Trawny | Aschenplätze | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Trawny Aschenplätze

Eine Theorie dieses Subjekts
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-2048-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Theorie dieses Subjekts

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7518-2048-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Leben ist unausweichlich mit einem urphilosphischen Auftrag verbunden – mit dem zur Selbsterkenntnis, der auf die Frage abhebt: Wer bin ich? Ihr stellten sich von Augustinus bis Nietzsche seit je die Philosophen, stets im Wissen, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, eine Antwort darauf zu finden: indem das eigene Leben autobiografisch nachgezeichnet wird, und zwar jenseits aller Illusion und Lüge. Denn zu erfahren, wer man ist, geht über eine bloße Reflexion hinaus. Allein in der Schrift vermag das Ich sich eine Sprache zu geben, »die der Grammatik der Seele gehorcht« und in der alle Widersprüche, Wegmarken, Widerfahrnisse zutage liegen: der vom Stahlabstich rot gefärbte Himmel im gesichtslosen Ruhrpott, die ersten sexuellen Erfahrungen, die langsame Entfremdung von Familie und Klasse, die Beschäftigung mit Heidegger und der Kampf um universitäre Anerkennung. Von den Aschenplätzen seiner Biografie ausgehend, zeichnet Peter Trawny ein Selbstporträt, das die Bruchstellen ausstellt. An ihnen finden Handeln und Denken kaum noch zueinander – dort aber entzündet sich das Licht eines neuen Daseins.

Wie einem Roman folgen wir gebannt dem menschlichen und intellektuellen Schicksal eines Menschen, der in dieser Zeit mit seinem Leben exemplarisch und doch einzigartig ist. Ein radikales Buch für alle, die wissen wollen, wie ein philosophisches Leben in unserer Zeit aussieht.

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Bunkerseelen des Wirtschaftswunders


Meine Eltern heirateten wegen meiner Geburt früh, wahrscheinlich zu früh. Wir zogen in eine kleine Mietwohnung nach Wanne-Eickel, in ein Haus des sozialen Wohnungsbaus, in dem auch meine Großmutter mit ihrem Stukkateur wohnte. Das Haus steht noch heute exemplarisch für die Gesichtslosigkeit, die das Ruhrgebiet überall zeigt. In grauem Rauputz, an dem man sich nicht nur die Haut, sondern sozusagen schon den Blick aufschürft, lebten wir untermittelschichtig in zwei Zimmern; für mich gab es natürlich kein eigenes. Der Hinterhof bestand aus Garagen und einer Schotterfläche, die im Sommer so staubte, dass man keine Wäsche aufhängen konnte. Wir wohnten im Parterre, die Großeltern im dritten Stock. Ich war oft bei ihnen. Im Wohnzimmer residierte eine riesige Rio-Palisander-Schrankwand auf rotem Teppichboden. Man sollte die deutsche Geschichte einmal als eine der Schrankwand erzählen, als eine Geschichte der Schrankwand, ihrer Entwicklung, der modischen Änderungen, der grotesken Übertreibungen, der unbewussten Ausschläge der Zeit. Ist sie nicht unverkennbar der Ausdruck einer Bunkerseele, die alles in einem Stauraum unterbringt, der so erscheint, als würde er, was er beherbergt, wie ein Panzer beschirmen? Man stelle sich das Innere eines Bunkers – die Luftschutzorte – im Zweiten Weltkrieg vor: meterdicke Betonwände, mit Stahl armiert (Braunschweiger Bewehrung), zur Sicherheit die Gasschleuse, darin die Kälte, die Angst. Die Schrankwand ist ein Bunker im Bunker, ein Bunker für die Dinge, die, wie der Weihnachtschmuck oder das Silvesterglas, nur einmal im Jahr ihren Schutzraum verlassen, um dann scheinbar vor der nagenden Zeit wieder beschützt zu werden. Manche Schrankwände sehen aus wie Krematoriumsöfen. Hinter fest verschlossenen Schranktüren sammelt sich die Asche der Jahrzehnte. Was übrig bleibt, sind Goldringe und Goldzähne, die ratlose Enkel oder Urenkel finden, um sie wiederum in ihrer eigenen Schrankwand einzulagern. Ich würde wetten, dass es irgendeine historische Verbindung zwischen der Architektur des Bunkers und der Erfindung der Schrankwand gibt. Mein Kindergarten lag in der Nähe unserer Wohnung, gegenüber der Kirche der Heiligen der Bergleute, St. Barbara, einem ziemlich hässlichen Neubau. Mein Vater arbeitete unter Tage, meine Mutter in einer Sparkassen-Filiale. Der Vater war abwesend, »auf Maloche«, wie manche sagen. (Naturgemäß wusste damals niemand, dass das Wort aus dem Hebräischen mit Malach, Engel, zusammenhängt.) Wenn er zuhause war, schlief er meist. Der Körper des Bergmanns erzwang sich seine Erholung. Sie war notwendig, nichts konnte ihr widersprechen oder in die Quere kommen; erst recht kein Kind, das spielen, laut sein wollte. Lediglich am Wochenende gab es gemeinsame Aktivitäten, die mit dem Lebensmitteleinkauf begannen und mit irgendwelchen Besuchen und schließlich dem Sportstudio im ZDF endeten. Ich wurde selten geschlagen; manchmal, weil ich meinen Vater beim Ausruhen störte. Er entschuldigte sich bei mir, ohne dass die Mutter wusste, was vorgefallen war. Einmal, schon auf der Grundschule, bin ich einem Mädchen hinterhergelaufen, das mit ihren Eltern an der Grenze zwischen Wanne-Eickel und Gelsenkirchen in einer geächteten Asozialensiedlung wohnte, nach einem Aufstand der Ureinwohner in Kenia Mau-Mau genannt. Ich weiß noch ihren Namen: Petra. Es gibt ein Klassenfoto. Sie wirkt da größer, älter als die anderen Mädchen. An den Aufenthalt kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich blieb bis in die Abendstunden fort, was mir ein paar Schläge auf den Hintern einbrachte. Ein halbes Jahrhundert später habe ich den Ort noch einmal gesucht und nicht gefunden. Dort ist jetzt alles überwuchert mit Brombeergestrüpp und Birken. Er ist spurlos verschwunden, auch im Gedächtnis der Städte (Google liefert keine Information). Im Verhältnis zu meinem Vater gab es allerdings andere Probleme. Bei jedem gemeinsamen Spiel musste er unbedingt gewinnen. Das frustrierte mich, worauf einzugehen er unfähig war. Wenn ich wieder einmal wütend wurde, fand er das nur lustig. Noch heute lacht er, wenn er davon erzählt. Das hat mir das Spielen vergällt. Ich habe zwar gelernt, zu verlieren, kann aber bei Gesellschaftsspielen keinen Spaß oder keine Freude, erst recht keinen Ehrgeiz entwickeln, selbst dann nicht, wenn ich gewinne. Auch beim Fußball oder später Tennis war mein Vater nicht in der Lage, gegen einen Zehnjährigen zurückzustecken. Als ich körperlich auf seinem Niveau war, hörte er auf, mit mir zu spielen. Was den Körper betrifft, so waren meine Eltern nicht verklemmt. Sie bewegten sich zuweilen nackt durch die Wohnung. Ich schlief noch bis zu meinem achten, neunten Lebensjahr manchmal bei ihnen im Bett. Das alles lag vielleicht am Einfluss der Arbeit, die einen unmittelbar körperlichen Effekt hatte, nicht an dem des Proletariats übrigens, von dem man nichts wusste. Der erschöpfte, sich erholende und erholte Körper war allgegenwärtig. Eigentlich war er das Einzige, was zählte, sein Aussehen war ständiges Thema. Dass Leben Körper bedeutet, ja ist, wurde von meinen Eltern exerziert. Ich erfuhr, dass meine Mutter ein ungeborenes Kind verlor, ein Geschwister, das ich nie hatte. Weil meine Eltern immer arbeiteten und sie dann nicht mehr auf meine Großmutter-Nanny (außer an Wochenenden) zurückgreifen wollten, wuchs ich recht frei auf. Sehr früh schon erhielt ich einen Wohnungsschlüssel, so dass ich selbständig planen konnte. Ich verlor mich auf den damals zugänglichen Industriebrachen in unserem Stadtteil und darüber hinaus. Das Ruhrgebiet war in jener Zeit noch in Arbeit. Hätte ich Ernst Jüngers Der Arbeiter damals schon gekannt, hätte ich zitiert: »Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensysteme bewegt.«46 Das war das Lied, das überall und immer erklang. Des Nachts färbte sich der Himmel vom Stahlabstich rot, auch das Abfackeln bei Hüls in Gelsenkirchen-Scholven war ein weithin sichtbares Spektakel. Man sprach von einer »Stadt der 1000 Feuer«. In einer monumentalen dreibändigen Untersuchung über das Ruhrgebiet aus dem Jahre 1938 führt die »Gelsenkirchener Bergwerks-AG« eine Tabelle an, in der die absolute Größe der Grubenfelder – also der von den Schächten aus in die Erde hineingetriebenen Gesamtfläche der Strecken und Strebe – im Ruhrgebiet angegeben wird.47 Heinrich Böll nennt Gelsenkirchen dann auch das »Zentrum des klassischen Ruhrgebiets«,48 wobei ich mich frage, was hier »klassisch« meint. Mag sein, dass gerade in dieser Stadt der Zusammenklang von Stahl und Kohle am hörbarsten war. Dass in ihr besonders an Wochenenden der Aufstieg des »Malochers« studiert werden konnte, wenn er in der nach dem Krieg entstandenen Fußgängerzone hinterm Hauptbahnhof mit der Familie einkaufen ging. Dort sah man sie dann, die Malocher, wie sie sich in ihren Anzügen und unter ihren Hüten genussvoll dem Konsum widmeten. Es roch stets nach irgendetwas; die Schwerindustrie produzierte Gerüche, die man geradezu vermisste, wenn sie fehlten. Die Zeche hatte in erster Linie einen beinahe süß-bitteren Duft, der einsetzte, wenn man die Schachtanlage betrat, und einem nachhing, wenn man sie verließ. Die Kokereien, in denen Koks vor allem für die Befeuerung der Hochöfen in Oberhausen und Duisburg produziert wurde, versetzten ganze Stadtteile in herben Gestank. Das Ruhrgebiet war ein Ereignis des Geruchs! Manchmal, in sehr besonderen Situationen, erinnere ich mich an ihn, nicht unangenehm. Es gab viele Kinder; nach der Schule waren wir Jungs so oft es ging draußen und spielten meistens Fußball. Oder wir kletterten auf Bahndämme und legten unter dem Sirenengeheul des Luftschutzes, der damals, im »Kalten Krieg«, noch regelmäßig überprüft werden musste, Nägel auf die Gleise. Einmal fiel mir bei einer solchen Kletterei ein Stein auf die rechte Schulter, der mein Schlüsselbein brach. Wir krochen auch in die vielen kleinen Bunker, die es damals noch gab. Da zeigten befremdliche Mädchen manchmal den Jungs ihr kleines Geschlecht. Auch Tümpel auf den monumentalen Industriebrachen, die sich im Frühling mit Fröschen, Kröten und Molchen füllten, waren anziehend; monumental, weil sich sowohl die Stahlindustrie als auch das Grubenwesen damals noch in ihrer brutalistischen Funktionalität als Bauwerke der Moderne darstellten. Es gab eine architektonische Repräsentation von Stahl und Kohle, deren fossilisierte Spuren man noch heute finden und bewundern kann. Ich fing übrigens das eine oder andere Tier und setzte es in ein Terrarium im Keller. Später, meine Eltern waren umgezogen, hatte ich ein großes im Kinderzimmer, mit einem Grünen Leguan; ich verkaufte ihn an eine Zoohandlung, als andere Interessen in den Vordergrund traten und ich anfing, das größer gewordene Tier zu vernachlässigen. Bücher gab es übrigens nirgendwo. Meine Großmutter kaufte mir einmal Das Leben in der Urzeit, ein Buch über Dinosaurier, das mich tief beeindruckte. Die Urgroßmutter schenkte mir eine illustrierte Tom-Sawyer-Ausgabe, das erste Buch, das ich vom ersten bis zum letzten Satz gelesen habe. Besonders Huckleberry Finn zog mich an: eine Halbwaise mit einem Säufer als Vater, vollkommen ungebunden und eigentlich miserabel. Ansonsten spielten Bücher keine Rolle. Diese Absenz drängte sich mir erst später auf. Zunächst bemerkte ich sie kaum. Meine Eltern waren neben der Arbeit vor allem mit Sport beschäftigt. Der Vater hatte in der Jugend viel und gut Fußball gespielt, bei Eintracht Gelsenkirchen in der Regionalliga West – ein paarmal auch...


Trawny, Peter
Peter Trawny, 1964 in Gelsenkirchen geboren, ist Philosoph und lehrte an den Universitäten Wuppertal, Wien und Shanghai. Er ist Mitherausgeber der Martin Heidegger-Gesamtausgabe und Autor zahlreicher Bücher.

Peter Trawny, 1964 in Gelsenkirchen geboren, ist Philosoph und lehrte an den Universitäten Wuppertal, Wien und Shanghai. Er ist Mitherausgeber der Martin Heidegger-Gesamtausgabe und Autor zahlreicher Bücher.



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