E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Townshend Das Zeitalter der Angst
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-85445-686-5
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Kunstroman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-85445-686-5
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pete Townshend ist Gitarrist und Komponist von The Who, einer der weltweit erfolgreichsten Rockbands und seit über 55 Jahren im Musikbusiness aktiv. Neben seiner Tätigkeit als Musiker hat er jahrelang als Lektor bei diversen Buchverlagen gearbeitet.
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Kapitel 1
Licht. Blendendes weißes Licht. Da steht ein Mann mit ausgestreckten Armen, den Rücken uns zugewandt. Er ist bis zur Hüfte nackt. Sein lockiges, schulterlanges Haar schimmert goldfarben. Wir können sein Gesicht nicht erkennen. Als wir uns dem Mann langsam von hinten nähern, beginnt sein Körper, das Licht abzuschirmen. Die Sonne geht unter. Seine Haare bilden einen Lichtkranz. Plötzlich springt der Mann nach vorn, und wir fliegen mit ihm, segeln durch die Luft, über die blaugrüne Landschaft, dem Sonnenuntergang entgegen.
Es ist ein beklemmendes Gefühl, mit dem ich an diesem Juniabend in meinem Adlerhorst sitze, wenige Tage vor meinem 67. Geburtstag im Jahr 2012. Mein Name ist Louis Doxtader, und dies ist meine Geschichte. Ich befinde mich im obersten Zimmer eines Hauses, das hoch auf einem Hügel neben einer geschäftigen Straße liegt, am Rande des heruntergekommenen Bergstädtchens Magagnosc in Südfrankreich. Das Gebäude ist gemietet und wird von einer liebenswerten, aber exzentrischen Frau geführt, die mich einlud, mit ihr den Sommer zu verbringen. Ich bezahle alle Rechnungen, und sie kümmert sich um mich, damit ich schreiben kann.
Nur sie weiß, was mich dazu antreibt, diese Geschichte zu erzählen. Sie kennt mein Geheimnis, da sie die Ereignisse selbst miterlebte, versteht, wie wichtig es für mich ist, deren Verlauf zu schildern, währenddessen sich Wundervolles zutrug – als Resultat einer vergangenen Handlung, die ich zutiefst bedauere. Ich will nicht, dass man mir vergibt, will stattdessen eine Art Erleichterung spüren. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, es aber auch nicht zulassen, dass ein Missverständnis von damals die Zukunft verändert. Nachdem Sie meine Geschichte gehört haben, werden Sie in der Lage sein, sich ein eigenes Bild zu machen.
An meinem kleinen Schreibtisch sitzend, kann ich von der erhöhten Aussichtsposition aus das Mittelmeer sehen, die entfernt gelegene Bucht von Cannes und den Hafen La Napoule. Unten im Tal liegt in der Nähe die Stadt Grasse, berühmt für ihre Parfümindustrie. Nur wenige der dort produzierten Düfte steigen zu mir auf, doch die von Kiefernduft erfüllte Luft der Berge, die mit ihren Pisten über dem Tal liegen, dringt manchmal zu mir hinab.
Mein Nachname Doxtader stammt vermutlich aus den Niederlanden, doch mein Urgroßvater kam ursprünglich aus Norwegen. Ich habe mein ganzes Leben in Großbritannien verbracht. Mein Vater Edvard – auch als Ted bekannt – wurde nach Edvard Munch benannt, Maler von Der Schrei. In meiner Kindheit war das eine düstere, geradezu prophetische Vorstellung, die mich möglicherweise prägte, wie sich, so hoffe ich, herausstellen wird.
Munch lebte noch, als mein Vater geboren wurde, und meine Großeltern hatten den bekannten Mann getroffen und zeigten sich tief beeindruckt. Mein Vater Edvard war zwischen den Kriegen nach Großbritannien gezogen und hielt sich dort weiterhin auf, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass er in dieser Zeit für das Kriegsministerium als Spion tätig gewesen sei, da Norwegen gegenüber Deutschland kapituliert habe. Man hatte ihn auf dem RAF Northolt Airport stationiert, von wo aus er an einigen Flugeinsätzen nach Norwegen teilnahm. Während der letzten Jahre der Feindseligkeiten traf und heiratete er meine englisch-jüdische Mutter Claire, und ich wurde geboren, kurz nachdem man Deutschland gezwungen hatte, den neuen Lebensraum aufzugeben.
Als sich mein Patenkind Walter mit meiner Tochter Rain anfreundete, begann ich, mehr Zeit mit dem Jungen zu verbringen. Sie besuchten schon von frühster Kindheit an dieselbe Schule und wurden im Dezember 1966 geboren beziehungsweise im August dieses Jahres.
Walter ist Musiker. Schon im Alter von acht Jahren spielte er ständig Mundharmonika, blies darauf und sog die Luft ein, oftmals den Kopf in einen Plastikeimer gesteckt, um den Klang zu verstärken und sich von der Welt abzukapseln. Ich war mit Walters Eltern eng befreundet und beeindruckt vom Orchester, mit dem sein Vater auftrat.
Es mag Sie vielleicht interessieren, wie Walter Karel Watts zu seinem mittleren Namen kam. Sein Vater Harry war ein hochtalentierter, klassisch ausgebildeter Musiker, aber auch Science-Fiction-Liebhaber. Karel Capek wiederum war ein tschechischer Dramatiker, der das Stück W.U.R. Werstands universal Robots verfasste. Sein Bruder kam auf den Begriff „Robot“, der im Tschechischen „Arbeitstier“ bedeutet.
Harry hatte große Pläne für Walter, und aus diesem Grund gab er seinem Sohn den mittleren Namen, inspiriert von Karel Capeks scharfsinnigem Theaterstück aus dem Jahr 1920, das von der Machtübernahme durch intelligente Maschinen handelt. In den Augen seines Vaters war für Walter wissenschaftlicher Ruhm vorbestimmt. Stattdessen entschied er sich dafür, Mundharmonika zu spielen.
In ihren späten Teenagerjahren wurde Rain Journalistin, und Walter besuchte eine Gartenbauschule. Doch er konzentrierte sich letztendlich auf die Musik der Lippen und der damit assoziierten Organe. Während er und Rain noch in Ausbildung waren, begann er, mit Auftritten in Pubs und Clubs recht gut zu verdienen. Er zählte schließlich zur sogenannten „Vierten Welle der Rockmusik“, die in den Neunzigern stattfand – und Bands wie Nirvana, Pearl Jam und die Smashing Pumpkins umfasste –, doch Walters Musik war eine Rückbesinnung auf die Post-Punk-Jahre der späten Siebziger: den Pub Rock von Dr. Feelgood, den Stray Cats, den Fabulous Thunderbirds und der Dave Edmunds Band. Das war die einfache und ehrliche Musik, die er wiederbeleben und würdigen wollte. Aber auf welcher Welle er auch ritt, in meinen Augen war Walter K. Watts ein Fifties-Pub-Rocker des 21. Jahrhunderts, und das würde er auch immer sein. Das ist ein schräges Statement. Aber ich neige dazu.
Mich stimmt es traurig, zugeben zu müssen, dass ich als Vater mittleren Alters zu Beginn der Achtziger vor den Drogen kapitulierte. Ich knallte mir das Hirn zu und wäre vermutlich mittellos gestorben, wäre ich nicht wie durch ein Wunder gerettet worden. Meine Frau Pamela hatte mich verlassen, wobei sie mir erklärte, dass sie sich in ein Kloster begebe. Viele Jahre lang wusste ich nicht, wo sie sich aufhält. Sie ließ mich mit Rain sitzen, eigentlich unglaublich, doch es stellte sich als cleverer Schachzug heraus, zumindest, was mich betraf. Die Verantwortung, mich um Rain kümmern zu müssen, die damals noch mit Walter zur Schule ging, rettete mir wahrscheinlich das Leben. Ich habe mich seitdem auf meinem Spezialgebiet so gut gemacht wie Walter auf seinem. Denn heute bin ich – während Walter ein berühmter Rockstar ist – ein bekannter und allseits respektierter Kunsthändler in dem Segment, das man als Outsider Art kennt. Die etwas snobistischen Galeriebesitzer in New York – und natürlich die Franzosen, die auf den Begriff kamen – nennen es auch Art Brut. Er meint das Zeichnen, Malen, die Bildhauerei, das Schnitzen und Schreiben von Künstlern, die anders denken und tatsächlich auch anders leben. Manchmal sind ihre Arbeiten naiv, manchmal sind sie obsessiv und manchmal außergewöhnlich genau oder detailliert. Hinter solchen Werken steckt meist eine einzelne Idee, ein einzelnes System. Dort zeigt sich gelegentlich eine unterschwellige Offenbarung, eine Vision oder ein mentaler Ausbruch. Die Künstler fühlen sich gequält oder sogar besessen. Möglicherweise hören sie wie Schizophrene Stimmen und glauben, fremdgelenkt zu sein. Manchmal fühlen sie sich von Gott geleitet.
Das Wunder, von dem ich rede, das, was mir mein Leben gerettet hat, lag in dem Talent, den Wert der Arbeit solch psychisch schwieriger Menschen zu erkennen. Vielleicht lag es an dem Schaden, den ich meinem Gehirn zugefügt hatte? Ich wurde einer der ersten europäischen Händler, die sich auf Outsider Art spezialisierten. Auf jeden Fall war ich der erste außerhalb von Frankreich und New York, und mittlerweile erwerben wohlhabende Sammler und sogar einige der besten internationalen Galerien das Zeug. Durch meinen Beruf als Händler begegnete ich schließlich auch Nikolai Andréevich.
Eines Tages im Frühling 1996, also vor sechzehn Jahren, rief mich eine Frau in meiner Londoner Wohnung an. Da ich keine Galerie führe, arbeite ich von zuhause aus.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mr Doxtader, aber man sagte mir, dass Sie hierzulande der führende Händler für Outsider Art sind.“ Die Stimme der Frau klang heiser, hatte einen meiner Meinung nach vornehmen Akzent, gefärbt von einem leichten Tonfall aus dem Norden.
„Das stimmt“, bestätigte ich.
„Mein Name ist Maud Jackson. Ich bin die Frau Paul Jacksons von der Rockband Hero Ground Zero. Vielleicht erinnern Sie sich an sie?“
„Ja, das tue ich“, lautete meine Antwort. Doch ich zermarterte mir das Hirn auf der verzweifelten Suche, mich an einen ihrer Songs zu erinnern.
Sie erklärte, dass sie mir etwas zeigen wolle, was möglicherweise interessant sei.
Dann kam ich endlich darauf, dass Paul Jackson, der Gründer von Hero Ground Zero, ein Rockstar in den Sixties gewesen war, der sich Mitte der Siebziger in einen Schauspieler verwandelt hatte. Der Bandname sollte die Wut und Frustration seines jungen Publikums widerspiegeln, in der Sprache, die...




