Tokarczuk | Die grünen Kinder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

Tokarczuk Die grünen Kinder

Bizarre Geschichten

E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-311-70167-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bizarr ist unsere Welt, immer in Bewegung, ständig in Veränderung begriffen. Und das gilt auch für die faszinierenden neuen Erzählungen von Olga Tokarczuk, der großen Raumzeitreisenden - ein Buch, das in Erstaunen setzt, alle gängigen Erwartungen unterläuft. Jede der zehn Erzählungen entfaltet sich in einem anderen Raum: Wolhynien zur Zeit der »schwedischen Sintflut«, die heutige Schweiz, das ferne Asien, fiktive Orte der Imagination. Worin besteht das Gefühl, dass etwas »bizarr« sei? Wo hat es seinen Ursprung? Ist das Bizarre eine Eigenschaft der Welt oder liegt es in uns? In den unablässigen Rhythmuswechseln der Erzählungen verliert der Leser seine Gewissheiten. Was wird ihn auf der nächsten Seite erwarten? Olga Tokarczuk schubst uns aus der Komfortzone, lässt uns spüren, dass die Welt immer weniger zu fassen ist. Mit den Mitteln der Groteske, des schwarzen Humors, Elementen aus den Genres Fantasy und Horror führt sie uns vor Augen, dass in der Wirklichkeit, wie wir sie zu kennen glauben, nichts ist, was es scheint.
Tokarczuk Die grünen Kinder jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Eingemachtes
Er richtete ihr ein würdiges Begräbnis aus. All ihre Freundinnen kamen, plumpe ältere Damen in Wollbaskenmützen und Wintermänteln, die den Geruch von Naphthalin verströmten, und aus den Nutria-Kragen ragten ihre Köpfe wie große, bleiche Geschwulste. Taktvoll begannen sie zu schluchzen, als der Sarg an den regennassen Seilen in die Tiefe glitt, und dann bewegten sie sich, in eng gedrängten Grüppchen, unter den Kuppeln aufgespannter Knirpse mit kuriosen Mustern, auf verschiedene Bushaltestellen zu. Am selben Abend noch öffnete er das Klappfach in der Schrankwand, in dem ihre Papiere lagen, und suchte … ja, er wusste selbst nicht was. Geld, Aktien, Obligationen – eine dieser Policen für den ruhigen Lebensabend, die im Fernsehen immer mit herbstlichen Szenen beworben wurden, in denen bunte Blätter rieselten. Sparbücher aus den sechziger- und siebziger Jahren fand er, das Parteibuch seines Vaters, der 1981 glücklich verstorben war, in der festen Überzeug, der Kommunismus sei eine metaphysische Ordnung, die ewig Bestand haben werde. Seine Zeichnungen aus dem Kindergarten, säuberlich zusammengelegt in einer Pappklappmappe mit Gummizug. Diese Mappe rührte ihn. Dass sie seine Kinderzeichnungen aufheben würde, hätte er nie gedacht. Und schließlich ihre Hefte mit den Rezepten für sauer Eingemachtes, Mariniertes und Konfitüren. Jedes Rezept begann auf einer eigenen Seite, die Überschriften waren mit dezenten Schnörkeln versehen – Ausdruck eines Bedürfnisses nach Küchenästhetik. »Pickles mit Senfkörnern«, »Marinierter Kürbis à la Kordelia«, »Avignon-Salat«, »Steinpilze kreolische Art«. Auch kleine Extravaganzen waren dabei: »Gelee aus Apfelschalen«, »Kalmus in Zucker«. Die Hefte brachten ihn auf den Gedanken, in den Keller zu gehen. Seit Jahren war er nicht mehr dort unten gewesen. Seine Mutter hingegen hatte sich gerne im Keller aufgehalten, was ihn auch nie weiter verwundert hatte. Wenn sie sich wieder einmal beschwerte, dass er sich ein Fußballspiel in dröhnender Lautstärke ansah, und ihr immer kläglicheres Klagen keine Wirkung zeigte, hörte er den Schlüsselbund klirren, die Wohnungstür schlug zu, und seine Mutter blieb verschwunden für eine selig lange Zeit. Dann konnte er sich ungestört seiner Lieblingsbeschäftigung hingeben – eine Bierdose nach der anderen leeren und den zwei Gruppen von Männern zusehen, die in ihren bunten Trikots von einer Spielfeldhälfte in die andere einem Ball hinterherrannten. Der Keller war säuberlich aufgeräumt. Ein kleiner, abgewetzter Läufer – ach je, Erinnerung aus Kindertagen –, ein Sessel, mit Plüschstoff bezogen, eine akkurat gefaltete Häkeldecke lag darauf. Eine Stehlampe mit Tischchen, ein paar restlos zerlesene Bücher. Einen geradezu verlockenden Eindruck aber machten die Regale: Dicht an dicht standen die schimmernden Gläser mit dem Eingemachten. Alle waren mit selbstklebenden Etiketten versehen, hier wiederholten sich, wie er erkannte, die Überschriften aus den Rezeptheften: »Cornichons in Pani Stasias Marinade, 1999«, »Paprikahäppchen, 2003«, »Pani Zosias Schmalz«. Einige der Bezeichnungen klangen geheimnisvoll: »Appertisierte Spargelbohnen« – er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was »appertisiert« bedeutete. Der Anblick der klein geschnittenen, blässlichen Pilze, der vielfarbigen Gemüsemischungen, der blutroten Minipaprikaschoten weckte seine Lebensgeister. Flüchtig tastete er die Reihen der Gläser ab – keine Wertpapiere, kein Geld. Es sah wahrhaftig so aus, als hätte sie ihm rein gar nichts hinterlassen. Er nahm ihr Zimmer in Beschlag, verstreute dort seine getragenen Klamotten, stapelte die Papppaletten mit dem Dosenbier. Von Zeit zu Zeit holte er sich aus dem Keller einen Karton mit Eingemachtem, öffnete der Reihe nach die Deckel, fischte mit einer Gabel den Inhalt heraus. Sein Bier mit Erdnüssen oder Salzstangen schmeckte köstlich in Verbindung mit marinierter Paprika oder zarten Babygürkchen. Er saß vor dem Fernseher, gab sich der Betrachtung seiner neuen Lebenslage hin – der just erlangten Freiheit. Ihm war, als hätte er eben das Abitur bestanden und alle Möglichkeiten lägen offen. Als sollte nun ein neues, ein besseres Leben beginnen. Er war nicht mehr der Jüngste, letztes Jahr hatte er die fünfzig überschritten, jetzt aber fühlte er sich jung, ja – er fühlte sich wie ein Abiturient. Auch wenn die letzte Rente seiner Mutter zur Neige ging, befand er, dass noch genügend Zeit war, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Zuerst würde er in aller Ruhe verzehren, was sie ihm vermacht hatte. Kaufen musste er höchstens Brot und Butter. Und natürlich Bier. Später könnte er sich vielleicht tatsächlich nach einer Arbeit umsehen. Damit hatte sie ihm ja den letzten Nerv geraubt, mehr als zwanzig Jahre lang. Er könnte zur Arbeitsvermittlung gehen – da würde sich schon etwas finden für einen fünfzigjährigen Abiturienten. Vielleicht zöge er sogar den hellen Anzug an, den sie so sorgfältig gebügelt in den Schrank gehängt hatte, dazu das hellblaue Hemd – und dann würde er sich aufmachen in die Stadt. Wenn nicht gerade ein Fußballspiel liefe. Nun war er also frei. Doch fehlte ihm auch ein wenig das Schlurfen der mütterlichen Pantoffeln, das monotone Geräusch, an das er sich so gewöhnt hatte, und das zumeist begleitet worden war von ihrer halblauten Stimme: »Jetzt wär’s aber wirklich Zeit, dass du endlich mal wegkommst von deinem Fernseher, dass du unter die Leute gehst und ein Mädchen kennenlernst. Willst du dein ganzes Leben so zubringen? Such dir endlich eine eigene Wohnung, hier ist es zu eng für zwei. Andere Leute heiraten, haben Kinder, fahren mit dem Zelt in Urlaub, treffen sich zum Grillen. Und du? Dass du dich nicht schämst, dich von deiner alten, kranken Mutter aushalten zu lassen! Zuerst dein Vater und jetzt du. Alles muss man euch waschen und bügeln, die Einkäufe nach Hause schleppen. Dieser Fernseher macht mich verrückt, ich kann nicht schlafen, die ganze Nacht hockst du davor. Was schaust du dir da eigentlich an? Dass dir das nicht langweilig wird …« Stundenlang dieses Lamento. Schließlich kaufte er sich Kopfhörer. Das war eine Lösung – sie hörte den Fernseher nicht, er hörte sie nicht jammern. Doch jetzt war es irgendwie zu leise in der Wohnung. Ihr picobello hergerichtetes Zimmer mit den Häkeldeckchen, den Kommödchen und Vitrinenschränkchen füllte sich mit Verpackungen und leer gefutterten Einmachgläsern, mit seinen schmutzigen Kleidern und schließlich mit befremdlichen Gerüchen – die Bettwäsche begann zu modern, Schimmelzungen leckten an den Wänden empor. Hinter der stets geschlossenen Tür begann der Raum, den keine Frischluft mehr durchwehte, zu fermentieren. Einmal, als er saubere Handtücher suchte, fand er im untersten Schrankfach eine weitere Batterie Weckgläser, unter einem Stapel Bettwäsche verborgen, in einige Wollknäuel geschmiegt, Partisanen gleichsam, die fünfte Kolonne an Eingemachtem. Er untersuchte die Gläser – von der Sammlung im Keller unterschieden sie sich durch ihr Alter. Die Etiketten waren schon ein wenig verblichen, die Jahre 1991 und 1992 wiederholten sich, doch gab es auch einzelne Exemplare, die noch älter waren, von 1983 etwa, von 1978. Das Glas von 78 vor allem schien die Quelle eines üblen Geruchs zu sein. Der Deckel war rostig geworden, Luft war ins Innere des Glases gedrungen, und zum Ausgleich hatte der Atem der Fäulnis den Weg ins Freie gefunden. Was immer hier eingemacht worden war, hatte sich in einen bräunlichen Batzen verwandelt. Angeekelt warf er das Glas in den Müll. Auf den anderen Etiketten fand er die bereits bekannten Aufschriften: »Kürbis in Johannisbeermus«, »Johannisbeeren in Kürbismus«. Auch ein Glas mit völlig ergrauten Cornichons war dabei. In vielen Gläsern ließ sich der Inhalt nicht mehr erkennen, allein die sorgsam beschrifteten Etiketten gaben Auskunft darüber. Fruchtgelees waren zu schwarzen Klumpen geronnen, marinierte Pilze zu einer undurchsichtig öligen Sülze verschmolzen, Pasteten zu kläglichen Häufchen verdorrt. Die nächsten Gläser fand er im Schuhschränkchen und in dem kleinen Staufach unter der Badewanne. Auch in ihrem Nachtkästchen waren welche verborgen. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hatte seine Mutter Essen vor ihm verstecken wollen? Hatte sie diese Vorräte für sich selbst angelegt, in Erwartung des Tages, an dem er ausziehen würde? Oder war das Eingemachte eben für ihn gedacht gewesen? Nach den Gesetzen der Natur sterben Mütter schließlich meistens vor ihren Söhnen. Sollten die Weckgläser ihm die Zukunft sichern? Mit einer Mischung aus Rührung und Ekel betrachtete er die jüngsten Funde. Und las auf einem Etikett – es stammte aus der Sammlung unter der Spüle: »Schnürnestel in Essig, 2004«. Das hätte ihm zu denken geben müssen. Er starrte auf die braunen Bändel, die sich in der Marinade ringelten, die schwarzen Kügelchen Nelkenpfeffer. Ein Unbehagen ergriff ihn. Doch weiter nichts.   Er musste daran denken, wie sie ihn immer abgepasst hatte, wenn er die Kopfhörer abnahm und ins Bad ging. Mit rascher Bewegung trat sie aus der Küche, versperrte ihm den Weg: »Alle jungen Vögel verlassen irgendwann ihr Nest, das ist der Lauf der Dinge, die Eltern haben sich ihre Erholung verdient. Überall in der Natur ist das so. Warum quälst du mich? Du solltest schon längst deine Sachen gepackt...


Tokarczuk, Olga
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Quinkenstein, Lothar
Lothar Quinkenstein ist Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Polnischen. Er übersetzte u. a.: Henryk Grynberg, »Flüchtlinge«; Ludwik Hering, »Spuren«; Wladyslaw Panas, »Das Auge des Zaddik«. 2017 wurde er mit dem Jablonowski-Preis ausgezeichnet; im selben Jahr erhielt er den Spiegelungen-Preis für Lyrik. 2019 erschien bei edition.fotoTAPETA sein zweiter Roman: »Souterrain«.
Nach Ludwik Hirszfelds »Geschichte eines Lebens« ist Olga Tokarczuks Roman »Die Jakobsbücher« die zweite gemeinsame Übersetzungsarbeit von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.