Treitler | Sehr gut | Buch | 978-3-9501814-4-9 | sack.de

Buch, Deutsch, 198 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 204 mm, Gewicht: 270 g

Treitler

Sehr gut

Novelle. Zeichnungen von Tamara Hallwirth

Buch, Deutsch, 198 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 204 mm, Gewicht: 270 g

ISBN: 978-3-9501814-4-9
Verlag: Achinoam Verlag


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Zielgruppe


Alle Altersgruppen ab 14 Jahren sowie besonders kirchennah Beschäftigte, Pädagog*innen und sozial Tätige.


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Nachdem sich der Rhythmus von Schule und Internat eingependelt hatte, waren wir, gewissermaßen die Alten dieser Gruppe, darauf gespannt, wer dieses Jahr kommen und sein Praktikum machen würde. Einer von uns fragte schließlich auch den Erzieher, doch bekam keine klare Antwort. Das sei noch nicht ausgemacht, es sei schwierig, mit Praktikanten den Wochenrhythmus zu halten, denn jeder Erzieher brauche seinen freien Tag. Aber irgendetwas werde sich schon ergeben, das muss man mit der Internatsdirektion absprechen und organisieren.
Doch wir hatten nicht lange zu warten. Denn eines Nachmittags stand an der Seite unseres Erziehers ein Gesicht, das mir von der Ferne bekannt war und wohl die meisten von uns schon am Schulgang kurz gesehen hatten. Ein mittelgroßer, junger, kräftiger Mann, sah er mit seinen dicken Brillengläsern irgendwie gescheit aus. Kurzes, ausdrucksloses Haar. Ein Gesicht, das keine eindeutige Botschaft von sich gab. Alles an ihm erschien mir eiförmig, sein Körper genauso wie sein Schädel. Der Mann lächelte ein wenig, als unser Erzieher mit einigem Stolz uns ankündigte, er sei keine Übergangslösung, sondern eine Dauerlösung für das gesamte Internat.
„Er wird also bei euch sein, und zwar wie im Vorjahr wird das der Dienstag sein. Bei den Dritt- und Viertklässlern wird er am Mittwoch sein und in der Oberstufe am Donnerstag. Wenn ihr also von ihm etwas braucht, dann ist das nicht auf diesen einen Tag in der Woche beschränkt. Und wenn ihr älter werdet, dann könnt ich sicher auch bei ihm nachfragen, wenn es mit Französisch nicht ganz klappt. Der Herr Professor Pigasse“ – der Erzieher betonte jedes Wort, als würde er es mit seinem Mund stanzen – „unterrichtet nämlich bei uns seit heuer Französisch, das ist nämlich seine Muttersprache.“
Ich staunte. Der erste Franzose in meinem Leben stand vor mir. Unser Englischprofessor hatte uns von seinen ersten Lehrerjahren in London erzählt, aber er war ein Wiener. Hier stand ein Franzose vor uns, fest wie ein kleiner Turm, unverrückbar in seiner massigen Gestalt. Sein Gesicht wurde durch diese Betonung des Erziehers nicht zusätzlich aufgehellt. Das starre Lächeln blieb wie eingefroren liegen.
„Es wird sicher eine gute Zeit werden, ja, eine sehr gute. Der Herr Professor Pigasse war nämlich schon in einem Stiftsgymnasium ein Jahr tätig und hat sich bewährt. Wir durften ihn nun übernehmen und anstellen.“ Und nun wandte sich der Erzieher direkt an Pigasse: „Dafür möchte ich ihnen wirklich danken, dass sie zusätzlich zu den fünf Schulstunden in der fünften Klasse auch die Mitarbeit im Internat übernommen haben“, und drückte ihm freundschaftlich die Hand. „Bitte …“ sagte der Erzieher und gab Pigasse mit einer Handbewegung zu verstehen, dass die Reihe nun an ihm war, sich vorzustellen.
„Gut“, sagte er mit eher scharfer Stimme und einem deutlich hörbaren französischen Akzent, der, wie ich bald wahrnahm, die H-Laute nicht kannte, die Ch-Laute häufig in Sch-Laute wandelte und manche unvermutete Schärfe entließ, die zu ungewohnten Betonungen führte. „Ich komme aus Belgien, meine Sprache ist Französisch. Ich bin seit eineinhalb Jahren hier in Österreich, habe Deutsch gelernt. Jetzt beginne ich hier. Wir werden sicher gut zusammenarbeiten. Wo ich kann, werde ich euch helfen.“
„Wollt ihr den Herrn Professor etwas fragen? Ich glaube, das ist möglich, Herr Professor“, wandte sich der Erzieher wieder an ihn. Mir schien, er war ein wenig übertrieben dankbar dafür, dass dieser Professor ihm seinen freien Wochentag ermöglichte. Aber das gehörte zur Art des Erziehers. Ihm konnte eine kleine Freude das Gesicht zerziehen, als stünde er unmittelbar davor, in den Himmel zum dreifaltigen Gott, zu Maria und zu allen Heiligen aufgenommen zu werden; und eine Misslichkeit wie der Zweifel daran, ob die letzten Seiten seiner Abschlussarbeit an der Universität, die er eben abgeschickt hatte, auch angenommen werden würden, legte sein Gesicht in traurige Falten, mit denen er seinem alten Vater glich, der im Vorjahr manchmal gekommen war, um irgendwelche Kleinigkeiten zu reparieren.
Unser Klassensprecher zeigte auf, ein selbstbewusster Bursche aus einer Lehrerfamilie.
„Bitte …“ gab ihm der Erzieher das Wort.
„Was haben sie früher getan, ich meine, früher, als sie noch nicht in Österreich waren.“
„Ich war Radio- und Rundfunktechniker. Bei den Minerva-Werken in Brüssel. Ich habe natürlich auch ein solches Radio in meinem Zimmer, in der Klausur. Und ich war bei der Armee. Alle waren wir bei der Armee.“
„Ja, danke“, sagte der Erzieher.
„Und wie war das bei der Armee?“ fragte plötzlich unser Hop Sing, ohne aufgerufen zu werden. Ein paar verhielten sich hörbar das Lachen.
„Ich habe mit bloßen Händen gegen Panzer gekämpft. In Afrika. Es war zwischen Leben und Tod. Wir haben Glück gehabt. Wir konnten das. Wir haben überlebt.“
„Und wie war das dort? …“
„Bitte, das ist jetzt nicht so interessant“, unterbrach der Erzieher. „Wollt ihr noch etwas wissen über uns hier?“
Niemand meldete sich.
„Gut, dann ist noch zu sagen, dass der Herr Professor den ganzen Dienstag hier sein wird. Also, er wird euch in der Früh aufwecken, er wird nach der Schule in der Freizeit da sein, natürlich in den Studierzeiten, beim Abendessen und dann das Licht in den Schlafsälen abdrehen. Und ich glaube“, er wandte sich wieder an Pigasse und seine Augen suchten sein Einverständnis, „er wird auch noch ein wenig danach in meinem Zimmer sein, nur für den Fall, dass jemand etwas braucht.“ Pigasse nickte dazu kaum merkbar.
Beide gingen in das Zimmer des Erziehers. Ich schlug mein Hausübungsheft aus Mathematik auf und begann, die Aufgaben abzuarbeiten.


Treitler, Wolfgang
Wolfgang Treitler, geb. 13. April 1961; Professor für Fundamentaltheologie / Universität Wien; Mitglied des P.E.N.-Clubs, der österreichisch-israelischen Gesell-schaft und der Österreichischen Freunde von Yad Vas-hem


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