E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Troni Risotto mit Otto
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0056-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein italienisches Jahr in München
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0056-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angela Troni, geboren 1970, arbeitete in einem großen Verlag, bevor sie sich als Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin selbständig machte. Sie lebt in München.
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Prolog
»Vado al massimo«
»Porca madonna e tutti santi!«, entfuhr es mir, nachdem ich den Brief mit dem hellgrünen Umschlag aufgerissen hatte und mit klopfendem Herzen die Zeilen überflog, um an drei Wörtern hängenzubleiben, die ein Unbehagen in mir auslösten, als hätte mich der Carabiniere in der Via Dante wieder mal beim Vespafahren ohne Helm erwischt.
Völlig verschwitzt schleppte ich mich die Stufen bis zu unserer Wohnung im sechsten Stock hoch, verdammte den seit Wochen kaputten Aufzug und versuchte, die Tür aufzuschließen, die wie immer klemmte. Mit einem gezielten Tritt überredete ich sie dazu, endlich nachzugeben, und ging in den Flur.
»Monaco di Baviera – München, Bayern«, stand da in fettgedruckten Lettern, und ich konnte nicht verhindern, dass mir ein weiterer Fluch über die wie immer dunkelrot geschminkten Lippen kam. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fuhr mir mit dem Ringfinger unter den Augen entlang, um die bröckelnde Wimperntusche wegzureiben. Ich musste mir wirklich dringend eine neue kaufen, aber momentan hatte ich andere Sorgen.
Dann ging ich in die Küche, in der sich von meiner Geburtstagsparty gestern Abend Essensreste, Geschirr, Flaschen und Kippen stapelten, und ließ mich auf den gedrechselten Küchenstuhl sinken, den ich mit mamma neulich erst auf dem Flohmarkt in Rimini ergattert hatte. Das alte Holz stöhnte, als würde es mit mir fühlen.
Da hätten sie mich auch gleich nach Sibirien ins Arbeitslager schicken können, jammerte ich stumm vor mich hin. Was haben die sich nur dabei gedacht? Was hab ich bloß verbrochen? Ob ich Paola neulich doch hätte die Wahrheit sagen und gestehen sollen, dass ich ihr die Baci di Dama weggegessen hatte? Oder hat es etwa damit zu tun, dass ich mamma die zwanzig Euro, die ich mir letzte Woche heimlich aus ihrem Portemonnaie »geliehen« habe, nie zurückgeben wollte? Wenn ich das geahnt hätte! Den Preis war mir der Spaß dann doch nicht wert.
Mit dem Brief in der Hand saß ich da, starrte wie gebannt auf die Zeilen, und je häufiger ich den Satz »Ihrem Antrag auf ein einjähriges Auslandsstudium in Deutschland wurde stattgegeben. Bitte setzen Sie sich bis zum 15. 09. 2010 mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München in Verbindung« las, desto kälter wurde mir. Dabei waren draußen mindestens fünfzig Grad im Schatten, und hier drinnen war es, trotz der zugezogenen Fensterläden, kaum kühler. Aber das sag mal einem unter Schock stehenden Körper.
Hätte ich doch bloß nicht auf babbo, wie ich meinen Vater liebevoll nannte, gehört und mein Schicksal dieser kleinen privaten Förderorganisation anvertraut. Ursprünglich hatte ich wie alle meine Kommilitonen, die ins Ausland gingen, am Erasmus-Programm teilnehmen wollen, doch mein ach so kluger und grundsätzlich alles besser wissender Vater meldete mich bei der Fondazione Francesco D’Assisi an. Weil er dort jemanden kannte, der jemanden kannte, der jemanden … Egal! Auf die Fondazione war jedenfalls auch kein Verlass mehr, genau wie auf die italienische Opposition, das Wetter und die Lottozahlen. Dabei hatte ich irgendwo mal gelesen, der selbstlose und weise Mönch Franz von Assisi habe einen großherzigen Charakter. Nun ja, nach seinem Tod schien das ganz offensichtlich nicht mehr zu gelten – oder vielleicht war die Großherzigkeit nach mittlerweile achthundert Jahren endgültig verjährt?
Ich stützte die Ellbogen auf den Küchentisch und rieb mir die pochenden Schläfen, doch leider wollte der Kopfschmerz nicht nachlassen. Er war eher stärker geworden.
München – ich wusste nicht viel über diese Stadt, in der meine beste Freundin Valeria als Fünfzehnjährige mal zum Schüleraustausch gewesen war, nur dass sie in Bayern lag und dass diese Bayern ein recht seltsames Volk sein mussten. Immerhin behaupteten sie, München sei die nördlichste Stadt Italiens, was mir per se höchst verdächtig erschien. Hatten die denn keinen Nationalstolz? Die festa della birra, das Oktoberfest, das Mekka der Biertrinker, von dem alle immer ganz begeistert erzählten, schien zwar tatsächlich ein Knaller zu sein, aber warum mussten die Leute sich dazu verkleiden? Feierte man in Deutschland im September Fasching? Nicht dass ich wüsste … Ich hatte immer mal wieder Fotos vom Münchner Oktoberfest gesehen und konnte es einfach nicht fassen. Die Mädels in den seltsamen Kleidern, die aussahen wie aus Omas Mottenkiste, ließ ich mir ja vielleicht noch gefallen, und so mancher deutsche Mann hatte in seiner Lederhose echt einen knackigen Hintern. Aber was sollten diese oben und unten abgeschnittenen groben Wollstrümpfe, die da auf halber Höhe an den Waden hingen? Und wieso mussten sie Bier aus Eimern trinken, zumal in industriellen Mengen? Hatten diese Menschen denn gar keine Kultur?
Beim Gedanken an die riesigen Bierkrüge bekam ich Durst und stand auf, um nach einer Flasche Wasser zu suchen. Überall entdeckte ich angebrochene Plastikflaschen von der Party, aber ich brauchte eine frische. Abgestandenes Wasser löst bei mir Allergien aus. Mehrere.
Was sollte ich in diesem »Millionendorf«, wie die Münchner ihre Stadt laut meiner Freundin Valeria nannten? Noch dazu mutterseelenallein? Auf einmal bekam ich Angst vor meiner eigenen Courage, schließlich war ich noch nie länger als zehn Tage von meiner Familie getrennt. Nicht mal Urlaub hatte ich ohne meine Eltern und meine beiden Schwestern, die Zwillinge Laura und Paola, gemacht, und ehrlich gesagt konnte ich mir auch nicht richtig vorstellen, wie es ohne sie sein würde. So ganz ohne Familie. Dabei war es zugleich mein sehnlichster Wunsch, endlich selbständig zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen.
Ich hatte extra Berlin als Wunschstadt angegeben, weil dort Onkel Fabio und Tante Ivana mit Daniela und Pietro lebten. Alles war nämlich schon so gut wie abgemacht: Ich hätte bei ihnen im Haus ein kleines Appartement mit eigenem Eingang bekommen, meine Cousine hätte mir die Stadt und die besten Kneipen gezeigt, und ihr Bruder Pietro, den ich schon als kleines Mädchen vergöttert hatte, hätte mir sicher ein paar seiner coolen Freunde vorgestellt. Ein Stückchen Heimat hätte ich damit in der Fremde auch gehabt, und überhaupt: Es wäre perfekt gewesen. Offenbar zu perfekt.
Na ja, Hamburg hatte ich ebenfalls genannt, als einzig akzeptable Alternative, da Papas Cousine Elena dort wohnte, die mich mit ihrem deutschen Mann unter ihre Fittiche genommen hätte. In die dritte Zeile hatte ich München in die dafür vorgesehenen Kästchen geschrieben und darüber in Druckbuchstaben »BITTE NICHT« gekritzelt. – War das jetzt die Folge davon? Wurde man, sobald man in dieses hyperkorrekte Deutschland wollte, etwa sofort mit der Höchststrafe belegt, sofern man Formulare nicht korrekt ausfüllte? Das fing ja gut an …
Ich ließ den Blick über die verkrusteten Spaghettireste auf den Tellern wandern und blieb an dem selbstgemalten, gerahmten Cartoon auf der Anrichte hängen, den Valeria, die chaotischste, aber genialste Grafikerin, die ich kannte, mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Darauf war eine völlig ramponierte Sechzigjährige in Rock und Bluse mit abstehenden Haaren und Löchern in den Strümpfen zu sehen, die offensichtlich eine wilde Nacht hinter sich hatte. Darunter stand in Großbuchstaben: WENN DAS LEBEN DIR ZITRONEN ANBIETET, DANN BESORG TEQUILA UND SALZ UND RUF MICH AN. Darunter hatte meine beste Freundin mit Kuli ihre Handynummer und einen Smiley gekritzelt.
Das war typisch Vale. Sie hatte zwar einen etwas seltsamen Geschmack, was ihre schwarzen Biker-Klamotten und die superkurzen rot gefärbten Haare anging, aber sie war eine Seele von Mensch und immer für mich da, wenn ich sie brauchte.
Daher fackelte ich keine Sekunde, kramte mein Telefon aus der blaugrün gemusterten Filztasche, die noch immer über meiner Schulter hing, und drückte die Wahlwiederholungstaste. Da wir sowieso eine Standleitung hatten, war klar, dass ich ihre Nummer als Letztes gewählt hatte. Sie würde mich verstehen, sie wusste, was das bedeutete: M-Ü-N-C-H-E-N. Ungeduldig wartete ich, es tutete … und tutete … und tutete.
Gefühlte drei Stunden später, ich hätte inzwischen die komplette Küche aufräumen, die Wohnung neu streichen und den kaputten Aufzug reparieren können, ertönte die mir vertraute, wenn auch verschlafene Stimme meiner Retterin in letzter Not.
»Pronto?«
»Ciao, Vale, ich bin’s. Stell dir vor …« Weiter kam ich nicht.
»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«, maulte sie am anderen Ende der Leitung.
Ich sah förmlich vor mir, wie Valeria sich am späten Vormittag neben Giorgio, ihrem aktuellen Lieblings-Kuschelkissen, im Bett umdrehte und dabei mit den Augen rollte. Ihre Mutter duldete so etwas, meine Eltern dagegen würden mir den Kopf abreißen, wenn ich ein männliches Wesen über Nacht bei uns einschleusen würde – noch dazu jede Woche ein anderes. Valeria und mich trennte nicht nur dieses eine Detail, dafür einte uns umso mehr, zum Beispiel unsere Abneigung gegen München. Seit meine Freundin dort zum...