E-Book, Deutsch, Band 3, 308 Seiten
Reihe: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten
Tollmien "Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall" - die Habilitation Emmy Noethers
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-384-15516-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 2/2021 und 2024
E-Book, Deutsch, Band 3, 308 Seiten
Reihe: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten
ISBN: 978-3-384-15516-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cordula Tollmien, geb. 1951, studierte Mathematik, Physik und Geschichte an der Universität Göttingen. Seit 1987 arbeitet sie als freiberufliche Historikerin und Schriftstellerin und veröffentlichte u. a. auch eine Reihe von Kinderbüchern. Sie war an dem 1987 publizierten Projekt zur Geschichte der Universität Göttingen im Nationalsozialismus beteiligt, arbeitete von 1991 bis 1993 als wissenschaftliche Lektorin bei der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte und trug Grundlegendes zum dritten Band der Göttinger Stadtgeschichte bei, der die Jahre 1866 bis 1989 behandelt. In den Jahren 2000 bis 2011 hatte sie einen Forschungsauftrag der Stadt Göttingen zur NS-Zwangsarbeit (www.zwangsarbeit-in-goettingen.de), und 2014 erschien ihr Buch über die Geschichte der jüdischen Göttinger Familie Hahn. Mit der Entwicklung der akademischen Frauenbildung und insbesondere mit den Biografien von Mathematikerinnen beschäftigt sie sich seit 1990 - dem Jahr, in dem ihre Arbeit erschien, in der erstmals die Geschichte der Habilitation Emmy Noethers im Detail nachgezeichnet wurde. 1995 publizierte sie eine Biografie der russischen Mathematikerin Sofja Kowalewskaja. 2021 erschienen die beiden ersten Bände ihrer Emmy Noether Biografiereihe. URL: www.tollmien.com
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Der Antrag auf Habilitation Emmy Noethers
Am 26. November 1915 stellte die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen beim preußischen Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten einen Antrag auf Habilitation für Emmy Noether, der hier in voller Länge wiedergegeben werden soll:
Eure Exzellenz
bittet die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der philosophischen Fakultät der Göttinger Universität ehrerbietigst, ihr im Falle des Habilitationsgesuches von Fräulein Dr. Emmy Noether (für Mathematik) Dispens von dem Erlass des 29. Mai 1908 gewähren zu wollen, nach welchem die Habilitation von Frauen unzulässig ist.
Zur Zeit dieses Erlasses war die Immatrikulation von Frauen noch nicht gestattet; sie erfolgte bald darauf. Wir glauben aber die Rechtslage doch so auffassen zu müssen, dass die Habilitation von Frauen ohne generelle oder spezielle Erlaubnis Eurer Exzellenz auch heute noch unzulässig ist.
Unser Antrag zielt auch nicht dahin, um Aufhebung des Erlasses vorstellig zu werden; sondern wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall.
Vor allem bemerken wir, dass Fräulein Dr. Noether ihr Gesuch – welches mit allen Anlagen beiliegt – nicht aus eigener Initiative gestellt hat, sondern dazu von den Fachvertretern – die ihr natürlich keinerlei Zusagen machen konnten – ermuntert wurde, nachdem ein Vortrag in der mathematischen Gesellschaft uns auch in pädagogischer Hinsicht wohlgelungen erschien. Alsdann wurde ihre wissenschaftliche Qualifikation von einer Kommission auf Grund der eingereichten Arbeiten und der persönlichen Kenntnis einiger von uns geprüft. Des weiteren beschloss die Abteilung in ihrer Sitzung vom 6. XI. [19]15, an E[ure] Exzellenz die obige Bitte zu richten. Diese Sitzung war von 19 der 21 in Göttingen befindlichen Abteilungsmitglieder besucht. Der genannte Beschluss wurde mit 10 gegen 7 Stimmen (bei 2 Stimmenthaltungen) gefasst; alle vier Fachvertreter und alle drei Vertreter der Nachbarfächer angewandte Mathematik und Physik gehörten zur Mehrheit. Von den beiden fehlenden Mitgliedern hätten nach ihren Erklärungen einer mit ja, einer mit nein gestimmt.
Der Widerspruch der Minorität beruht lediglich auf der prinzipiellen Abneigung gegen die Zulassung einer Frau. Niemand widersprach dem Votum der Fachvertreter: die Leistungen von Fräulein Noether stehen über dem Durchschnitt des Niveaus der bisher in Göttingen zugelassenen Privatdozenten der Mathematik. Wir wissen, dass sie keinem der aus dem Felde zurückkehrenden Dozenten noch künftigen Privatdozenten der Mathematik Platz wegnimmt. Wir haben keinen numerus clausus und empfanden noch vor dem Kriege das Bedürfnis nach mehreren neuen Dozenten unseres Faches, ohne bei unseren strengen Anforderungen auch nur einen finden zu können. Die Zulassung von Fräulein Noether würde nur einen Teil des vorhandenen Bedürfnisses ausfüllen, und es erscheint uns ganz unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine weitere Frau zulassen möchten. Sind wir doch der Meinung, dass ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann, geschweige denn Fräulein Noethers Leistungen aufweisen.
Gerade ihre besondere, dem theoretischen Teil unserer Wissenschaft zugewandte Richtung erscheint uns als Stütze unserer Bitte. Sie arbeitet z. B. in dem wichtigen, zu Unrecht in den letzten Dezennien vernachlässigten Gebiete der Invariantentheorie, das erst durch sie unserem Lehrplan wieder eingefügt werden könnte und in dem auch manche unserer mathematischen und physikalischen Kollegen von ihr Belehrung schöpfen würden.
Wir rollen absichtlich nicht die allgemeine und unbestimmte Frage auf, wie nach dem Kriege sich der Wirkungsbereich der beiden Geschlechter abgrenzen solle. Aber wir heben hervor, dass gerade die Rücksicht auf die durch den Krieg bewirkte Neubewertung der Wissenschaften uns zwingt, alles zu tun, um neben den praktischen auch die theoretischen Fächer zu fördern, ohne welche eine Verflachung auf die Dauer unvermeidlich wäre. Es erscheint uns daher als eine wichtige voraussehende Maßnahme, sich besondere Begabungen zu sichern und zwar noch während des Krieges.
Sehr wesentlich bei unserer Bitte um Erlaubnis dieses ersten Versuches einer Frauenhabilitation ist auch der persönliche Eindruck. Es scheint uns bei Frl. Noether alles ausgeschlossen, was bei einzelnen Vertreterinnen wissenschaftlicher Tendenzen in unliebsamer Weise hervorgetreten ist. Sie ist in einem Gelehrtenhause aufgewachsen und wird eine eifrige und stille Arbeiterin auf dem Felde ihres Berufes sein.
Unterzeichnet war das Gesuch von dem Mathematiker Edmund Landau (1877-1938), der 1915 Vorsteher der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät war.1
Ganz offensichtlich versuchte man in diesem sorgfältig formulierten Antrag sowohl die während der Diskussionen in Abteilung und Fakultät vorgebrachten Einwände gegen Emmy Noethers Habilitation zu entkräften (von denen im Einzelnen noch die Rede sein wird) als auch um jeden Preis den Eindruck zu vermeiden, dass man etwa den im Erlass vom 29. Mai 1908 festgelegten prinzipiellen Ausschluss von Frauen von der Habilitation in Frage stelle.2 Der letzte Satz sollte zudem Befürchtungen zerstreuen, dass Emmy Noether etwa emanzipatorische Gedanken hege oder gar Verhaltensweisen zeige, wie man sie insbesondere den russischen Gasthörerinnen zugeschrieben hatte, die seit den 1890er Jahren an die deutschen Universitäten geströmt waren. Diese stellten, bis sie durch die Zulassung von (deutschen) Frauen zum regulären Studium verdrängt wurden, die größte Gruppe unter den an deutschen Universitäten hospitierenden Frauen und galten – wegen der radikalen Russinnen, die in den 1870er Jahren das Frauenstudium an der Universität Zürich etabliert hatten – per se als radikale Feministinnen oder Sozialistinnen.3 Ohne direkt auf diese zu rekurrieren, wollte man also im Fall Emmy Noethers alles verhindern, was die bei vielen Professoren durchaus noch lebendigen Erinnerungen an diese frühen ausländischen (und im Übrigen zumeist jüdischen) Studentinnen hervorrufen könnte.
Als ein zurückhaltendes, nur ihren mathematischen Studien verschriebenes, auf keinen Fall emanzipationssüchtiges weibliches Wesen hatte auch schon Karl Weierstraß (1815-1897) seine Schülerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891) angepriesen, als er seine Göttinger Kollegen zu überreden versuchte, diese zu promovieren, was schließlich auch gelang. Und auch Weierstraß hatte damals darauf hingewiesen, dass er ein Gegner der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium sei und nur in diesem einen Ausnahmefall für die Promotion einer Frau plädiere.4
Nun waren zum Zeitpunkt von Emmy Noethers Habilitationsversuch Frauen inzwischen als reguläre Studentinnen zugelassen, doch noch immer waren sie aufgrund des Erlasses vom 29. Mai 1908, der ihnen die akademische Laufbahn verwehrte, keine vollwertigen akademischen Bürgerinnen.5 Die Fakultät musste nun alles vermeiden, was den Eindruck erwecken konnte, dass man dies ändern wollte: „Unser Antrag zielt auch nicht dahin, um Aufhebung des Erlasses vorstellig zu werden; sondern wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall.“
Trotz dieses deutlich defensiven Charakters des Habilitationsantrags für Emmy Noether waren sich seine Befürworter offensichtlich relativ sicher, dass dieser erfolgreich sein würde. Denn anders ist nicht zu erklären, dass man nicht – wie dies andere Universitäten in vergleichbaren Fällen taten – erst eine vorsichtige Voranfrage beim Ministerium stellte,6 sondern gleich das gesamte vorgeschriebene Verfahren (bis auf die Habilitation selbst) mit Gutachten und Gegengutachten absolvierte, wobei unter den insgesamt 19 Anlagen zum Habilitationsantrag Emmy Noethers nicht nur der Nachweis über die bereits gezahlten Gebühren von immerhin 100 Mark war,7 sondern auch schon drei mögliche Themata für den öffentlichen Probevortrag genannt wurden. Die Anlagen sind in den Göttinger Akten leider nicht vorhanden, aber es existiert eine Liste derselben.8
Demnach lagen – von mir chronologisch sortiert, kommentiert und um die Titel der hier nur summarisch genannten wissenschaftlichen Arbeiten Emmy Noethers ergänzt – dem Antrag bei:
- ein Lebenslauf (leider nicht vorhanden);
- ein Leumundszeugnis;
- zwei Lehrerinnenprüfungszeugnisse – Emmy Noether hatte Ostern 1900 die Sprachlehrerinnenprüfung abgelegt und so die Berechtigung erworben als Gasthörerin an der Universität Erlangen zugelassen zu werden; in den folgenden Semestern bereitete sie sich auf das Abitur vor;9
- das „Absolutorium“ – Emmy Noether hatte am 14. Juli 1903 als Externe am Königlichen Realgymnasium in Nürnberg die...