Toussaint | Die Gefühle | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Toussaint Die Gefühle


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-627-02297-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-627-02297-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Nachdenken über die Moderne und deren technischen Auswüchse wie Blockchain und Bitcoin, konspirative Treffen und ein wenig Action a? la James Bond - davon handelte Toussaints letzter Roman Der USB-Stick. In Die Gefühle, dem zweiten Band seines neuen Romanzyklus, zeichnet er das abenteuerliche Portra?t eines Mannes, der die Erfahrung der Unvorhersehbarkeit macht: Für seinen Helden Jean Detrez, dessen berufliche Bescha?ftigung mit der Zukunft nicht besagt, dass er seine eigene Zukunft im Griff ha?tte, verflechten sich Liebe, Sex und Tod auf abenteuerliche Weise. Seine Ehe scheitert, als sie sagt: 'Ich liebe dich nicht mehr.' Ihr letzter gemeinsamer Abend ist der Tag des Referendums Großbritanniens, eine doppelte Niederlage für den Mitarbeiter der Europa?ischen Kommission. Und mit dem Brexit wird nicht nur sein Traum von Europa zu Grabe getragen, auch sein Vater liegt im Sterben.

Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschien Der USB-Stick (FVA 2020), sein nach dem Marie-Zyklus lang erwarteter nächster großer Roman, der von der französischen wie deutschen Presse gleichermaßen begeistert aufgenommen wurde. Joachim Unseld, Verleger und seit 1991 Übersetzer der Werke von Jean-Philippe Toussaint.
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II


Mein Vater starb im Dezember desselben Jahres 2016. Die Nachricht von seinem Tod erreichte mich bei der Rückkehr von einer Reise nach Asien. Kaum hatte ich erfahren, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, brach ich meine Reise ab, um an seinem Bett zu sein, aber ich kam zu spät, um ihn ein letztes Mal zu sehen, er war bei meiner Ankunft bereits gestorben. Wäre ich rechtzeitig in Brüssel angekommen, hätte ich in sein Zimmer gehen und ein letztes Mal mit ihm sprechen können. Aber hätte ich ihn in seinem Bett bei Bewusstsein angetroffen? Hätte ich ihm erzählen können, wie ich es mir auf Rückreise vorgestellt hatte, wie sehr ich beim Anblick der goldenen Blätter der Ginkgos, die den Boden der zeitlosen Alleen der Universität von Tokio bedeckten, an ihn gedacht habe? Hätte er etwas zu mir gesagt, einen Satz, der mir für immer in Erinnerung geblieben wäre als der letzte Satz, den er an mich gerichtet hätte? Ich weiß es nicht. Diese Begegnung hat nie stattgefunden, und vielleicht ist es besser so.

Am Tag der Beerdigung meines Vaters hatten wir uns in seinem Arbeitszimmer zur Totenwache versammelt, bevor wir in die Abtei von La Cambre aufbrachen, wo die Trauerfeier stattfinden sollte. Die Vorhänge des Zimmers waren halb zugezogen, und ein pietätsvolles Halbdunkel erfüllte die Stätte. Ich stand an der Fenstertür und blickte schweigend in den Garten meines Elternhauses, auf den Kiesweg der Allee und die Rosenbüsche, die sich im trüben Dezemberwetter im Regen beugten. Ich war allein mit meinem Bruder Pierre. Pierre sah mir nicht wirklich ähnlich, auch wenn ein fachkundiges Auge unmerkliche Ähnlichkeiten zwischen uns hätte feststellen können. Wir hatten wahrscheinlich eine familiäre Ähnlichkeit, für das bloße Auge fast unsichtbar oder zumindest für ein ahnungsloses Auge. Vom Aussehen ähnelte Pierre eher meinem Vater, während ich eher meiner Mutter gleichkam. Aber diese Ähnlichkeiten sprangen nicht ins Auge, sie waren nicht so offensichtlich wie in bestimmten Familien, in denen Eltern offenbar identische Porträts ihrer selbst in kleinerem Maßstab geschaffen haben, Miniaturklone von Vater oder Mutter, wie man sie gelegentlich auf gemeinsamen Familienporträts sieht. Nein, die Ähnlichkeiten zwischen uns, wenn es sie denn gab, lagen eher im Verborgenen, waren versteckt, subtil verwoben und verflochten, wobei jeder von uns neben der Hauptähnlichkeit auch eine Prise Ähnlichkeit aus der anderen Abstammungslinie herausgefischt hatte. Aber von der ganzen Einstellung, vom jeweiligen Temperament und natürlich von der Berufswahl her, war Pierre, der Architekt, zweifellos ein De Groef und ich eher ein Detrez, wie mein Vater, der Diplomat, Universitätsprofessor und der für Forschung zuständige Europakommissar es war, dessen Laufbahn ich schließlich eingeschlagen hatte, als ich selbst für die Europäische Kommission zu arbeiten begann.

Mit Pierre verbanden mich eine Reihe von Berührungspunkten, die uns eigen waren, eine Art privater Wortschatz mit Wörtern und idiomatischen Redewendungen, die wir miteinander teilten und die eine geheime Verbindung zwischen uns herstellten. Der größte Teil dieses Vokabulars würde den meisten Menschen nichts sagen, aber für uns hatte es eine besondere vertrauliche Bedeutung, die uns aufhorchen ließ, sobald einer dieser Begriffe zufällig im Gespräch auftauchte. Das konnte ein einfaches Adjektiv wie »redhibitorisch« sein, das in meinen Augen nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch, sondern vielmehr zum persönlichen Wortschatz meines Vaters zu gehören schien, als wäre er der Einzige, der dieses Adjektiv jemals benutzt hätte, es sich in gewisser Weise angeeignet hätte, um damit auszudrücken, dass die eine oder andere Lebenslage einen grundsätzlichen konstitutiven Fehler hatte, der sie ungültig machte, sodass ich jedes Mal, wenn in einem Gespräch das Wort »redhibitorisch« fiel, ich an meinen Vater denken musste und eine Welle von Wehmut in mir aufsteigen fühlte. Es konnte aber auch ein Ausdruck sein, der für uns, und nur für uns, eine besondere Situation heraufbeschwor. Zum Beispiel der Ausdruck »die Rache des Kroumir«, den mein Vater gerne gebrauchte (Herkunft und Etymologie dieses Kroumir sind mir immer ein Rätsel geblieben). Und wie oft in unserer Jugend hatten mein Bruder und ich aus dem Mund meines Vaters den Satz »Wo ist der Nagelknipser geblieben?« gehört, als hätte es in Paris, in der Wohnung in der Rue Saint-Guillaume, in der wir in den 1970er-Jahren wohnten, nur einen einzigen Nagelknipser gegeben, einen einzigen, kostbaren Nagelknipser (unauffindbar, einfach immer unauffindbar). Weil in der paranoiden Vorstellung meines Vaters seine beiden Söhne im Verein mit ihrer Mutter aus Gott weiß welchem Grunde ständig versuchten, den einzigen Nagelknipser der Familie vor ihm zu verstecken, ihn vorsätzlich zu verlegen oder verschwinden ließen. Aber statt noch einen Nagelknipser zu kaufen (was ich als Erwachsener dann sofort tat, wie ein Eichhörnchen Haselnüsse in einem wahren Kaufzwang in meinen beiden aufeinanderfolgenden Ehen Nagelknipser anhäufte, um dieses leichte traumatische Erlebnis der Adoleszenz zu bewältigen), raste mein Vater wie ein Teufel aus dem Badezimmer, und mit nacktem Oberkörper, nur ein Frotteehandtuch um die Hüften gewickelt, suchte er wie außer sich in der ganzen Wohnung nach dem Nagelknipser, dass die Wände der Rue Saint-Guillaume wackelten, und schrie durch den Flur: »Wo verflucht noch mal ist der Nagelknipser! Was habt ihr schon wieder mit dem Nagelknipser gemacht?!« Jede Familie muss solche totemistischen, Glück bringenden oder tabuisierten Wörter haben, die über ihre einfache Bedeutung hinausgehen und im Familienkreis eine mythische Dimension annehmen, Wörter, die eine explosive emotionale Resonanz haben, die völlig irrational ist, die aber nervenaufreibend sein konnte, wenn man sie als Halbwüchsiger nur im Moment erlebte, und die später, mit dem Älterwerden und dem Tod der Protagonisten, nur noch rührend erscheint und die man erst nach den langen Umwegen des Lebens mit reiner Zärtlichkeit wiederfindet, als ob die Erinnerung in dem Maße, wie Kindheit und Jugend in die Ferne rücken, nicht anders kann, als die kleinen Dinge, die sich darauf beziehen, mit Blattgold zu überziehen.

Ich bin drei Jahre älter als Pierre, aber ich hatte immer das Gefühl, dass er der Ältere war. Ich glaube übrigens, dass er unbewusst immer den Eindruck erwecken wollte, der Ältere zu sein, mein großer Bruder. Aber auch objektiv betrachtet verstärkten einige Äußerlichkeiten diesen Eindruck, denn sehr schnell, zumindest lange vor mir, hatte Pierre seinen Platz im gesellschaftlichen Leben gefunden. Schon vor seinem dreißigsten Geburtstag leitete er bereits sein eigenes Architekturbüro. 1989, nach dem Tod unseres Großvaters Marcel De Groef, übernahm er im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren das Atelier De Groef. Unsere Familie lebte zu dieser Zeit, seit Anfang der 1970er-Jahre, in Paris, weil mein Vater einen Ruf an die UNESCO bekommen hatte. Pierre hatte gerade sein Architekturstudium an der École Nationale Supérieure von Paris-Belleville abgeschlossen, und meine Mutter, die nicht die geringste Absicht hatte, Paris zu verlassen, um das Büro ihres Vaters zu übernehmen (sie wollte weiterhin ihre Tätigkeit als graue Eminenz für ihren Mann ausüben können, und zwar in Vollzeit), ermutigte Pierre, sich in Brüssel niederzulassen. Pierre machte sich mit der belgischen Gesetzgebung vertraut und übernahm das Atelier De Groef. Er erledigte alle Erbschaftsangelegenheiten, übernahm die Anteile meiner Mutter und kaufte auch meine Anteile, um den Nachlass zu regeln und zum alleinigen Eigentümer des Architekturbüros zu werden, dessen Namen er in DG & D, De Groef & Detrez änderte, das Architekturbüro, das er jetzt seit fast dreißig Jahren leitet.

Pierre hatte immer Architekt werden wollen. Sein Weg schien schon vorgezeichnet, noch bevor er geboren wurde. Meine Mutter nannte ihn nach ihrem Großvater, dem Architekten Pierre De Groef, und drückte ihm in gewisser Weise den Stempel De Groef auf, als ob sie ihm mit dieser Entscheidung auch stillschweigend hatte auferlegen wollen, selbst Architekt zu werden. Die unsichtbaren Entscheidungen unserer Eltern, ihre geheimen oder unterschwelligen Wünsche, leiten unser Leben oft viel mehr, als uns bewusst ist. Wie so viele andere Menschen, denen es in die Wiege gelegt wird, denselben Beruf wie ihre Eltern oder Großeltern auszuüben, die für sie entschieden haben, den Familienbetrieb zu übernehmen, sei es ein Notariat, ein Weingut oder ein Architekturbüro, hatte Pierre die Fackel übernommen, die ihm durch die Zeiten hindurch mehrere Generationen von De Groefs weitergereicht hatten, und er war, ohne sich Fragen zu stellen, der brillante Architekt geworden, den meine Mutter sich erträumt hatte, ohne es auch nur jemals mit Worten ausgedrückt zu haben. Aber wenn dieser Urgroßvater, wenn dieser Pierre De Groef, den wir nicht kannten und auf dessen Knie zu springen selbst meine Mutter kaum die Zeit hatte (er starb, als sie sechs Jahre alt war), ohne Zweifel ein ehrbarer Ahnherr und respektabler Großvater war, so war er doch kein mitreißendes Vorbild für den jungen idealistischen Architekturstudenten, der mein Bruder Anfang der 1980er-Jahre war. Es gab da einen Haken. Und der Haken, wo der Schuh drückte, war, wie es meine Mutter einmal in einem Satz zusammenfasste: »Mein Großvater hasste Horta.«

Es war schon eine Strafe, als Vorfahren einen Architekten in der Familie zu haben, der zwar zur Zeit des großen Umbruchs der Architektur, zur Zeit des Jugendstils, in Brüssel arbeitete, aber feststellen zu müssen, dass dieser nur ein bürgerlich-neoklassizistischer Architekt, ein Anhänger des eklektizistischen Stils und ein großer...


Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschien Der USB-Stick (FVA 2020), sein nach dem Marie-Zyklus lang erwarteter nächster großer Roman, der von der französischen wie deutschen Presse gleichermaßen begeistert aufgenommen wurde.

Joachim Unseld, Verleger und seit 1991 Übersetzer der Werke von Jean-Philippe Toussaint.



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