E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Tötschinger Entrée
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7117-5517-9
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7117-5517-9
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip, knapp 50, führt ein recht unspektakuläres Leben als Texter in Wien. Da erreicht ihn eines Tages ein Notariatsbrief aus Paris. Die Erinnerungen an sein damaliges Leben und an Céline führen ihn zurück in die Stadt, wo er vor fünfundzwanzig Jahren Philosophie studiert hat. Die Reise löst eine Kaskade von Gefühlen, Ängsten und Rückblicken aus, die immer wieder die belastete Vergangenheit seines Heimatdorfes hochkommen lassen, in dem sich einst eines der größten Kriegsgefangenenlager des Deutschen Reichs befand.
Um den Spuren eines Familiengeheimnisses zu folgen, landet er wieder bei seiner alten Liebe, erlebt die herzliche Aufnahme in der Welt des Zirkus und lernt die Kunst der alten Clowns kennen. Unmerklich verändert sich etwas in ihm. Schritt für Schritt tritt er aus den gewohnten Bahnen, entdeckt neue Klarheit im Vorhandenen und
lebt wie die Clowns im Augenblick inmitten einer unruhigen Welt.
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8
Das Hotel Michelet war mir unbekannt. Nicht sein Patron. Stolz zeigte ich dem Portier Jules Michelets »Die Frauen der Revolution«. Ich hatte das Hotel wegen des Namens ausgewählt, das Buch noch rechtzeitig aus dem Keller geholt und zu den anderen Büchern gepackt. Aber er schien es nicht zu kennen, sagte nur, das Zimmer wäre erst ab drei Uhr bereit. Ich war zu früh vor dem Haus des Notariatsbüros angekommen. So lief ich die rechte Straßenseite der Rue du Faubourg Montmartre hoch, vorbei an einem Häufchen Protestierender, überquerte die Straße und spazierte auf der anderen Straßenseite wieder abwärts in Richtung Boulevard. Neben dem Torbogen, durch den man zum Eingang des Notariatsbüros gelangte, leuchtete an der Fassade des Varietétheaters Pallace der Name des Chansonniers Michel Polnareff. Mit roten Lettern und Lämpchen angekündigt, solche, wie ich sie aus dem Zirkus kannte (den Polnareff gibt es noch immer?). Pünktlich um vierzehn Uhr verschaffte ich mir einen Überblick über all die Klingelknöpfe, von dem einer mein neues Glück bedeuten konnte. Ich drückte den passenden. Das Tor gab den Weg ins Stiegenhaus frei. Eine schmale Treppe führte in den ersten Stock. Die Eingangstür der Notarin sprang durch leichtes Dagegendrücken auf. Ein junger Herr bot mir einen Platz im lang gestreckten Foyer an. Das Büro erinnerte mich an einen Film noir. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Simone Signoret erschienen wäre. Aber eine kleine, schlanke Frau in Stöckelschuhen und Minirock mit weißen Kopfhörern in den Ohren trippelte mir nach langem Warten entgegen. »Florence.« Sie hatte zuerst ihren Namen genannt, dann den meinen mit einer fragenden Miene, mich in einen Raum mit Stößen von Papier, alten Büchern in Vitrinen, stehenden und liegenden Ordnern gebeten. Ein Apple-Bildschirm in der Mitte des Schreibtischs. Nicht ganz so ein schlimmes Durcheinander wie in meiner Wohnung. Die Notarin deutete auf einen der ledernen Fauteuils, bestellte, nachdem ich zugestimmt hatte, per Telefon zwei Kaffee und eine Karaffe Wasser, zog eine Mappe aus einem der Stöße hervor, blätterte darin und sah mich an. »Mein Beileid.« »Wofür?« Ich zuckte mit den Schultern. Florence zog den Stuhl näher, schob mir eines der Blätter zu. Ich roch ihr Parfum und nannte die Marke. Sie nickte. Froh, es erkannt zu haben, verfolgte ich ihren Zeigefinger. Er landete bei dem Namen, den ich schon im Brief gelesen hatte. »Ich wäre glücklich, hätte ich solch einen Großvater gehabt«, sagte sie. Ich zog vermutlich eine fragende Miene, drehte den Kopf, sah sie von links an, von rechts, senkte den Blick. Dann musste ich lachen. Mein Lachen sollte ihrem schlechten Scherz ein wenig Beifall spenden. »Ach, ja, und ich bin Louis seize«, sagte ich. Damit hoffte ich, ihr ebenso scherzhaft zu begegnen. Aber ihr verwunderter Blick stoppte mein Vorhaben. »Monsieur Pichereau war Ihr leiblicher Großvater.« »Verzeihen Sie«, setzte ich fort, vom Husten unterbrochen, »aber ich bin aus Österreich und heiße Muzak. Mein Großvater hieß Muzak, mein anderer, den ich kaum kannte, Meier.« Die Notarin richtete sich auf. Wiederholte ihre Nachricht. Ich wollte protestieren. Die Stimme versagte. Ich schüttelte den Kopf, begann nervös mit den Fingern auf der Lehne des Stuhls zu trommeln, wie immer, wenn ich in die Enge getrieben werde, atmete tief ein und aus und betonte, ich hätte angerufen. Hätte sie abgehoben, wäre ich wegen einer solchen Nachricht nicht persönlich erschienen. Dann hätte ich ihr gleich gesagt, dass das ein Irrtum sein musste. Vielleicht sogar ein Betrug. Ja, Betrug! Ich hätte die Angelegenheit Karl übergeben, der sei als Anwalt ein Kampfhund, so sagte ich, Kampfhund! Er hätte diese Persiflage in einer Minute geklärt. Zugleich wusste ich, dass ich es selbst war, der unbedingt nach Paris wollte. Ich sank im Stuhl zurück und zwang mich zu einem Lächeln, um meine unhöfliche Reaktion abzuschwächen. »Ich verstehe, dass dies für Sie etwas plötzlich ist«, sagte Florence. Sie deutete noch einmal auf Papas Namen. »Ihr Vater war als Erbe eingesetzt. Da dieser tot ist, sind Sie es.« Ich spürte einen mir bekannten Druck im Magen und schaute in Richtung Decke. »Unmöglich.« Ich wusste doch, dass dies nicht sein konnte, sagte, dass ich, wie vorhin ausführlich erklärt, bereits zwei Großväter hätte, und die seien beide tot, die Erbschaften vor Jahren in Österreich abgewickelt. Sie sollte noch einmal genau recherchieren, eventuell, wie ich betonte, sich auch in österreichischen Unterlagen informieren. Dass die Franzosen bekannt seien für ihre Schlamperei, wie man in meinem Heimatdorf behauptete, behielt ich für mich. »Ich habe auch in Österreich nachgeforscht. In diesen Unterlagen taucht ein Herr Alois Muzak auf.« »Also doch«, triumphierte ich. »Aber in französischen Dokumenten von 1946 ist Louis Pichereau als biologischer Vater Ihres Vaters angegeben.« »In welchen französischen Dokumenten?« Ich verstand nicht. Wo kamen solch französische Dokumente her? »Aus dem Programm ›Enfants d’Etat‹.« Was denn dieses Programm sei, wollte ich wissen, von dem ich noch nie etwas gehört hätte. »Herr Pichereau hat 1946 in Frankreich die Vaterschaft angegeben. Er wollte Ihren Vater mithilfe des Programmes ›Enfants d’Etat‹ nach Frankreich heimholen. Es ging um Kinder von Franzosen und Österreicherinnen. Die als Franzosen geltenden Kinder wurden damals als nationale Ressource angesehen.« »Sie wollten den Müttern ihre Kinder wegnehmen? Schrecklich.« Plötzlich war ich über solch eine Brutalität erschüttert. Franzosen hätte ich dies nie zugetraut. Französische Recherche-Offiziere seien durch Deutschland und Österreich gereist, führte die Notarin aus, um junge Mütter davon zu überzeugen, ihre unehelichen Kinder von französischen Vätern dem französischen Staat zu überlassen. Für viele Frauen sei dies eine Notlösung gewesen, es gab ja kaum Nahrung für die Kinder. Die Mütter seien ständigen Diskriminierungen in ihrer Heimat ausgesetzt gewesen, weil sie sich mit Ausländern eingelassen hätten. Meinen Vater hätte man als gesund eingestuft, kränkliche oder behinderte Kinder wurden zurückgelassen. Frau Erna Rostik habe sich aber gegen eine Übergabe an Frankreich ausgesprochen und Herrn Alois Muzak als Vater angegeben. Rostik? Das war der Mädchenname der Erna-Oma. Sie wollte Papa nicht hergeben. Plötzlich war ich stolz auf sie. Ich schenkte Wasser aus der Karaffe in ein Glas. Es lief über, die Papiere wurden feucht. Ich zitterte. War vielleicht doch etwas dran? Stimmte die Sache und Oma hatte Papa den richtigen Vater vorenthalten, um ihr Kind behalten zu können? Jetzt hatte ich drei Großväter. »Drei sind doch besser als zwei«, stammelte ich verwirrt. Vermutlich grinste ich verlegen. Florences kühler Blick ließ mich schlagartig wieder ernst werden. »Also. Interessieren Sie sich noch für die Erbschaft?« Sie schien ungeduldig geworden zu sein. Aber ich musste doch vorsichtig sein. Es könnten Schulden vererbt werden, hatte Karl gewarnt. Ich startete noch einen Versuch. »Da möchte einer, auch wenn er schon tot ist, einen Idioten finden, der seine Schulden übernimmt.« Florence sah mich regungslos an. Es war ein Irrtum. Ein Fehler im System. Ich biss die Zähne zusammen, ersuchte sie, noch einmal die Namen in ihren Unterlagen zu prüfen. Es könnte doch sein, dass mit dem in ihren Unterlagen verzeichneten Namen nicht Muzak, sondern Maschek oder Mrozek gemeint war, und auf Französisch im Laufe der Zeit Musaque herausgekommen war. Mroschek, Moschek, Muschek, Musag, Musaque. Ja, das konnte der Grund des Irrtums sein. Ich redete mich in einen Strudel, hoffte, auf den Fehler gestoßen zu sein. Florence bestätigte wiederum die korrekte Schreibweise des Namens. Ich sprang auf, wollte mich für ihre erfolglose Mühe bedanken. »Warten Sie«, sagte sie und legte mir ein weiteres Papier vor. Né le 25.11.1923 à Lens. Décédé le 7.9.2022...