Trompeter | Frühling in Utrecht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Trompeter Frühling in Utrecht

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7317-6155-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6155-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Klara ist überstürzt nach Utrecht gezogen. Hier will die Ex-Berlinerin, die eine zerbrochene Beziehung und eine gescheiterte Karriere als Kneipenwirtin hinter sich lässt, ein neues Leben anfangen. In Zeiten, wo Flüchtlingsströme durch Europa ziehen, verarbeitet sie ihre persönliche 'Flucht' im Kleinen. In einem ?dagboek? hält sie die verwirrenden Unterschiede zwischen ihrem alten und neuen Leben fest. So hat sie nicht nur der deutschen Sprache und Kultur, sondern auch Hauke den Rücken gekehrt. Zwar war diese Trennung längst überfällig, doch erst als sie von Erinnerungen übermannt wird, beginnt sie sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Eine wichtige Rolle für den Neubeginn spielt ihre Zuneigung zum jungen Thijs. Doch ihre Selbstbestimmung findet sie durch ihn nicht. Als sich die Lage zuspitzt, wird ihr klar, dass sie sich ihre Freiheit erobern muss - und Geborgenheit nur in sich selbst finden kann.Ein kluger Roman über die manchmal unerträgliche Leichtigkeit des Seins im heutigen Europa.'

Julia Trompeter, geboren 1980 in Siegburg, studierte Philosophie und Germanistik in Ko?ln. Nach ihrer Promotion lehrte sie Philosophie in Deutschland und den Niederlanden. Seit Kurzem ist sie an einer Schule in Berlin ta?tig, wo sie seit der Geburt ihres Kindes lebt. Sie schreibt Lyrik und Romane und arbeitet frei für die FAZ und den WDR. Für ihr Werk wurde sie u. a. mit dem Rolf-Dieter- Brinkmann-Stipendium der Stadt Ko?ln und dem Fo?rderpreis des Landes NRW ausgezeichnet. Ihr erster Gedichtband Zum Begreifen nah erhielt den Poesie-Debüt-Preis der Stadt Düsseldorf.
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Fietsen

Als ich in Utrecht endlich aus dem großen und unübersichtlichen Bahnhofsgebäude gefunden hatte, das in ein großes Einkaufsareal eingebettet ist, sah ich zuerst die vielen Fahrräder in der Radstation am Hauptbahnhof. Hier gab es nicht nur eine unterirdische Tiefgarage, sondern auch zwei weitere riesige Stellplätze mit speziellen zweistöckigen Fahrradständern, deren Konstruktion und Handhabung mir zwar unverständlich waren, die jedoch augenscheinlich Platz sparten. So was hatten wir in Deutschland nicht, also natürlich gab es Fahrräder und solche, die auf den Fahrrädern fuhren, aber beileibe nicht in diesen Ausmaßen. Fahrräder hießen hier fietsen, und nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bestand zwischen Fahrradfahrern und Fietsfahrern ein Unterschied wie Tag und Nacht. Fietsfahrer fuhren generell ohne Helm, und Licht hatte kaum jemand an, auch nicht im Winter oder bei Dunkelheit. Fahren war sowieso der falsche Ausdruck, sie jagten vielmehr in dichten Pulks durch die Stadt, am liebsten zu zweit oder dritt nebeneinander her und völlig ins Gespräch vertieft. Es schien mir gar, als schaue niemand auf die Straße dabei. Ganz so, als sei das Fietsfahren den Niederländern etwas wie Atmen, etwas Angeborenes, das man so ganz nebenbei machte. Fietsiture automatique. Ich hingegen kam mir ziemlich schwerfällig vor auf meinem pinken Rad, das an mir nichts Elegantes hatte, und ich nichts auf ihm.

Mir fielen die wenigen Reitstunden aus meiner Mädchenzeit ein. Auf dem Pferderücken hatte ich in etwa genauso gehangen, wie ich jetzt auf dem Fahrradsattel saß, zu gebückt, zu schlaff, als hätte ich nicht einen Muskel im Leib. Spaß gemacht hatte es auch nicht. Besonders das Voltigieren. Es hatte schon damit angefangen, dass ich nicht auf den Sattel kam, immer dieses Aufspringen aufs Pferd aus dem Lauf, ich weiß bis heute nicht, wie das gehen soll. Hier sah ich manchmal, dass Menschen aus dem Lauf auf ihr Fahrrad sprangen, irgendwie von hinten, so schnell und elegant ging das, dass ich einfach nicht dahinterkam, wie sie das machten. Am Morgen meiner Abreise war ich auch auf ein Pferd gestiegen, oder besser gesagt in ein Pferd, ein eisernes nämlich, wobei der alte indianische Vergleich bei den modernen Zügen kaum noch berechtigt schien. Die waren doch eher aus Plastik, außerdem verlief meine Strecke nicht durch die Black Hills wie in diesem Stummfilm über die transkontinentale Eisenbahn in Amerika, sondern von Berlin nach Amersfoort. Von da aus war ich dann noch einmal umgestiegen, in einen IC Richtung Utrecht, relativ spontan, denn eigentlich wusste ich noch gar nicht genau, wohin eigentlich, wohin mit mir. Mein anvisiertes Reiseziel hieß weg, weg aus Berlin, weg aus Deutschland, und weil ich nicht gerne flog und zudem, außer dem Englischen und Lateinischen, keine nennenswerten Sprachkenntnisse besaß, war mir Holland in den Sinn gekommen, oder besser gesagt die Niederlande. Die waren mit dem Zug zu erreichen und, so dachte ich, für mein Verständnis von Fremde abenteuerlich genug. Wohin genau ich nun aber eigentlich wollte, war mir noch nicht klar. Ich kannte mich nicht sonderlich gut aus mit diesem direkten Nachbarland, wusste aufgrund der Enge meines ländlichen, westfälischen Geburtsorts, dem ich nach dem Abitur gerne den Rücken gekehrt hatte, eigentlich nur, dass ich nicht ganz in die Pampa wollte, aber eben auch nicht nach Amsterdam, das mir von der Szene her nicht weit genug weg von Berlin zu sein schien; Den Haag hingegen klang viel zu seriös, und so waren Rotterdam und Utrecht zur Auswahl geblieben. Über Utrecht hatte mal jemand ein Buch geschrieben, so hatte ich im Internet gelesen, in dem es um die Rückführung von beschlagnahmten Fahrrädern nach dem Zweiten Weltkrieg geht. Diese Idee und der Name der Stadt waren mir sympathisch – und so fiel meine Wahl eben auf Utrecht. Erst im Zug hatte ich beschämt bemerkt, dass dieses Utrecht eigentlich Ütrecht gesprochen wurde, und mir war erneut klar geworden, wie wenig Ahnung ich eigentlich hatte: vom Land, von der Stadt, von den Fahrrädern hier.

Gefährlich war es aber eigentlich nicht. Also das Fietsfahren. Wenn ich auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit einmal absteigen wollte, um in einem der vielen kleinen Läden, den winkels, ein belegtes Brötchen, das wahrscheinlich wegen der hellrosa Tomatenscheibe, das es zierte, unter der Bezeichnung broodje gezond verkauft wurde, zu erstehen, musste ich mir vorher gut überlegen, wie ich das anstellen sollte, ohne eine Massenkarambolage zu verursachen. Am sichersten schien es mir, mich an einer roten Ampel aus dem Verkehr zu ziehen. Also ganz schnell abzusteigen und mein fiets den Rest des Wegs zum winkel zu schieben. Es gab nur ein Problem an dieser Technik: Wenn nämlich keine rote Ampel kommen sollte, dann, ja dann musste ich entweder den Vormittag über hungern oder irgendwann in voller Fahrt abspringen und das Rad mit einem gewagten Ruck aus dem Verkehrsstrom reißen.

Ich werde geschickter darin werden, wenn ich mich erst eingelebt habe oder endlich wieder krankenversichert bin, dachte ich dann, und wer ist schon gleich eine Meisterin in allen Dingen in einer fremden Stadt.

Der November in Utrecht war vom Wetter her wie ein kalter April in Berlin, mit der Ausnahme, dass das Laub nicht spross, sondern von den Bäumen fiel, und es keine Gewitter gab. Ansonsten hatte man es wie in anderen Ländern auch mit den wechselhaften und launischen Kapriolen eines unbeugsam herannahenden Winters zu tun. Über den Grachten stand morgens häufig der Nebel, Boote lagen traurig und halb ersoffen im Wasser, alles war feucht und klamm. Als ich vorhin über die kleine Brücke in der Nähe meiner Wohnung gefahren war, hatte ich einen Bootsbesitzer in seinem beinahe gekenterten Boot stehen und Wasser herausschöpfen sehen. Er war vielleicht gar nicht traurig dabei, aber von außen betrachtet war dies eine höchst melancholische Szene, die mir noch tagelang nachging. Der Bootsfahrer im Herbst, dachte ich. Und wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich ein Bild davon gemalt. Aber weil ich nicht malen konnte, höchstens mit Buchstaben und auch nur an guten Tagen, deshalb nahm ich mir vor, es wenigstens kurz zu notieren, also wie poetisch das war. Das mit dem Bootsfahrer auf der Gracht im November. Und ich fragte mich, was das wohl dauerhaft mit mir anstellen würde, wenn ich von nun an jeden Tag durch eine solche im wahrsten Sinne des Wortes beschauliche Landschaft fahren würde. Überall Schönheit, nur Schönheit, so dachte ich jeden Morgen, besonders natürlich, wenn die Sonne schien. Schöne kleine Häuser mit großen Fenstern gab es hier, sodass man die Einrichtungen gut sehen konnte. Überall kleine Grachten und Brücken und Einzelhandel. Jede Menge Einzelhandel. Es gab zum Beispiel einen poelier, einen Metzger extra für Vögel. Während auf jemanden, der Vögel zerlegte, das Wort Metzger nun wirklich nicht passte, gefiel mir die Bezeichnung poelier außerordentlich gut.

Auch das Wort winkel für die vielen kleinen Geschäfte an den verwinkelten Sträßchen fand ich trefflich gewählt, wobei es leider auch für den Media Markt am Hauptbahnhof benutzt wurde. Dieser war ein sogenannter electronicawinkel – ebenso riesig und grauenhaft hässlich wie seine Pendants überall sonst auf der Welt. Durch die Assoziationskette, die ungewollt bei Media Markt geendet war, hatte das poetische Gefühl leider Konkurrenz von einem sehr unpoetischen bekommen. Ich seufzte. Wie sollte ich da heute noch etwas einigermaßen Anschauliches notieren? Mit Media Markt im Kopf? Dat is dom, hätte ich sagen können, wenn ich mich denn schon getraut hätte, ein bisschen zu sprechen. Doch ich haderte noch viel zu sehr mit den Tücken zweier verwandter Sprachen, die in meinem Kopf rangelten wie Zwillinge. Die sich zankten, obwohl sie sich doch liebten. Vermutlich kamen sie sich wegen der Ähnlichkeiten ins Gehege, denn es gab da in mir eine Verwirrung angesichts des Verwandten, Vertrauten in der niederländischen Sprache, die insgesamt wahrscheinlich sehr menschlich, aber dadurch nicht minder anstrengend war.

Hier in Utrecht stand jedenfalls ein Dom, weshalb es nahelag, dass ich mich fragte, ob der Satz dat is dom, außer dass er die Dummheit der Welt anprangerte, wohl auch zur Bezeichnung dieses Bauwerks verwendet werden konnte. Heute Morgen, als er wie zu jeder vollen Stunde sein immer neues Liedchen bimmelte, war seine Spitze samt Glockenturm ganz und gar im Nebel verschwunden gewesen. Es war unheimlich, wie es da aus den Wolken scholl, ohne dass ich sehen konnte, wo die Klänge herkamen. Als spiele Gott persönlich auf einem riesigen Xylofon, so hatte das geklungen, ja, das Szenario hatte etwas von diesem Tag an sich gehabt, über den die Zeugen Jehovas immer mit einem sprechen wollen. Armageddon. Das stündliche Glockenspiel war mir ansonsten lieb, war es doch ein Gruß an alle, die ganze Stadt. Da kam es nicht darauf an, wo man herkam, ob man auf der Straße lebte oder im besten Kiez, ach pardon: kwartier. Die Klänge waren einfach für jedes Ohr gedacht, flogen gratis in der Luft herum, manches Mal vom Wind nah herangetragen, manches Mal ganz von ihm zerzaust und zerrupft. Jedes Jahr wurde diese Musik neu programmiert, das hatte mir ein »Mein Herr«, ja, nicht einfach ein Mann, sondern ein echter meneer, bei der Kuppelbesteigung erzählt. Von ihm wusste ich auch, dass es eine echte mevrouw war, die die Musik programmierte und sich Jahr für Jahr die Zusammenstellung der Kompositionen ausdachte.

Und ich wollte zu gerne wissen, wer diese Frau war. Wie schwer das sein...


Trompeter, Julia
Julia Trompeter, geboren 1980 in Siegburg, studierte Philosophie und Germanistik in Ko¨ln. Nach ihrer Promotion lehrte sie Philosophie in Deutschland und den Niederlanden. Seit Kurzem ist sie an einer Schule in Berlin ta¨tig, wo sie seit der Geburt ihres Kindes lebt. Sie schreibt Lyrik und Romane und arbeitet frei für die FAZ und den WDR. Für ihr Werk wurde sie u. a. mit dem Rolf-Dieter- Brinkmann-Stipendium der Stadt Ko¨ln und dem Fo¨rderpreis des Landes NRW ausgezeichnet. Ihr erster Gedichtband Zum Begreifen nah erhielt den Poesie-Debüt-Preis der Stadt Düsseldorf.

Julia Trompeter wurde 1980 in Siegburg geboren und lebt in Köln. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Klassische Literaturwissenschaft in Köln und promovierte in Berlin und Bochum. Seit 2017 arbeitet sie an der Universität Utrecht. Von 2009 bis 2018 war sie Teil des performativen Projekts Sprechduette. Für ihr Schaffen erhielt sie u.a. 2012 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln, 2014 und 2018 den Förderpreis des Landes NRW.



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