schnurrbart nicht wegrasiert, sondern ausgerupft wäre.
Aljochin erzählte, dass die hübsche Pelageja in diesen Koch verliebt sei. Sie wolle aber den Säufer und Raufbold nicht heiraten, sei jedoch bereit, mit ihm »einfach so« zu leben. Er sei aber sehr religiös, und seine Überzeugungen gestatteten ihm nicht, mit ihr »einfach so« zu leben; er bestehe darauf, dass sie ihn heirate, und wenn er betrunken sei, so beschimpfe er sie und schlage sie sogar. So oft er betrunken sei, flüchte sie hinauf und weine, und in solchen Fällen blieben Aljochin und die Dienstboten stets zu Hause, um sie im Notfalle in Schutz zu nehmen.
So kam das Gespräch auf die Liebe.
»Wie die Liebe entsteht«, sagte Aljochin, »warum Pelageja sich nicht in einen andern Mann, dessen seelische und äußere Eigenschaften besser zu ihr passten, sondern gerade in Nikanor, diese Schnauze – man nennt ihn hier überall ›Nikanor die Schnauze‹ – verliebt hat; inwiefern für die Liebe Gründe des persönlichen Glücks maßgebend sind – all das ist unbekannt, und es steht jedem frei, diese Frage in jedem beliebigen Sinne zu behandeln. Von der Liebe ist bisher nur eine einzige unbestreitbare Wahrheit gesagt worden, nämlich, dass ›dieses Geheimnis groß ist‹; doch alles Übrige, was von der Liebe je gesprochen oder geschrieben wurde, ist keine Lösung, sondern nur eine neue Formulierung der Fragen, die stets ungelöst bleiben. Eine Erklärung, die für irgendeinen bestimmten Fall zu taugen scheint, taugt für zehn andere Fälle gar nicht; das Beste ist wohl, so glaube ich wenigstens, jeden einzelnen Fall für sich zu behandeln und Verallgemeinerungen zu vermeiden. Man muss, um mit den Ärzten zu sprechen, die Fälle individualisieren.«
»Sehr richtig«, bemerkte Burkin.
»Wir anständige Russen haben stets eine Vorliebe für solche Fragen, die ungelöst bleiben müssen. Sonst pflegt man die Liebe zu poetisieren und mit Rosen und Nachtigallen auszuschmücken; aber wir schmücken unsere Liebe nur mit diesen schicksalsschweren Fragen aus, wobei wir unter ihnen die uninteressantesten auswählen. Als ich noch Student in Moskau war, hatte ich ein Verhältnis mit einer recht lieben Dame, die jedes Mal, wenn sie in meinen Armen lag, nur daran dachte, wie viel Geld ich ihr monatlich geben würde und was jetzt das Rindfleisch kostete. So sind auch wir; wenn wir lieben, beschäftigen wir uns fortwährend mit ähnlichen Fragen: ob es anständig oder unanständig von uns sei, ob klug oder dumm, wohin diese Liebe führen könne und so weiter. Ob das gut ist oder nicht, weiß ich nicht; aber ich weiß, dass es stört und ärgert und jeden Genuss verleidet.«
Man hatte den Eindruck, dass er etwas erzählen wollte. Menschen, die zurückgezogen leben, haben immer etwas auf dem Herzen, was sie gerne erzählen möchten. Daher gehen Junggesellen so gerne ins Dampfbad oder ins Restaurant, um ihr Herz auszuschütten und den Bademeistern und Kellnern Geschichten zu erzählen, die zuweilen sehr interessant sind; und auf dem Lande schütten solche Menschen ihr Herz vor den Gästen aus. Man sah aus dem Fenster einen trostlos grauen Himmel und vom Regen durchnässte Bäume; bei solchem Wetter konnte man wirklich nichts Besseres anfangen, als erzählen oder zuhören.
»Ich lebe hier in Ssofjino und bewirtschafte dieses Gut seit vielen Jahren«, begann Aljochin, »seit ich die Universität absolviert habe. Meiner Erziehung nach bin ich Faulenzer, meinen Neigungen nach – Stubenhocker und Bücherwurm; als ich herkam, war das Gut arg verschuldet, und da mein Vater diese Schulden gemacht hatte, um mir die beste Erziehung geben zu können, so fasste ich den Entschluss, hier zu bleiben und zu arbeiten, bis ich alle Schulden bezahlt haben würde. Das hatte ich mir vorgenommen und stürzte mich in die Arbeit, offen gestanden, nicht ohne einigen Widerwillen. Der Boden ist hier wenig ergiebig, und wenn man ihn ohne Verlust bewirtschaften will, so muss man entweder eine Anzahl leibeigene oder gedungene Landarbeiter – es kommt ja auf dasselbe hinaus – beschäftigen, oder aber die Wirtschaft auf Bauernart betreiben, d.h. selbst mit seiner ganzen Familie im Felde arbeiten. Einen Mittelweg gibt es nicht. Damals machte ich aber keine solchen feinen Unterschiede. Ich ließ kein Fleckchen Boden unbestellt, ich trieb alle Männer und Weiber aus den nächsten Dörfern zusammen, und die Arbeit ging wie mit Dampf; ich pflügte, säte und mähte mit eigenen Händen, langweilte mich aber dabei und rümpfte oft die Nase, wie eine Dorfkatze, wenn sie vor Hunger im Gemüsegarten Gurken frisst; mein ganzer Körper war wie zerschlagen, und ich schlief oft im Stehen. In der ersten Zeit glaubte ich, dieses Arbeitsleben mit den Angewohnheiten eines Kulturmenschen vereinen zu können: ich glaubte, dass es dazu genüge, in seinem Leben eine gewisse äußere Ordnung einzuhalten. Ich bewohnte die Paraderäume im Obergeschoss, ließ mir nach jeder Mahlzeit Kaffee mit Likör reichen und las allabendlich vor dem Einschlafen den ›Europäischen Boten‹. Einmal besuchte mich aber unser Dorfpope P. Iwan und trank auf einen Zug alle meine Liköre aus. Und der ›Europäische Bote‹ befand sich von nun an ständig in Händen der Popentöchter: während der Erntezeit war ich immer so müde, dass ich fast niemals in mein Bett kam, sondern in einem Schlitten, der in der Scheune stand, oder in einer Waldhütte einschlief; wie konnte ich da ans Lesen denken? So siedelte ich allmählich in die unteren Räume über, aß mit dem Hausgesinde in der Küche zu Mittag, und von allem früheren Prunk blieb mir nur diese Dienerschaft zurück, die ich noch von meinen Vater geerbt habe und die zu entlassen ich nicht übers Herz bringen konnte.
Gleich im ersten oder zweiten Jahre wurde ich zum Ehren-Friedensrichter gewählt. Nun musste ich ab und zu in die Stadt fahren, um an den Sitzungen des Bezirksgerichts teilzunehmen; das brachte einige Abwechslung in mein Leben. Wenn man hier so an die zwei, drei Monate ununterbrochen gelebt hat, besonders im Winter, so sehnt man sich schließlich nach einem Gehrock. Im Bezirksgericht gab es aber Gehröcke, Uniformen und Fräcke in Hülle und Fülle; lauter Juristen mit Hochschulbildung, also Menschen, mit denen ich sprechen konnte. Nach den Nächten im Schlitten und in der Scheune und dem Essen in der Küche war es ein ganz besonderer Genuss, in reiner Wäsche und leichten Schuhen, mit einer Richterkette auf der Brust in einem weichen Lehnsessel zu sitzen.
In der Stadt wurde ich überall freundlich empfangen und schloss gerne Bekanntschaften. Unter diesen war mir, offen gestanden, die Bekanntschaft mit dem Vizepräsidenten des Bezirksgerichts Luganowitsch die angenehmste. Sie kennen ihn ja beide: er ist ein reizender Mensch. Es war gleich nach dem berühmten Brandstifterprozess; die Verhandlungen hatten zwei Tage gedauert, und wir waren beide todmüde. Luganowitsch blickte mich an und sagte:
›Wissen Sie was? Kommen Sie doch zu mir zum Mittagessen.‹
Das kam sehr unerwartet, denn wir kannten uns nur rein offiziell, und ich war noch kein einziges Mal bei ihm im Hause gewesen. Ich ging also zu mir ins Hotel, zog mich um und begab mich zu ihm. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Luganowitschs Gattin, Anna Alexejewna kennen. Sie war damals noch sehr jung, kaum über zweiundzwanzig, und hatte erst vor einem halben Jahre ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Das Ganze gehört ja schon der Vergangenheit an, und ich kann heute gar nicht sagen, was an ihr so ungewöhnlich gewesen war, das auf mich solchen Eindruck machte; aber damals beim Mittagessen war mir das vollkommen klar; ich sah vor mir eine junge, hübsche, gute, gebildete, entzückende Frau, wie ich eine solche noch niemals gesehen hatte. Und ich fühlte in ihr sofort ein so verwandtes und vertrautes Wesen, als hätte ich ihr Gesicht mit den freundlichen, klugen Augen schon einmal in meiner Kindheit im Photographienalbum, das auf der Kommode meiner Mutter lag, gesehen.
Im Brandstifterprozess wurden vier Juden verurteilt, wobei man als strafschärfend, meiner Ansicht nach mit Unrecht, das Vorhandensein einer bandenartigen Organisation annahm. Während des Essens sprach ich immer vom Prozess und regte mich sehr auf. Es war mir so schwer ums Herz, und ich weiß nicht mehr, was ich alles zusammenredete; aber ich weiß noch, wie Anna Alexejewna fortwährend den Kopf schüttelte und zu ihrem Mann sagte:
›Dmitrij, wie ist es nur möglich?‹
Luganowitsch war im Grunde genommen gutmütig, hielt aber hartnäckig an der Ansicht fest, dass ein Mensch, der vor Gericht steht, unbedingt der Schuldige sei und dass man seine Zweifel über das Urteil nur auf dem vorgeschriebenen Instanzenwege und schriftlich, aber keineswegs in einem Privatgespräch beim Mittagessen äußern dürfe.
›Wir beide haben ja keine Brandstiftung begangen‹, sagte er mild, ›wir stehen nicht vor Gericht und kommen auch nicht ins Zuchthaus.‹
Alle beide, Mann und Frau, nötigten mich, möglichst viel zu essen und zu trinken; aus verschiedenen Kleinigkeiten, z.B. wie sie gemeinsam den Kaffee bereiteten und wie gut sie einander fast ohne Worte verstanden, konnte ich schließen, dass sie glücklich und friedlich zusammen lebten und sich über jeden Gast von Herzen freuten. Nach dem Essen spielte man vierhändig Klavier, und als es dunkel wurde, nahm ich Abschied und fuhr heim. Das war in den ersten Frühlingstagen. Den...




