E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Toussaint Der USB-Stick
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-627-02283-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-627-02283-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Er lebt in Bru?ssel und auf Korsika. Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschien in der FVA sein Marie-Romanzyklus 'MMMM'. 'Der USB-Stick', im September 2019 bei Éditions de Minuit erschienen, ist sein nach dem Marie-Zyklus lang erwarteter nächster großer Roman und wurde von der französischen Presse begeistert aufgenommen. 'Nächster Nobelpreis, der nach dem für Modiano in die französischsprachige Welt geht, bitte an Toussaint.' (Niklas Maak, FAS)
Weitere Infos & Material
II
In den Tagen darauf verschwand das Gefühl nicht, verfolgt zu werden. Es gab dafür keinen konkreten Anhaltspunkt, aber ich spürte eine diffuse Bedrohung. Manchmal hatte ich den Eindruck, beim Verlassen des Büros beobachtet zu werden. Wenn ich abends nach Hause kam, beeilte ich mich, das Licht einzuschalten, und musste überall nachschauen, ob in meiner Abwesenheit nicht jemand in meiner Wohnung gewesen war. Ich hatte ein Dutzend der Dokumente des USB-Sticks von John Stavropoulos auf meinem Laptop gespeichert (die wichtigsten, jene, die den Prototyp AlphaMiner 88 betrafen) und wusste danach nicht, was ich mit dem Stick anfangen sollte. Ich dachte zuerst daran, ihn zu zerstören, oder ihn, ohne solch theatralisches Gebaren, einfach verschwinden zu lassen, ihn in irgendeiner Straße in einer Mülltonne zu entsorgen. Aber schließlich erschien es mir doch sinnvoller, ihn zu behalten, war es doch möglich, dass ich ihn noch einmal brauchen würde, falls ich eines Tages Dokumente als Beweise vorlegen müsste. Mein Flugticket umzubuchen war einfacher als gedacht. Die Angestellte der Fluggesellschaft, mit der ich am Telefon sprach, konnte mein Ticket Paris–Tokio in eines Paris–Peking–Dalian–Tokio ändern, mein Rückflug war von der Änderung ohnehin nicht betroffen, der Tarif machte eine Umbuchung mit einem kleinen Aufpreis möglich, den ich mit Karte bezahlte. Schon am Nachmittag desselben Tages bekam ich per E-Mail die Bestätigung meiner Umbuchung der Flüge mit einem Reisememo der neuen Flugroute. Dann musste ich mich um das Visum kümmern. Um in Brüssel ein Visum für China zu beantragen, muss man die Kopie des Flugtickets und der Hotelreservierung vorweisen. Ich suchte also über das Internet ein Hotelzimmer für den 15. Dezember in Dalian. Ich wählte ein möglichst unauffälliges Hotel und reservierte in einem in der Nähe der Bucht gelegenen, anonymen Dreisternehotel eine Business Suite für weniger als 80 Dollar. Dann holte ich mir den Visumantrag aus dem Internet und füllte ihn abends zu Hause im Schein der Schreibtischlampe aus. Bei der Rubrik »Informationen über die Chinareise« zögerte ich zwischen »Beruflicher Anlass« und »Nichtberuflicher Anlass«, kreuzte schließlich das Kästchen »Tourist« an, das mir am angemessensten erschien, um lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen. Die Vorstellung, man könnte Genaueres über die Gründe meines Aufenthalts erfahren wollen, bereitete mir Unbehagen, weshalb ich mir ein Szenario zurechtgelegt hatte, für den Fall, dass ich bei meinem Besuch des chinesischen Konsulats in Brüssel danach gefragt werden würde, oder bei meiner Einreise an der Passkontrolle des Flughafens in Peking. Ich würde erklären, dass ich die Absicht hatte, da ich an einer internationalen Konferenz in Tokio teilnehmen sollte – was ja auch stimmte, ich konnte sämtliche eventuell erforderlichen Dokumente vorweisen – daneben aus rein privaten Gründen Dalian zu besuchen. Es war immerhin eine Stadt mit fast sieben Millionen Einwohnern, mit einer beeindruckenden russischen und japanischen Geschichte, die als eines der beliebtesten touristischen Ziele Chinas gilt. Selbst einem misstrauischen chinesischen Beamten dürfte es einleuchten, dass man dort einen Tag verbringen wollte. Ich hatte meinen Perfektionismus oder sollte ich besser sagen meine Ängstlichkeit so weit getrieben, dass ich mich über die wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten der Stadt informierte und den Namen des Parks Jinshi Yuan wie auch den des Tempels Xingshui in petto hatte, sollten die Befragungen zum Grund meines Besuchs sich intensiver gestalten (aber ich hatte im chinesischen Konsulat keine Gelegenheit, meinen guten Willen unter Beweis zu stellen). Vier Tage später hielt ich das Visum in Händen.
Vor meiner Abreise blieb noch eine letzte, persönliche Angelegenheit zu klären. Ursprünglich hatte ich ja geplant, am 15. Dezember nach Tokio zu fliegen, und hatte mit Diane die Vereinbarung, am Mittwoch davor, also am 14. Dezember, wie an jedem Mittwoch Thomas und Tessa zu übernehmen. Aber wegen meiner vorgezogenen Abreise nach Asien würde ich mich in dieser Woche nicht um die Zwillinge kümmern können, normalerweise hätte ich sie von der Schule abholen müssen, doch am selben Tag ging mein Flug von Roissy. Ich musste also einen Ausweg finden und gleichzeitig vor aller Welt verbergen, dass ich nach China flog. Die einfachste Lösung, um Diane herumzukommen (wir sprachen seit dem Sommer nicht mehr miteinander), wäre gewesen, die Kinder meiner Mutter anzuvertrauen, die die beiden seit deren Geburt schon so oft betreut hatte. Aber in der letzten Zeit hatte sich der Gesundheitszustand meines Vaters derart verschlechtert, dass ich meiner Mutter nicht auch noch zumuten konnte, sich um die Zwillinge zu kümmern. Ich war also wohl oder übel darauf angewiesen, mit Diane zu sprechen, um mit ihr die Kinderbetreuung zu regeln. Als sie abhob, wusste sie mit Sicherheit bereits, dass ich es war, sie musste meinen Namen auf ihrem Display gesehen haben. Ja, sagte sie und wartete. Sie hatte nur »Ja« gesagt, nichts weiter, ein »Ja« übrigens, das eher ein »Ja?« war, mit der Nuancierung einer Frage oder Erwartung, und dieses nackte »Ja« allein war mir schon unerträglich. Ich erkannte, ohne dass sie nur ein Wort von dem, was ich ihr mitzuteilen hatte, angehört hatte, ihre hochmütige, herablassende und ablehnende Art wieder, mir zu zeigen, wie lästig ich ihr war. Ich fragte mich sogar, wie ich eine Frau habe lieben können, die solch eine Stimme hat. Es war übrigens nicht eine Frage der Stimmlage (sie hatte durchaus eine angenehme Stimme), es war vielmehr der Tonfall und die Aussprache, eine übertriebene Betonung, die sie nur bei mir einsetzte und nur für mich reserviert hatte. In solchen Momenten glaubte ich, die wahre Natur von Dianes Stimme zu erkennen, die Stimme, die sie hatte, wenn sie keine Anstrengungen unternahm und nicht jenes Feuerwerk von Charme und Anmut abbrannte, wie sie es in Gesellschaft tat, es war ihre naturgegebene Stimme, eine Stimme wie beim Aus-dem-Bett-Schlüpfen, überrascht, ungekämmt und ungeschminkt, eine Stimme noch im feuchtwarmen Morgenmantel. Im tiefsten Inneren bin ich überzeugt, Diane nie geliebt zu haben. Selbst damals nicht, als ich sie zu lieben glaubte, selbst in der ersten Zeit unserer Liebe nicht und auch nicht, als ich sie heiratete. Sie hat mir gefallen, sicher, sie hat mir sogar unheimlich gut gefallen. Diane war eine der elegantesten Frauen von ganz Brüssel, und was sie darstellte, beeindruckte mich ungemein, ihre Schönheit, ihr Benehmen, ihr sicheres Auftreten, die Tatsache, dass sie zwölf Jahre jünger war als ich, der Schauder von Bewunderung, den sie überall hinterließ, wo sie hinkam. Das war mir alles nur zu gut bewusst, aber wenn es mir einmal so gut gefallen hat, dann vielleicht auch, weil es meiner Eigenliebe schmeichelte, durch den Wert, der mir durch sie zuteil wurde. Was nichts mit Liebe zu tun hat. Alles, was mir später bei Diane unerträglich schien, war bereits im Kern vorhanden, als ich sie kennenlernte, aber ich hatte es nicht gesehen, war geblendet durch ihre unwiderstehliche Aura. Ich konnte es nicht glauben, dass so eine Frau mich einmal geliebt haben sollte, und hatte gleichzeitig den Verdacht, dass sie mich nie geliebt hat. Nebenbei bemerkt, manchmal ist es bei den menschlichen Eigenschaften so, als würde man lediglich das Vorzeichen austauschen und ein Plus sich in ein Minus verwandeln, und was ich zu Beginn für Selbstsicherheit gehalten hatte, erkannte ich jetzt als Überheblichkeit, ihre einstige Unbekümmertheit erschien mir nun als Frivolität und ihre damals so unverwechselbare Eleganz war nunmehr nur noch banaler Pariserinnen-Chic. Bis jetzt hatte Diane am Telefon nur »Ja« gesagt, und ich hatte daran immer noch nicht angeknüpft, ich wog ab, wie schwierig es sein würde, jemandem eine Angelegenheit erklären zu müssen, mit dem man nicht mehr spricht. Seit dem Sommer, jedes Mal, wenn wir nicht vermeiden konnten, miteinander zu sprechen, und dann meist am Telefon, im Wesentlichen ging es um praktische Fragen im Zusammenhang mit den Kindern oder der Wohnung (irgendwelche Geschichten mit Schlüsseln, mit Ferien oder Rechnungen), redeten wir miteinander wie Fremde, als wären wir zwei Rechtsanwälte, jeder damit beauftragt, die Interessen seines Mandanten zu vertreten, sie die ihren, ich die meinen, und dabei immer das Kindeswohl, in diesem Fall das Wohl unserer Zwillinge, in den Vordergrund zu stellen. Diane hatte am Telefon immer noch nur dieses »Ja« gesagt, aber ich hatte sofort begriffen, dass sie keinen Finger rühren würde, um mir entgegenzukommen. Ich hatte gleich verstanden, dass wenn ich sie jetzt fragte, ob sie sich am nächsten Mittwoch um die Kinder kümmern wolle, sie mich einsilbig an unsere Vereinbarung erinnern würde, die wir nach den Sommerferien getroffen hatten, der zufolge ich jeden Mittwoch und jedes zweite Wochenende die Kinder übernehmen sollte, und ich wollte ihr nicht den Triumph lassen, ihr nicht das Vergnügen gönnen, jetzt in Kleinkrämereien und unwürdige Feilschereien zu verfallen, ein Mittwoch gegen zwei Wochenenden, über die sie dann nach Belieben verfügen könnte. Ich sagte immer noch nichts. Ja, wiederholte sie mit gereizter Stimme, nun hörte sich ihre Stimme gereizt an, es war jetzt ein ungeduldiges »Ja«, ein auf das Äußerste gereiztes »Ja«. Ihre Stimme war schon vorher abscheulich, als sie nur ihr einfaches fragendes »Ja« sagte, jetzt wurde sie wirklich unerträglich. Ich spürte, sie war auf Kriegsfuß und bereit loszuschlagen, sie suchte die Konfrontation, war auf Streit aus. Ich wusste sehr gut, dass sie mir keine Geschenke machen würde. Ich wusste sehr gut, was sie mir antworten würde, egal welche erfundenen Gründe sie auch immer vorbringen oder welchen Vorwand sie auch immer konstruieren...