E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Tschechow Der Kirschgarten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-15-961705-3
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Komödie in vier Akten - Tschechow, Anton - russische Weltliteratur in deutscher Übersetzung - 14017
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-961705-3
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Nur noch die Axtschläge sind, von weit her, aus dem Kirschgarten zu hören.« Russland, Ende des 19. Jahrhunderts: Die Gutsbesitzerin Ranjewskaja verbringt mit ihrer Familie den letzten Sommer auf ihrem hochverschuldeten Landgut, das versteigert werden soll. In seiner melancholisch-humorvollen Komödie zeichnet Tschechow den unvermeidbaren Untergang des russischen Adels nach, dessen Blütezeit längst vorüber ist und der - ebenso wie der Kirschgarten - einem neuen Zeitalter weichen muss. Der Anhang der Ausgabe wurde aktualisiert. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
Anton Pawlowitsch Tschechow (29.1.1860 Taganrog - 15.7.1904 Badenweiler) ist einer der produktivsten russischen Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Sohn eines kleinen Kaufmanns verfasste in den 23 Jahren seiner schriftstellerischen Laufbahn über 600 literarische Werke. Tschechow praktiziert als Arzt häufig unter Verzicht auf Bezahlung und nutzt seine medizinisch geschulte Beobachtungsgabe für seine gesellschaftlichen, oft ironischen Charakterstudien. Als prägend erweist sich ein dreimonatiger Aufenthalt in der als Strafkolonie genutzten Insel Sachalin im Rahmen einer Volkszählung im Jahre 1890. Seine Dramen wie Die Möwe', 'Der Kirschgarten', 'Drei Schwestern', 'Iwanow' oder 'Onkel Wanja' sind menschennahe, tragikkomische Aufarbeitungen seiner Beobachtungen. Mit seinen kurzen, pointierten Erzählungen wie 'Der Mann im Futteral', 'Die Dame mit dem Hündchen' oder 'Die Wette' hat er großen Einfluss auf das Genre der modernen Kurzgeschichte.Tschechow wurde zu Lebzeiten dreimal ausgezeichnet: 1888 Puschkin-Preis, 1899 mit dem Sankt-Stanislaus-Orden dritten Grades, seine ab 1900 bestehende Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften legte er aus Protest in den Tumulten um Maxim Gorki wieder ab. 1990 wurde Tschechow anlässlich seines 130. Geburtstages mit einer sowjetischen 1-Rubel-Gedenkmünze geehrt. Seit 1983 trägt der Asteroid 'Chekhov' seinen Namen.
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[7]Erster Akt
Das Zimmer, das noch immer »Kinderzimmer« genannt wird. Eine der Türen führt in Anjas Zimmer. Morgendämmerung. Bald wird die Sonne aufgehen. Es ist schon Mai. Die Kirschbäume blühen, doch im Garten ist es noch kalt. In der Nacht hat es gefroren. Die Fensterläden sind geschlossen. Dunjascha und Lopachin treten ein, Dunjascha mit einer Kerze, Lopachin mit einem Buch in der Hand. LOPACHIN. Der Zug ist angekommen, Gott sei Dank! Wie spät ist es? DUNJASCHA. Gleich zwei. (Löscht die Kerze.) Es wird schon hell. LOPACHIN. Wie viel Verspätung hat der Zug wohl gehabt? Mindestens doch ein, zwei Stunden. (Gähnt und reckt sich.) Was mache ich für Dummheiten: Komme extra her, um sie an der Station abzuholen, und nun verschlafe ich mich … Im Sitzen bin ich eingeschlafen … So ein Ärger … Wenn du mich doch geweckt hättest! DUNJASCHA. Ich dachte, Sie wären weggefahren. (Horcht.) Da, anscheinend kommen sie schon. LOPACHIN (horcht). Nein … Erst muss das Gepäck noch abgeholt werden und dies und das … (Pause.) Ljubow Andrejewna hat fünf Jahre im Ausland gelebt. Ich weiß nicht, wie sie jetzt ist … sie war ein guter Mensch, natürlich und einfach. Ich erinnere mich: Als ich ein Junge war, so fünfzehn Jahre alt, da hat mein verstorbener Vater, der damals im Dorf einen Kramladen hatte, mich einmal mit der Faust ins Gesicht geschlagen, [8]so, dass das Blut aus der Nase rann … Wir waren aus irgendeinem Grund auf den Gutshof gekommen, und er war angetrunken. Ljubow Andrejewna, ich sehe sie vor mir, war noch jung, und so schlank, sie führte mich zum Waschbecken, das war hier in diesem Zimmer, dem Kinderzimmer. »Weine nicht«, sagte sie, »du kleiner Bauer, bis zur Hochzeit ist alles wieder heil!« (Pause.) »Kleiner Bauer!« … Mein Vater war wirklich ein Bauer, ich stehe nun aber mit weißer Weste da, in gelben Halbschuhen. Mit dem Schweinerüssel im Kuchenladen. Nur, dass ich reich geworden bin und viel Geld habe, aber wenn man’s sich überlegt, bleibt ein Bauer eben ein Bauer. (Blättert in dem Buch.) Das Buch da habe ich gelesen, und verstanden habe ich nichts. Ich bin beim Lesen eingeschlafen. (Pause.) DUNJASCHA. Und die Hunde haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie wittern, dass die Herrschaft kommt. LOPACHIN. Was hast du bloß, Dunjascha …? DUNJASCHA. Mir zittern die Hände. Gleich falle ich in Ohnmacht! LOPACHIN. Ganz schön empfindlich bist du, Dunjascha! Und ziehst dich an, wie eine junge Dame, und dann die Frisur. So geht’s doch nicht. Man darf nicht vergessen, wer man ist. (Jepichodow tritt ein, mit einem Blumenstrauß. Er trägt ein Jackett und blankgeputzte Stiefel, die bei jedem Schritt laut knarren. Beim Eintreten fällt ihm das Bukett hin.) JEPICHODOW (hebt den Strauß auf). Das da schickt der Gärtner. Ins Speisezimmer stellen, sagt er. (Gibt Dunjascha den Strauß.) [9]LOPACHIN. Und mir bring Kwass mit! DUNJASCHA. Jawohl, mein Herr! (Ab.) JEPICHODOW. Nachtfrost hat es heute gegeben, drei Grad Kälte, dabei stehen die Kirschen in Blüte. Ich kann unser Klima nicht billigen! (Seufzt.) Ich kann’s einfach nicht. Unser Klima kann im gegebenen Falle nicht günstig sein. Sehen Sie, Jermolaj Alexéitsch, gestatten Sie mir, Ihnen darzulegen, dass ich mir vorgestern neue Stiefel gekauft habe, jedoch, gestatten Sie mir, Ihnen zu versichern, sie knarren derart, dass es nicht auszuhalten ist. Womit könnte ich sie wohl schmieren? LOPACHIN. Hör auf! Du gehst mir auf die Nerven! JEPICHODOW. Jeden Tag stößt mir irgendein Unglück zu. Aber ich beklage mich nicht, ich habe mich daran gewöhnt und kann sogar darüber lächeln. (Dunjascha tritt ein, sie bringt den Kwass für Lopachin.) JEPICHODOW. Nun möchte ich gehen. (Stößt an einen Stuhl. Der Stuhl fällt um.) Da! … (Wie im Triumph.) Da sehen Sie, was für eine Situation, entschuldigen Sie den Ausdruck, zu allem übrigen … Das ist doch einfach … geradezu bemerkenswert! (Geht ab.) DUNJASCHA. Und mir, das muss ich Ihnen sagen, mir hat Jepichodow einen Heiratsantrag gemacht! LOPACHIN. Und … DUNJASCHA. Ich weiß nicht so recht … ein ruhiger Mensch ist er, aber dann, wenn er manchmal so anfängt daherzureden, dann versteht man kein Wort. Das klingt schön und gefühlvoll, ist nur unverständlich. Eigentlich finde ich ihn ganz nett. Er liebt mich wahnsinnig. Ein Pechvogel ist er, jeden Tag passiert ihm irgendein Unglück. Wir ziehen ihn damit auf: Ein Pech nach dem anderen … [10]LOPACHIN (horcht). Da, ich glaube, sie kommen … DUNJASCHA. Sie kommen! Was ist mit mir? … Mir wird ganz kalt. LOPACHIN. Wahrhaftig, sie kommen. Gehen wir ihnen entgegen! Wird sie mich wiedererkennen? Fünf Jahre haben wir uns nicht gesehen! DUNJASCHA (aufgeregt). Gleich falle ich in Ohnmacht … Ich falle gleich! (Man hört, wie zwei Equipagen vor dem Haus vorfahren. Lopachin und Dunjascha gehen schnell hinaus. Die Bühne bleibt leer. Aus den Nachbarzimmern hört man Lärm. Auf einen Stock gestützt geht Firs eilig über die Bühne. Er war Ljubow Andrejewna Ranewskaja zur Bahnstation entgegengefahren. Er trägt eine altmodische Livree und einen Zylinder. Er murmelt vor sich hin, aber man versteht kein Wort. Der Lärm hinter der Bühne nimmt zu. Eine Stimme: »Gehen wir hier durch! …« Ljubow Andrejewna Ranewskaja, Anja und Scharlotta Iwanowna mit einem Hündchen an der Leine, alle in Reisekleidern. Warja, im Mantel und mit einem Kopftuch, Gajew, Simeonow-Pischtschik, Lopachin, Dunjascha, die ein Bündel trägt und einen Sonnenschirm, die Dienstboten mit Gepäckstücken – alle gehen über die Bühne.) ANJA. Gehen wir doch hier durch! Weißt du noch, Mamá, was dies für ein Zimmer ist? LJUBOW ANDREJEWNA (freudig, unter Tränen). Das Kinderzimmer! WARJA. Wie kalt es ist, meine Hand ist ganz steif geworden. (Zu Ljubow Andrejewna.) Ihre Zimmer, Mamáchen, das weiße und das lila Zimmer, sind ganz so geblieben, wie sie immer waren. [11]LJUBOW ANDREJEWNA. Das Kinderzimmer, mein liebes, schönes Kinderzimmer … Als ich klein war, habe ich hier geschlafen … (weint) und nun bin ich wieder wie ein kleines Kind … (Küsst ihren Bruder, dann Warja, dann wieder ihren Bruder.) Auch Warja hat sich nicht verändert, sie sieht wie ein Nönnchen aus … und Dunjascha habe ich auch wiedererkannt … (Küsst Dunjascha.) GAJEW. Der Zug hatte zwei Stunden Verspätung. Warum wohl? Was für Zustände! SCHARLOTTA (zu Pischtschik). Mein Hund frisst nun auch Nüsse! PISCHTSCHICK (verwundert). Stellen Sie sich vor! (Alle ab, außer Anja und Dunjascha.) DUNJASCHA. Wir haben so sehr gewartet … (Nimmt Anja den Mantel und den Hut ab.) ANJA. Unterwegs habe ich vier Nächte nicht geschlafen … Jetzt bin ich ganz durchfroren. DUNJASCHA. Sie sind zur Fastenzeit abgereist, als es schneite und fror. Aber jetzt? Meine Liebe! (Lacht und küsst sie.) So lange haben wir Sie erwartet, meine Freude, mein Lichtchen … Jetzt muss ich Ihnen etwas sagen, ich kann es keine Minute länger aushalten … ANJA (müde). Schon wieder etwas … DUNJASCHA. Der Kontorist Jepichodow hat mir nach Ostern einen Heiratsantrag gemacht. ANJA. Immer dasselbe mit dir … (Bringt ihre Frisur in Ordnung.) Ich habe meine Haarnadeln verloren … (Sie ist so erschöpft, dass sie sich kaum aufrecht halten kann.) DUNJASCHA. Ich weiß noch gar nicht, was ich tun soll. Er liebt mich, so sehr liebt er mich! ANJA (schaut durch die Tür in ihr Zimmer, zärtlich). Mein [12]Zimmer, mein Fenster, als ob ich nie fortgewesen wäre. Zu Hause bin ich! Morgen früh werde ich aufstehen und gleich in den Garten laufen … Ach, wenn ich doch jetzt einschlafen könnte! Während der ganzen Reise hierher habe ich nicht schlafen können vor lauter Unruhe. DUNJASCHA. Vorgestern ist auch Herr Pjotr Sergéjitsch gekommen. ANJA (freudig). Petja! DUNJASCHA. Der Herr schlafen im Badehaus und wohnen da auch. Ich fürchte, sagten der Herr, zu stören. (Wirft einen Blick auf ihre Taschenuhr.) Man müsste den Herrn wecken, aber Wárwara Michájlowna hat es verboten. Du, sagte sie, weck ihn nicht! (Warja tritt ein. Sie trägt einen Schlüsselbund am Gürtel.) WARJA. Dunjascha! Rasch den Kaffee … Mamachen...