E-Book, Deutsch, 227 Seiten
ISBN: 978-3-86854-647-7
Verlag: HIS
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Demokratische Repräsentation war ein Produkt der nationalstaatlichen Modernisierung. Die neue Politik entspricht der individualisierten Welt, in der sich die Demokratie nun einrichtet. Sie wird bestimmt von multiplen Identitäten und komplexen Geografien, von Migration, Globalisierung und vielschichtigen Souveränitäten, von staatlichen und nichtstaatlichen Machtquellen. Da das Vertrauen in althergebrachte Institutionen erschüttert ist, bleibt die repräsentative Demokratie zwar bestehen, wird aber um und ausgebaut, sie wird 'demokratischer'. Wir sind in eine Zeit des Rollenwandels der Parteien und der Politiker eingetreten: Repräsentative Institutionen stehen neben neuen bürgerschaftlichen Initiativen, die durch soziale Medien schnell zusammenfinden und den unterschiedlichsten Bedürfnissen eine Stimme geben. Sie wirken hin auf eine unmittelbare politische Resonanz, auf Kontrolle und Korrektur von politischen Entscheidungen.
Simon Tormey ergründet die gegenwärtigen Veränderungen, indem er ein vielfältiges Tableau von Beispielen betrachtet, von der Situation in Griechenland und den Protesten in Spanien, Brasilien und der Türkei, bis hin zu der Entstehung neuer Initiativen wie Podemos, Anonymous und Occupy.
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titelseite;2
3;Impressum;3
4;Inhaltsverzeichnis;4
5;Einführung;5
6;1 Konturen einer »Krise«;24
6.1;Konturen einer Krise I: Der Blick von oben;25
6.1.1;Die Wahlbeteiligung;26
6.1.2;Die Mitgliedschaft in politischen Parteien;29
6.1.3;Vertrauen in Politiker;33
6.1.4;Interesse an Politik;36
6.2;Konturen einer Krise II: Der Blick vom Rand aus;39
6.2.1;Die Zapatistas;40
6.2.2;Das Weltsozialforum (WSF);45
6.2.3;Occupy Wall Street (OWS);49
6.3;Fazit;53
7;2 Die »repräsentative Politik« verorten;55
7.1;Der Ursprung der Repräsentation;57
7.1.1;Die Entstehung des Nationalstaats;58
7.1.2;Der Verfall der religiösen Orthodoxie;59
7.1.3;Der Handelskapitalismus und die erste große Transformation;60
7.2;Von der absolutistischen zur demokratischen Repräsentation;60
7.2.1;Die Ambivalenz gegenüber dem Staat;63
7.2.2;Die Ambivalenz gegenüber dem demos;66
7.3;Die Repräsentation und ihre Kritiker;68
7.4;Der Aufstieg der »repräsentativen Politik«;71
7.4.1;Identitäten;71
7.4.2;Ideologien;72
7.4.3;Interessen;73
7.4.4;Die privilegierte Rolle der Intellektuellen;76
7.4.5;Das eiserne Gesetz;77
7.4.6;Ergebnispolitik;77
7.5;Von der »Mehrheits«politik zur Politik der Minderheiten;79
7.6;Indigene Völker;80
7.6.1;Multikulturalismus;81
7.6.2;Marginal- oder »Minderheits«politik;82
7.7;Fazit;83
8;3 Werden wir unrepräsentierbar?;86
8.1;Warum steckt die repräsentative Politik in der Krise?;87
8.1.1;Das Problem mit Politikern …;88
8.1.2;Das Problem mit den Bürgern …;92
8.1.3;Das Problem mit dem Neoliberalismus …;97
8.2;Die lange Revolution: Modernität, Globalisierung, Individualisierung;100
8.2.1;Der Wandel vom Fordismus zum Post-Fordismus;101
8.2.2;Transnationale Ströme und Enträumlichung;104
8.2.3;Die Verbreitung von Information, Medien und Kommunikation;106
8.3;Individualisierung und die Erosion der Autorität;109
8.3.1;Die bröckelnde Pyramide;112
8.3.2;Bringen Sie mich (nicht) zu Ihrem Anführer;114
8.3.3;Politik im Do-it-yourself-Verfahren;116
8.4;Fazit;118
9;4 Ist die Partei am Ende? – Is the party over?;120
9.1;Eine Abschiedsparty für die Partei?;122
9.1.1;Inhalt: Was ist mit der Botschaft passiert?;122
9.1.2;Form: Was ist mit der Organisation los?;127
9.2;Politik nach und jenseits der Partei;131
9.2.1;Die Verlagerung von vermittelten Formen politischen Handels hin zu unmittelbaren Formen des Handelns;132
9.2.2;Die Verlagerung von einer doktrinären oder ideologischen Politik zu einer Politik der Kontroverse;133
9.2.3;Die Verlagerung von hierarchischen Organisationsformen hin zu lockeren, flacheren Organisationsformen wie Bündnissen, Koalitionen, Netzwerken, Bezugsgruppen und Formen der »Nicht-Organisation«: Selbstorganisation, Swarms und Crowds;135
9.3;Soziale Medien: der Quantensprung vorwärts?;138
9.4;Mobilisierung nach den sozialen Medien: von der Repräsentation zur Resonanz;145
9.4.1;Von der Bummelbahn zur Eintagsfliege;145
9.4.2;Von Big Brother zu V für Vendetta;146
9.4.3;Von der Repräsentation zur Resonanz;147
9.5;Fazit;148
10;5 Bürger gegen Repräsentation;150
10.1;Die spanische Feuerprobe;152
10.2;15-M als Ereignis;154
10.2.1;Die zentrale Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologie und der sozialen Medien;154
10.2.2;Eine Mobilisierung der Unrepräsentierbaren;155
10.2.3;Das Primat der Beteiligung und der Versammlungsform;156
10.3;15-M und nicht organisierter Aktivismus;157
10.4;Zurück zur Partei;161
10.4.1;Protestmechanismen gegen die politische Klasse;161
10.4.2;Die »Straße« direkt in der Politik;162
10.4.3;Ein Mittel zur Förderung direkter, partizipativer oder »post-parteidemokratischer« Formen der direkten Demokratie;164
10.5;Parteipolitik – aber nicht, wie wir sie kennen …;166
10.5.1;Parteien der -Generation;166
10.5.2;»Grinsekatzen«-Initiativen;167
10.5.3;Parteien mit begrenzten Geltungsansprüchen;167
10.5.4;Parteien gegen die Repräsentation;168
10.5.5;Die Partei als politisches Werkzeug;169
10.6;Die neue »parteienbasierte Demokratie«;171
10.7;Fazit;175
11;6 Demokratie nach der Repräsentation;178
11.1;Das »Ende« der repräsentativen Demokratie;180
11.1.1;Komplexe Territorialitäten;181
11.1.2;Komplexe Souveränitäten;182
11.1.3;Komplexe (Nicht-/Post-)Identitäten;183
11.2;Von der Repräsentation zur Resonanz;186
11.2.1;Impuls erzeugen;188
11.2.2;Resonanz erzeugen;189
11.2.3;Aufruhr stiften;190
11.2.4;Turbulenzen auslösen;191
11.3;Die Kollision von »vertikal« und »horizontal«;193
11.3.1;Die Transformation der »parteienbasierten Demokratie«;194
11.3.2;Der neue (politische) Klassenkampf;195
11.3.3;Ein Neuentwurf der Beziehung zwischen Regierungen, Politikern, Behörden und Bürgern, die mobilisiert als »Schwarm« oder »Crowd« jetzt besser handeln können;196
11.4;Postrepräsentative Demokratie?;198
11.4.1;Das Ende einer Aura?;199
11.4.2;Das lange Warten auf die künftige Demokratie;202
11.4.3;Demokratie nach der Postdemokratie;204
11.5;Fazit;207
12;Danksagung;213
13;Literaturverzeichnis;215
14;Zum Autor;227
Einführung
In der Politikwissenschaft gibt es nicht viele Binsenweisheiten, doch die Ansicht, die Repräsentation gehöre zum Wesenskern eines jeden Systems demokratischer Herrschaft, gilt vermutlich als Selbstverständlichkeit. Manche Menschen sprechen und handeln im Namen einer Gruppe, eines politischen Anliegens oder Ziels und repräsentieren damit die Gruppe und das Anliegen; andere verstehen sich in diesem Diskurs als Objekt und fühlen sich von ihm repräsentiert. Manche haben als Repräsentanten Macht inne; andere werden repräsentiert. »Für andere zu sprechen« und »vertreten zu werden« ist laut Hanna Pitkin, Autorin des Grundlagenwerks zu diesem Thema, The Concept of Representation, fundamental für das Verständnis des politischen Geschehens. In Pitkins Worten: »In der Moderne möchte fast jeder von Repräsentanten regiert werden […]; jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation; jede Regierung beansprucht zu repräsentieren.«1 Nur wenige Leser Pitkins sahen einen Grund, ihre Analyse infrage zu stellen, als sie 1967 veröffentlich wurde. Inzwischen jedoch erscheint sie zunehmend problematisch. Der Behauptung, fast jeder wolle »von Repräsentanten regiert werden«, steht eine anwachsende Fülle von Belegen entgegen, die darauf schließen lassen, dass viele Menschen von der Politik und den Politikern desillusioniert oder im Begriff sind, es zu werden – desillusioniert von unseren Repräsentanten und der Repräsentation.2 Im Vergleich mit den 1960er Jahren gehen wir seltener zur Wahl, wenn überhaupt. Immer weniger Menschen treten einer politischen Partei bei, immer weniger sind an Staatsbelangen und an der politischen Klasse interessiert (es sei denn, sie produziert einen Skandal). Die Bürger der fortgeschrittenen Demokratien trauen Politikern weniger über den Weg als jedem anderen Berufsstand, einschließlich Gebrauchtwagenhändlern. Angesichts solch alarmierender Indikatoren wollte der britische Guardian kürzlich in einer Umfrage wissen, ob die repräsentative Demokratie im »endgültigen Niedergang« begriffen sei.3 Was den zweiten Teil von Pitkins Feststellung betrifft (»jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation«), stellen viele neu entstehende politische Gruppen und Initiativen explizit und implizit in Abrede, das Erbe der repräsentativen Politik antreten zu wollen. Occupy zum Beispiel weist ähnlich wie andere kürzlich entstandene Bewegungen die Vorstellung von sich, repräsentieren zu wollen, auch wenn sie behauptet: »Wir sind die 99 Prozent.« Lassen wir vorläufig die Frage beiseite, ob und in welchem Maße solche Erklärungen erfüllen, was sie beanspruchen: Repräsentation zu vermeiden, sie infrage zu stellen und hinter sich zu lassen. Zunächst einmal wollen wir uns mit dem Repertoire der Mittel, Manöver und Gesten beschäftigen, die Gruppen zu ihrer Distanzierung von der »repräsentativen Politik« verwenden. Anstelle einer Politik, die auf der Praxis des Sprechens und Handelns für andere basiert, finden wir eine Vielzahl von Formen und Stilen, die man als unmittelbare oder nicht vermittelte Politik bezeichnen könnte: direkte Aktionen, Flash-Mob-Proteste, über Twitter mobilisierte Bewegungen, Klingeldemonstrationen, Hacking, Sitzblockaden, Boykotte, Buycotts, Besetzungen und andere Interventionen direkter und praktischer Art. Politisch engagierte Bürger gehen in steigendem Maße nicht mehr zur Wahl, sondern handeln selbst. Sie treten keinen Massenparteien mehr bei, die um die Macht konkurrieren, sondern gründen Initiativen, Mikroparteien, Netzwerke, Nachbarschaftsgruppen, Runde Tische und erproben partizipatorische Experimente. Sie warten nicht auf Wahlen, sondern versuchen, ihre Ansichten, ihre Wut und ihr Missfallen unmittelbar zu äußern, hier und jetzt. Sie ignorieren die Medien, sie sind (um Indymedia zu zitieren) die Medien. Selbst wer nicht besonders politisch aktiv ist, teilt das Misstrauen der Aktivisten gegenüber den Politikern und der politischen Klasse (den »Pollies«, wie sie hier in Australien wenig schmeichelhaft genannt werden). Wie es scheint, hören viele lieber auf Leute wie Bono, Slavoj Žižek, Jeremy Clarkson, Zac de La Rocha, System of a Down, Russell Brand, Glenn Beck und Michael Moore – nicht zuletzt, weil diese sich von der Welt der Politik und der Politiker distanzieren. Die Tatsache, dass Prominente, darunter so mancher Millionär, als authentische Stimmen einer entrechteten Bevölkerung verstanden werden können, während ihr Leben weiter von dem eines Durchschnittsbürgers entfernt ist als das vieler Politiker, verdeutlicht, wie verzweifelt die Lage bereits ist. Dasselbe gilt für den Erfolg antipolitischer und Protestparteien. Tatsächlich scheint sich eine Wechselwirkung zwischen der Antihaltung einer politischen Partei, ihrem Bestreben, sich vom politischen Mainstream abzugrenzen, und ihrer Popularität abzuzeichnen. Zurzeit ist die Tea Party ein klassisches Beispiel hierfür. Doch der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Beppe Grillo bei den italienischen Parlamentswahlen 2013 ist vielleicht noch symptomatischer für den Selbst-Widerspruch unserer Zeit: ein reicher Prominenter, der gegen die Korruption und Dekadenz der politischen Klasse lästert, während er selbst in relativem Luxus lebt. Die gegenwärtige Politik hallt zunehmend wider vom Klang der antipolitischen Politik und der antirepräsentativen Repräsentation. In Anbetracht dieser Entwicklungen sollte es vielleicht kaum überraschen, dass die Frage der Repräsentation – was sie ist, wie sie funktioniert – von einem ziemlich vernachlässigten Aschenputtel-Thema zu einem, wenn nicht dem Gegenstand der heutigen politischen Debatte geworden ist. Nach dem Ruhen der wissenschaftlichen Debatte um das Konzept der Repräsentation (zweifellos zum Teil als Ergebnis der herausragenden Arbeit von Pitkin) erschienen in rascher Abfolge mehrere wichtige Texte, die sich mit einer Neubewertung des Wesens der Repräsentation beschäftigen: Bernard Manins Kritik der repräsentativen Demokratie, Nadia Urbinatis Representative Democracy: Principles and Geneaology, Mónica Brito Vieiras und David Runcimans Representation und Mike Sawards The Representative Claim, um nur einige zu nennen. Neben diesen Arbeiten zur Bedeutung der Repräsentation hat sich ein akademischer Zweig etabliert, der sich mit der Krise der Repräsentation beschäftigt, mit Erklärungen und Empfehlungen, wie die repräsentative Politik zu erneuern oder zu regenerieren sei. Viele dieser Studien behandeln die Frage, wie man den einen oder anderen Aspekt des Systems der Repräsentation wieder instand setzen könnte. Sollte das Wahlsystem proportionaler werden? Sollten wir Minderheiten oder Frauen mehr ermutigen, sich zu engagieren? Sollten mehr Versammlungen stattfinden oder anders gestaltete Versammlungen oder mehr Möglichkeiten der Teilnahme geschaffen werden? Nach Ansicht vieler Experten sind junge Menschen besonders unempfänglich für Wahlen und die Mainstream-Politik. Sollten wir also politische Bildung in Schulen anbieten? Vielleicht liegt die Antwort im Beispiel Australiens oder Belgiens, wo eine Wahlpflicht besteht, durch die sich mit einem Streich ein Symptom unseres sinkenden Interesses beseitigen ließe. Auch über die staatliche Finanzierung politischer Parteien findet eine lebhafte Debatte statt.4 Wenn politische Parteien der Ort des demokratischen Lebens in repräsentativen Systemen sind, sollten wir dann nicht mehr tun und mehr Finanzmittel aufwenden, um sicherzustellen, dass die politischen Parteien angemessen funktionieren? Sollten wir nicht neue politische Parteien ebenso fördern wie die etablierten? Andere Experten sehen jedoch das Kind bereits im Brunnen liegen. Der sorgenvolle Titel von Donatella Della Portas Buch Can Democracy Be Saved? spricht ebenso für sich wie Colin Hays Werk Why We Hate Politics. Wie aus den Analysen der beiden hervorgeht, mögen wir weder die Politik noch die Politiker und wünschen ihnen die Pest an den Hals. Mehr noch, wir geben den Politikern die Schuld an den meisten Übeln, die uns heimsuchen, sei es die Verarmung des öffentlichen Lebens oder die steigende Zahl von Immigranten im Zuge der Globalisierung. Die Politiker haben unsere Welt ins Chaos gestürzt, und jetzt bekommen sie ihre Quittung. John Keanes The Life and Death of Democracy, eine monumentale Geschichte der Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart, benennt das Problem unverblümt: Die Demokratie scheint tot zu sein, ein Opfer der zunehmenden Unfähigkeit der Politik und der Politiker, die entscheidenden Fragen unserer Zeit anzupacken, geschweige denn zu lösen. Uns bleibe nur zu hoffen, dass man mithilfe von unabhängigen Beobachtern in irgendeiner Form jene, die Macht ausüben, zur Verantwortung ziehen kann gegenüber jenen, die unter den Launen der im Übrigen entrückten Politiker und Technokraten zu leiden haben. Wie es scheint, war der Guardian auf der richtigen Spur: Der endgültige...