Tokarczuk | Die Jakobsbücher | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 1184 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

Tokarczuk Die Jakobsbücher

E-Book, Deutsch, 1184 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-311-70079-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Er galt als Luther der Juden - seine Anhänger sahen in ihm einen Messias, für seine Gegner war er ein Scharlatan, ja Ketzer. Jakob Frank war eine der schillerndsten Gestalten im Europa des 18. Jahrhunderts. Die Religionen waren ihm wie Schuhe, die man auf dem Weg zum Herrn wechseln könne: Er war Jude, bevor er mit seiner Gefolgschaft zum Islam und dann zum Katholizismus konvertierte. Er war ein Grenzgänger, der, aus dem ostjüdischen Schtetl stammend, das Habsburger und das Osmanische Reich durchstreifte und sich schließlich in Offenbach am Main niederließ.»Die Jakobsbücher« sind das vielstimmige Porträt einer faszinierenden Figur, deren Lebensgeschichte zum Vexierbild einer Welt im Umbruch wird. Olga Tokarczuk hat einen historischen Roman über unsere Gegenwart geschrieben, der zugleich ein Plädoyer für Toleranz und Vielfalt ist. Ihr Opus magnum, vom Nobelpreiskomitee explizit in der Begründung erwähnt.
Tokarczuk Die Jakobsbücher jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2
Von einer fatalen Kutschenfederung
und der Frauenmalaise
der Katarzyna Kossakowska
In derselben Zeit langen die Kastellanin von Kamieniec Podolski, Katarzyna Kossakowska, geborene Potocka, und die ältere Dame, in deren Begleitung sie seit einigen Tagen schon unterwegs ist von Lublin nach Kamieniec, in Rohatyn an. Eine Stunde hinter ihnen fahren Wagen mit den Reisetruhen, darin ihre Kleider, Weißwäsche und das Tafelservice, damit sie an den Orten, an denen sie Rast einlegen, ihr eigenes Porzellan und Besteck benutzen können. Obwohl sie Sendboten vorausschicken, die Verwandte und Bekannte auf den jeweils zunächst liegenden Gütern von der Reise der beiden Frauen in Kenntnis setzen, gelingt es ihnen nicht immer, ein sicheres und kommodes Nachtlager zu bekommen. Dann bleiben Gasthäuser und Herbergen, in denen das Essen oft zu wünschen übrig lässt. Frau Druzbacka, die nicht mehr die Jüngste ist, fühlt sich mehr tot als lebendig. Sie leidet an schlechter Verdauung, was sicher daher rührt, dass jede Mahlzeit im Magen durchgerüttelt wird wie Rahm im Butterfass. Doch Sodbrennen ist keine Krankheit. Schlimmer steht es um die Kastellanin Kossakowska – seit gestern plagt sie der Unterleib, jetzt sitzt sie in der Kutsche, in eine Ecke gedrückt, völlig entkräftet, kaltschweißig und derart bleich, dass die Druzbacka um ihr Leben zu bangen beginnt. Deshalb suchen sie jetzt Hilfe, hier, in Rohatyn, wo der Starost, Szymon Labecki, ein angeheirateter Verwandter der Kastellanin ist – wie im Übrigen jede bedeutendere Persönlichkeit in Podolien.   Es ist Markttag, und die lachsfarbene, gefederte Kutsche mit dem golden schimmernden Ornament in weicher Linienführung, dem aufgemalten Wappen der Potockis auf den Wagenschlägen, mit dem Kutscher auf dem Bock und dem schützenden Geleit der Männer in ihren grellfarbenen Uniformen hat schon beim Schlagbaum am Ortseingang für eine Sensation gesorgt. Alle Augenblicke muss die Kutsche halten, eingekeilt im Strom der Menschen und Tiere. Da hilft es auch nichts, dass die Peitsche über den Köpfen knallt. Die beiden Frauen im Innern des Gefährts gleiten wie in einer kostbaren Muschel durch das aufgewühlte Wasser der vielsprachigen Menge in Marktlaune. Schließlich wird die Kutsche, was in dem Gedränge hatte kommen müssen, von einer Deichsel aufgespießt, die Federung geht zu Bruch, diese neue Errungenschaft, die dem Komfort der Reise dienen soll und selbige nun beschwerlicher macht, die Kastellanin purzelt von der Sitzbank auf den Boden, und ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse des Schmerzes. Mit einer Verwünschung auf den Lippen springt die Druzbacka aus dem Wagen in den Schlamm und macht sich alleine auf, Hilfe zu suchen. Als Erstes spricht sie zwei Frauen mit Körben an, die kichern nur und suchen das Weite, ruthenische Worte flattern hin und her. Dann greift sie einen Juden in Mantel und Mütze am Ärmel – der gibt sich alle Mühe zu verstehen, was sie sagt, antwortet ihr auch in seiner Sprache, deutet hinunter ins Städtchen, Richtung Fluss. Als Nächstes vertritt die Druzbacka, ungeduldig schon, zwei ansehnlichen Kaufleuten den Weg, die eben einer noblen Kutsche entsteigen und sich dem kleinen Aufruhr nähern, doch sind die beiden wohl Armenier, offenbar nur auf der Durchreise. Sie schütteln die Köpfe. Und die Türken, die gleich in der Nähe stehen, schauen die Druzbacka, wenn sie nicht alles täuscht, ironisch an. »Spricht hier jemand Polnisch?«, ruft sie aus, verärgert über das Getümmel und verdrossen, dass es sie überhaupt hierher verschlagen hat. Da heißt es, es sei alles ein und dasselbe Königreich, die eine Rzeczpospolita, doch was sie hier sieht, hat mit Großpolen, der Gegend, aus der sie stammt, wahrhaftig nicht mehr viel zu tun. Eine einzige Wildnis, fremd wirken die Gesichter, wunderlich, die sonderbarste Kleidung ist zu sehen, zerschlissene Bauernröcke, Pelzmützen, Turbane, nackte Füße. Kleine, gedrungene Hütten, aus Lehm gebaut, selbst noch um den Markt. Und dieser Geruch nach Malz und Dung und nassem, welkem Laub. Schließlich sieht sie die zierliche Gestalt eines älteren Geistlichen vor sich, er ist bereits ergraut, trägt einen schon etwas fadenscheinigen Mantel und eine Tasche an einem Riemen über der Schulter. Er starrt sie mit Stielaugen an, so überrascht ist er. Sie fasst ihn an den Schößen seines Mantels, und während sie ihn beutelt, stößt sie zwischen den Zähnen hervor: »Um Christi willen, sagen Sie mir, wo das Haus des Starosten Labecki ist! Und zu niemandem auch nur ein Sterbenswort!« Der Pater zwinkert eingeschüchtert mit den Augen. Er weiß nicht, soll er etwas sagen, soll er schweigen? Soll er mit der Hand die Richtung zeigen? Die Frau, die so erbarmungslos an ihm zerrt, ist nicht sehr groß, von rundlicher Gestalt, ausdrucksstarke Augen hat sie und eine beachtliche Nase; unter der Haube ringelt sich eine graumelierte Strähne hervor. »Eine bedeutende Person – incognito«, sagt sie und deutet auf die Kutsche. »Incognito, incognito«, wiederholt der Geistliche beflissen. Er fischt einen jungen Burschen aus der Menge, heißt ihn, die Kutsche zum Haus des Starosten bringen. Geschickter, als man es hätte vermuten wollen, hilft dieser, die Pferde auszuspannen, damit man wenden könne. In der Kutsche, hinter den verhängten Fenstern, stöhnt und ächzt die Kastellanin. Und auf jedes Ächzen folgt ein saftiger Fluch. Vom Blut auf Seidenstoffen
Szymon Labecki, verheiratet mit Pelagia Potocka, ist ein Vetter der Katarzyna Kossakowska – ein entfernter Vetter zwar, aber dennoch. Seine Frau ist derzeit nicht zugegen, sie weilt bei Verwandten auf einem Gut in einem nahe gelegenen Dorf. Überrascht von dem Besuch schließt Labecki eilig die Knöpfe an seinem Justaucorps, zupft sich die Spitzenmanschetten zurecht. »Bienvenu, bienvenu«, wiederholt er ein wenig abwesend, als die Bediensteten gemeinsam mit der Druzbacka die Kastellanin nach oben führen, wo der Hausherr der Base die besten Zimmer zur Verfügung stellt. Dann schickt er, vor sich hin murmelnd, nach dem Medicus von Rohatyn. »Quelque chose de féminin, quelque chose de féminin«, brabbelt er immer wieder. So gänzlich glücklich ist er nicht über diesen Besuch, nein, er behagt ihm überhaupt nicht. Fast schon war er unterwegs zu einem Ort, an dem er regelmäßig Karten spielt. Allein der Gedanke an das Kartenspiel bringt sein Blut in angenehme Wallung, wie ein Glas vom besten Tropfen. Doch hat ihn sein Laster auch schon gehörig Nerven gekostet. Er tröstet sich damit, dass sich bedeutendere Leute als er, wohlhabender und von weiter reichender Reputation, an den Kartentisch setzen. Letzthin spielt er mit dem Bischof Soltyk, deshalb auch der elegante Aufzug heute. Er war so gut wie unterwegs, es war schon angespannt – und jetzt ist nichts damit. Ein anderer wird gewinnen. Er atmet tief ein, reibt sich die Hände, als wollte er sich gut zureden. Nun gut, dann eben beim nächsten Mal. Den ganzen Abend glüht die Kranke vor Fieber, der Druzbacka scheint es gar, sie deliriere. Zusammen mit Agnieszka, der Gesellschaftsdame, legt sie ihr kalte Umschläge auf die Stirn, der eilends herbeigerufene Medicus verordnet Kräuter – jetzt wallt ein Geruch wie von Süßholz und Anis in einer weichen Wolke über der Bettstatt, und die Kranke gleitet in den Schlaf. Der Arzt lässt außerdem kalte Umschläge auf den Bauch legen. Langsam beruhigt sich das Haus, nach und nach erlöschen die Kerzen. Nun, es ist nicht das erste und gewiss auch nicht das letzte Mal, dass die Monatsbeschwerden der Kastellanin derart zusetzen. Wen sollte man dafür verantwortlich machen – schuld ist sicher die Erziehung der Fräuleins auf den Gütern, in dumpfer Luft, ohne jegliche Anstrengung des Körpers. Die Mädchen sitzen krumm über die Stickrahmen gebeugt, arbeiten an der Verzierung von Priesterstolen. Auch der Speisezettel auf den Gütern, schwer und mit viel Fleisch, tut das Seine. Die Muskeln erschlaffen. Zudem hat die Kossakowska eine Schwäche für Reisen, ganze Tage verbringt sie in der Kutsche, im ständigen Gerumpel und Geholper. Die Nervenaufregung, die ewigen Intrigen. Kurzum Politik, denn wer ist Katarzyna Kossakowska, wenn nicht eine Gesandte des Klemens Branicki? Für seine Angelegenheiten tritt sie ein. Und sie macht es gut, denn ihre Seele hat etwas Männliches – so sagt man jedenfalls, und die Leute haben Respekt vor ihr. Die Druzbacka aber kann von dieser »Männlichkeit« nichts erkennen. Was sie sieht, ist ein Frauenzimmer, das sich darin gefällt zu herrschen. Groß gewachsen und selbstbewusst, mit kräftiger Stimme. Und dann heißt es noch, ihr Gatte, ein wenig einnehmender Wicht, sei impotent. Als er sich um ihre Gunst bemühte, stieg er wohl auf einen Sack voll Geld, um die fehlende Körpergröße auszugleichen. Und wenn ihr Gottes Wille auch den Kindersegen vorenthält, wirkt sie doch nicht unglücklich dabei. Hat sie Zwist mit ihrem Gatten, so wird gemunkelt, packt sie ihn an den Hüften und stellt ihn auf den Kaminsims, von wo er sich nicht mehr heruntertraut, und solcherart zur Reglosigkeit verdammt, muss er anhören, was sie ihm zu sagen hat. Wie kommt eine so ansehnliche Frau dazu, einen solchen Gnom zu erwählen? Wohl allein, um die Position der Familie zu stärken, und Positionen stärkt man mit Politik. Zu zweit haben sie die Leidende jetzt entkleidet, und mit jedem weiteren Stück der Garderobe tritt unter der Kastellanin Kossakowska deutlicher das Wesen mit Namen Katarzyna hervor, schließlich die Frau mit Namen Kasia, die nun stöhnend,...


Tokarczuk, Olga
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Palmes, Lisa
Lisa Palmes übersetzt seit elf Jahren Literatur aus dem Polnischen. Einige ihrer wichtigsten Übersetzungen sind: Wojciech Jagielski, »Wanderer der Nacht«; Joanna Bator, »Dunkel, fast Nacht«; Jacek Leociak, »Text und Holocaust«. »Die Erfahrung des Ghettos in Zeugnissen und literarischen Entwürfen«. 2017 erhielt sie den Karl-Dedecius-Preis für deutsche Übersetzer polnischer Literatur. 2019 wurde sie für ihre Übersetzung von Filip Springers Reportageroman »Kupferberg«. »Die verschwundene Stadt« gemeinsam mit dem Autor mit einem Doppelpreis des Riesengebirge-Literaturpreises ausgezeichnet.

Quinkenstein, Lothar
Lothar Quinkenstein ist Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Polnischen. Er übersetzte u. a.: Henryk Grynberg, »Flüchtlinge«; Ludwik Hering, »Spuren«; Wladyslaw Panas, »Das Auge des Zaddik«. 2017 wurde er mit dem Jablonowski-Preis ausgezeichnet; im selben Jahr erhielt er den Spiegelungen-Preis für Lyrik. 2019 erschien bei edition.fotoTAPETA sein zweiter Roman: »Souterrain«.
Nach Ludwik Hirszfelds »Geschichte eines Lebens« ist Olga Tokarczuks Roman »Die Jakobsbücher« die zweite gemeinsame Übersetzungsarbeit von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.