E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Trenow Das Kastanienhaus
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-09634-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-09634-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England 1938: Lily Verner ist jung, lebenslustig und will etwas von der Welt sehen, doch der heraufziehende Zweite Weltkrieg macht ihre Reisepläne zunichte. Stattdessen arbeitet sie in der väterlichen Seidenweberei. Dort verliebt Lily sich in den deutschen Flüchtling Stephan - eine unmögliche Liebe in Kriegszeiten. Stephan wird des Landes verwiesen, und Lily bleibt nur die drückende Verantwortung für die Produktion der kriegswichtigen Fallschirmseide, die seit dem Tod des Vaters allein auf ihren Schultern lastet. Eine Verantwortung, die zu einem fatalen Fehler führt, der Lilys Leben für immer verändern wird ...
Liz Trenow wuchs in der Nähe einer Seidenspinnerei auf, die auch heute noch in Betrieb ist und sie zu ihrem ersten Roman 'Das Kastanienhaus' inspirierte. Obwohl ihre Vorfahren seit über dreihundert Jahren im Seidengeschäft tätig sind, entschied Liz Trenow sich für einen anderen Beruf. Sie arbeitete viele Jahre als Journalistin für nationale und internationale Zeitungen sowie für den Hörfunk und das Fernsehen, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete.
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Kapitel 1
Die Geschichte der Seide hat vieles mit dem schönen Geschlecht zu tun. Ihre Entdeckung wird der chinesischen Kaiserin Hsi Ling zugeschrieben. Angeblich ist im Jahr 2640 vor Christus eine Seidenraupenpuppe aus dem Maulbeerbaum, unter dem sie saß, in ihre Teetasse gefallen. Als sie versuchte, den Kokon zu entfernen, begannen die klebrigen Fäden sich zu lösen und sich an ihre Finger zu heften. Sie untersuchte den Faden genauer und erkannte sofort dessen Potenzial. Von diesem Moment an widmete sie ihr Leben der Zucht von Seidenraupen und der Produktion von Seide zum Weben und Sticken.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Vielleicht liegt es daran, dass der Tod alle sprachlos macht, wenn sich die Gäste bei Beerdigungen in Plattitüden flüchten. »Er hatte ein ausgefülltes Leben … Ein wundervoller Abschied … Eine sehr bewegende Trauerfeier … So schöne Blumen … Du hältst dich so tapfer, Lily.«
Das ist keine Tapferkeit: meine geraden Schultern, der erhobene Kopf, dieser bemühte Ausdruck von Dankbarkeit. Es ist nichts als die Entschlossenheit, den heutigen Tag zu überleben und so bald wie möglich mit dem weiterzumachen, was von meinem Leben noch übrig ist.
Der Tote in dem kostspieligen, mit Verner-Seide ausgeschlagenen und mit Lilien geschmückten Sarg, der jetzt tief in der Erde ruht, ist nicht der Mann, den ich geliebt und mit dem ich die letzten fünfundfünfzig Jahre meines Lebens geteilt habe.
Auch nicht der Mann, der mir half, nach den traumatischen Kriegserlebnissen wieder zu mir zu finden, der meine Hand hielt und meinem wunden Herzen mit seiner klugen Art und seiner Zuversicht Ruhe schenkte. Es ist nicht der Mann, der mich zur Frau nahm und ein liebevoller Vater und Großvater wurde. Die Freude über unser gemeinsames Leben machte es uns möglich, die Schrecken der Vergangenheit zu begraben.
Nein, dieser Mann verschwand bereits vor Monaten, seit die Krankheit ihn fest in ihrem Griff hielt. Sein Tod war eine gnädige Erlösung, und ich habe meine Trauer bereits hinter mir. Oder zumindest rede ich mir das ein.
Nach der Beisetzung füllt sich das Haus mit Leuten, die ihm »ihre letzte Ehre erweisen wollen«. Aber ich sehne mich danach, dass sie gehen, und als sie es endlich tun, lassen sie neben Erinnerungen halb geleerte Gläser und Reste von kalten Platten zurück.
Um mich herum räumen mein Sohn und seine Familie auf. Sie spülen Geschirr, saugen Staub, leeren die Mülleimer. Im grellen Licht der Küchenlampe fallen mir erste graue Fäden in Simons dunklem Haar auf, und mit einem Mal bemerke ich überrascht, dass er inzwischen ein Mann mittleren Alters ist. Louise, seine Frau, ist in den vergangenen Jahren ein wenig rundlich geworden. Sie werden bald in dieses Haus einziehen, und ich freue mich für sie. Nicht nur weil sie mehr Platz gut gebrauchen können, sondern auch weil mir die Idee gefällt, dass die nächste Generation diese Mauern mit neuem Leben füllen wird. Unser Kastanienhaus, so haben wir es immer genannt nach den hohen Bäumen, die es umstehen. Aber heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über den bevorstehenden Umzug zu sprechen.
Sie schicken mich aus der Küche. Ich gehe in den Salon, schalte Fernseher und Wiedergabegerät ein und schaue mir die Diashow an, die sie für die Trauergäste zusammengestellt haben. Vorher, in der Gruppe, war mir nicht danach. Jetzt blicke ich gebannt auf den Bildschirm, auf dem Fotos einander ablösen und sein Leben Revue passieren lassen. Manche sind mir vertraut, andere habe ich lange nicht gesehen. Sepiafarben die Kindheit, schwarz-weiß die frühen Erwachsenenjahre und dann farbig bis ins hohe Alter – jedes Bild blitzt bloß für wenige Sekunden auf und geht sogleich in das nächste über.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, empfinde es als Farce. Als ärgerlich, ja sogar beleidigend. Wie kann man ein langes Leben in eine Diashow pressen? Doch als die Bildfolge zu Ende ist und sich zu wiederholen beginnt, ergreift ein anderes Gefühl in mir Raum. Trauer. Meine Erleichterung darüber, dass er nicht länger leiden muss, weicht der erschreckenden Erkenntnis, dass ich einen großen Verlust erlitten habe.
Ich habe ihn geliebt. Er war ein gut aussehender Mann, aktiv und tatkräftig. Ein Mann, dessen Selbstlosigkeit keine Grenzen kannte, der nahezu unbegrenzt gutmütig war. Der jeden Teil von mir unendlich liebte und mich zu einer glücklichen Frau machte. Ich schaue auf die vorbeiziehenden Bilder und erwidere sein Lächeln mit Tränen in den Augen.
Meine Enkeltochter bringt eine Kanne Tee. Mit siebzehn ist Emily ein kluges, sensibles Mädchen, das schneller erwachsen wird, als ich es gerne hätte. Ich entdecke in ihr so viel von mir selbst, und in diesem Alter sah ich ganz ähnlich aus. Emily ist nicht wirklich hübsch, zumindest nach gängigen Vorstellungen nicht, wohl aber ausgesprochen apart. Ihre Nase ist ein wenig zu lang, doch sie hat eine schöne, weiche Haut und einen cremefarbenen Teint. Zu ihrem Ärger wird sie leicht rot – genau wie ich als junges Mädchen. Ihr schwarzes Haar ist dicht und glatt, und ihre dunklen wissbegierigen Augen können vor Schalk funkeln oder vor Missbilligung eisig werden. Je nachdem. Und sie hat dieses entschlossene Verner-Kinn geerbt, das jedem signalisiert: »Leg dich nicht mit mir an!« Sie ist groß und schlaksig mit langen Armen und Beinen und trägt kaum etwas anderes als geflickte Jeans und Pullover von Wohltätigkeitsbasaren, die heutzutage bei ihrer Generation offenbar en vogue sind. Unkompliziert und dabei selbstbewusst, manchmal anstrengend mit ihrer Betriebsamkeit, aber immer gut gelaunt. Wäre meine eigene Tochter nicht tot zur Welt gekommen, denke ich manchmal, würde sie wie Emily gewesen sein.
Bei der Beerdigung und dem anschließenden Empfang, wo die Farbe Schwarz dominierte, wirkte die purpurrote Strähne in ihrem Pony wie ein exotischer Vogel zwischen den dunklen Anzügen und Kleidern. Bald wird sie flügge werden wie all diese unabhängigen jungen Frauen. Doch noch schenkt sie mir ihre Gesellschaft, unterhält mich mit allerlei Geschichten, und ich genieße dankbar jeden Augenblick.
Sie reicht mir eine Tasse dünnen Tee ohne Sahne, genau wie ich ihn mag, und lässt sich dann auf den Hocker neben mir fallen. Wir sehen uns eine Weile gemeinsam weiter die Diashow an, als sie plötzlich sagt: »Ich vermisse Granpa, weißt du. Er war ein ganz besonderer Mann, so voller Ideen und so begeisterungsfähig. Allein, wie er uns bei allem, was wir taten, unterstützt hat – selbst bei den verrücktesten Sachen.« Sie hat recht, denke ich. Ich war wirklich eine glückliche Frau, einen solchen Ehemann zur Seite zu haben.
»Er hat mich immer nach allem Möglichen gefragt«, fährt sie fort. »Sich dafür interessiert, womit ich mich beschäftige. Nicht viele Erwachsene sind so. Ein toller Zuhörer.«
Mein kluges Mädchen trifft wie immer den Nagel auf den Kopf. In ihren Worten schwingt ein leichter Vorwurf mit, dass ich keine so gute Zuhörerin bin. »Du kannst ja in Zukunft mit mir sprechen, jetzt, wo er nicht mehr da ist«, sage ich ein bisschen zu schnell. »Erzähl mir, was es Neues gibt.«
»Willst du das tatsächlich wissen?«
»Ja, bestimmt«, sage ich. Ihre Beine, die in gemusterten schwarzen Leggings stecken, scheinen meterlang unter ihrem Minirock hervorzuragen, und mein Herz ist voller Liebe, weil sie mir in diesen Minuten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
»Habe ich dir erzählt, dass ich nach Indien gehe?«, fragt sie.
»Meine Güte, wie wunderbar«, sage ich. »Für wie lange?«
»Bloß für einen Monat«, antwortet sie unbekümmert.
Ich beneide sie schmerzlich um ihre Jugend, ihren Tatendrang, ihre Freiheit. Ich wollte in ihrem Alter ebenfalls reisen, doch der Krieg kam dazwischen. Meine Gedanken beginnen abzuschweifen, bis ich mich daran erinnere, dass ich ihr versprochen habe zuzuhören. »Was wirst du dort machen?«
»Wir besuchen ein Waisenhaus. Im Dezember. Mit einer Gruppe vom College. Um das Fundament für einen Kuhstall auszuheben«, sagt sie triumphierend. Ich bin verwirrt und von der Vorstellung gefangen, wie Emily, ein reines Stadtkind, in der Hitze einen Spaten schwingt, die schlanken Hände schmutzig und voller Schwielen, das Haar staubbedeckt.
»Warum braucht ein Waisenhaus einen Kuhstall?«
»Damit sie frische Milch für die Kinder haben. Die wird dort nicht an die Tür gebracht wie bei dir, Granma«, sagt sie tadelnd. »Und außerdem sammeln wir Geld, um Kühe zu kaufen.«
»Wie viel braucht ihr?«
»Ungefähr zweitausend Pfund. Und damit wir selbst möglichst viel zusammenbringen, springe ich mit dem Fallschirm ab. Für eine Werbung – der Sponsor zahlt gut. Habe ich dir das nicht erzählt?« Bei dem Gedanken, dass Emily, mein Ein und Alles, an einem Fallschirm hängt, wird mir ganz schwindlig. Meine Enkelin merkt es und will mich beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, es ist absolut sicher«, sagt sie....