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E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Toer Spur der Schritte

Roman. Die Buru-Tetralogie (Band 3)
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30644-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman. Die Buru-Tetralogie (Band 3)

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

ISBN: 978-3-293-30644-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Welt feiert den Eintritt in das 20. Jahrhundert, und Minke, einer der wenigen europäisch erzogenen Javaner, startet optimistisch in ein neues Leben in einer neuen Stadt: Batavia, dem heutigen Jakarta. Mit dem Beginn seiner Ausbildung an der Ärzteschule und der Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen, hat Minke alle Hoffnung, die Tragödien der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber er kann weder seine Geschichte noch die Realität fremder Herrschaft abschütteln. Als seine Welt in Stücke zu fallen beginnt, sammelt er eine kleine, aber leidenschaftliche Gruppe um sich, die mit ihm für die Unabhängigkeit kämpft. Minke erfährt Liebe, Freundschaft und Betrug - mit tragischen Konsequenzen.

Pramoedya Ananta Toer, geboren 1925 in Blora auf Java, ist der bedeutendste indonesische Schriftsteller. Während der Befreiungsbewegung gegen die holländische Kolonialherrschaft in Indonesien wurde er verhaftet. Im Gefängnis begann er zu schreiben. Im Zentrum von Toers Werk steht eine Romanreihe über die Anfänge des indonesischen Nationalismus, die 1981 verboten wurde. Der Autor stand viele Jahre unter Hausarrest. Er starb 2006 in Jakarta.
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2


Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mir über die heutigen Erfahrungen und Eindrücke überhaupt Gedanken zu machen, geschweige denn, sie zu verarbeiten. Nicht einmal die Mittagsruhe wurde mir gegönnt. Die Jungs im Internat waren damit beschäftigt zu enträtseln, wer die Frau auf dem Portrait in der Hülle wohl war. Der Junge, an dessen Koffer ein aus einer Zeitung ausgeschnittenes Foto einer Frau klebte, versuchte Partotenojo auszufragen. Vielleicht hatte der meine Geschichte schon längst weitergegeben.

Sie hingen um mich herum und suchten nach einer Gelegenheit, mich auszufragen. Auch der Indo, der offiziell Wilam und inoffiziell William Merrywheater hieß, war wieder dabei. Sein Vater war ein englischer Großgrundbesitzer gewesen. Er war außerhalb Buitenzorgs von der Pitung-Bande ermordet worden. Seine Mutter, ein hübsches Mädchen aus Cicurug – vielleicht noch mit Nyai Dasima verwandt – wurde von der Bande entführt und konnte erst befreit werden, als die Kompeni die Bande zerschlagen hatte. Sie hatte ihren kleinen Sohn bei sich.

Ich beantwortete keine ihrer Fragen. Ich lachte nur. Aber eins wurde mir dabei klar: Die einheimischen Intellektuellen fingen an, Gefallen an europäischen Schönheiten zu finden.

Nun erfuhr ich auch, warum sie mich so hart rangenommen hatten. Sie wollten sich an mir rächen, dafür, dass der Lehrerausschuss den Beschluss gefasst hatte, mich von den beiden Vorbereitungsjahren freizustellen.

*

Um Viertel vor Fünf am Nachmittag holte mein Freund mich dann ab. Die Jungs vom Internat begleiteten mich bis in den Vorhof. Das unangenehme Ereignis von heute Morgen war bereits vergessen.

Die ganze Fahrt mit dem Delman wurde untermalt von einer einzigen Lobrede über van Kollewijn. Er schien ein großartiger Mensch zu sein, der Ostindien sehr gute Dienste erwiesen hatte. Es war ihm anscheinend gelungen, neue Lebensmöglichkeiten für die Einheimischen zu schaffen. Ja, auch wenn die Zuckerindustrie letztendlich am meisten von seinen Verdiensten profitiert hatte.

Ich wusste nicht viel von diesem Gott, nur seinen großen Namen hatte ich gelegentlich gehört. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein einziger Mann so viel verändern konnte! War er wirklich so brillant, besaß er wirklich solche Fähigkeiten? Wenn nicht, wie kam es, dass sie ihn so vergötterten? Wie den König der Könige, der über Leben und Tod bestimmen konnte. Dabei war er doch nur Mitglied der Zweiten Kammer. Seine einzige Aufgabe war zu reden. Sicherlich, er war sehr gewandt darin, trotzdem war es mir nicht gelungen, mir ein Bild von ihm zu machen. Ich musste ihn erst einmal selbst sehen, selbst seine Worte hören.

Das Klubhaus »De Harmonie« war sehr beeindruckend. Groß, prächtig, pompös. Der Boden bestand aus riesigen schwarzen Steinplatten, in denen das Licht der kristallenen Kronleuchter, die an der Decke hingen, reflektiert wurde. Drinnen war es frisch und luftig. Die riesigen Holzmöbel waren mit prächtigen Schnitzereien verziert. Jede Garnitur stand für eine bestimmte Epoche. In einem der Räume standen drei Billardtische, bewacht von den Billardstöcken, die wie Speere einsatzbereit in ihren Halterungen standen. Dort hing auch ein Bild der Königin, auf dem sie alleine zu sehen war, gekleidet in ein langes Kleid und einen weißen, schwarz gefleckten Pelz, in einem geschnitzten goldenen Rahmen. Das Bild war größer als ich.

Dies Mädchen, das ich einst angebetet hatte, würde in Kürze in den Stand der Ehe mit Prinz Hendrik treten. Am 7. Februar 1901 nach holländischer Zeit oder dem 6. Februar nach ostindischer Zeit, an einem Freitag Kliwon. Im Klubhaus waren hierfür noch keine erkennbaren Vorbereitungen getroffen worden. Aber es würde sicherlich wieder ein großes Fest geben, so wie bei ihrer Krönung am 6. September 1898.

»Sie schauen sich das Bild der Königin gern an, aber Ihre Gedanken sind woanders«, ermahnte mich mein Freund. »Es besteht wahrhaftig eine gewisse Ähnlichkeit. Aber denken Sie nicht mehr so viel an sie. Ihre Zukunft liegt noch vor Ihnen.«

Dann änderte er blitzschnell das Gesprächsthema: »In diesem Klubhaus«, belehrte er mich, »wurde erstmals das Feuer der liberalen Bewegung entfacht. Der Pfarrer Baron van Hoëvell hatte das Wort geführt. Er hatte die Einführung von Mittelschulen in Ostindien gefordert. Vor einem halben Jahrhundert schon! So lang ist das nun her. Der Generalgouverneur persönlich hat dann seine Verhaftung befohlen. Der Klub wurde von Soldaten umzingelt, mit Kanonen und allem – und das, nur weil einer die Mittelschule forderte. Van Hoëvell wurde verhaftet und in dem Palast eingesperrt, an dem Sie vorhin vorbeigefahren sind. Dann wurde er schnellstmöglich auf ein Schiff nach Holland verfrachtet und durfte nie wieder seine Füße auf ostindischen Boden setzen. Haben Sie seinen Namen jemals gehört?«

Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht hatte ich mal von ihm gehört, es aber wieder vergessen. Also schüttelte ich den Kopf.

»Nichtsdestotrotz haben Sie es ihm zu verdanken, dass Sie die Mittelschule besuchen konnten. Und in zehn Jahren wird die Mittelschule nichts Besonderes mehr sein. In diesem modernen Zeitalter läuft alles viel schneller. Sie erinnern sich? Weil das Kapital gewonnen hat, weil der Wohlstand der Holländer ständig wuchs. Und das, was dieser Pfarrer Baron van Hoëvell getan hat, war nur der Anfang, der Ostindien zu dem veränderte, was es jetzt ist. Den Liberalen ist es gelungen, große Macht zu erlangen, vor allem nach dem Aufkommen ihres radikalen Flügels unter der Leitung unseres heutigen Gastes. Seinen Einfluss spürt man überall. Seine Stimme hallt voller Autorität, in Holland, in Ostindien und vielleicht sogar in Suriname.«

Meinem Freund war meine Unwissenheit nicht entgangen. Geduldig wiederholte er das wenige, was ich über Multatuli und Roorda van Eysinga wusste. Als er wieder bei van Hoëvell war und über dessen feurige Reden vor der Zweiten Kammer sprach und mit dem Aufstreben von van Deventer fortfuhr, war er Feuer und Flamme, als ob diese neue Gruppe der Liberalen letztendlich Ostindien in einer Nacht in ein Paradies verwandeln würde, wie einst Bandung Bondowoso die Tempelanlage Prambanan in einer Nacht gebaut haben soll. Sie riefen zum Widerstand gegen staatliche Plantagen auf. Forderten die Abschaffung der Zwangsarbeit! Skandierten: »Private Plantagen müssen her! Freie Wahl der Arbeit! Persönliche Entwicklung durch selbstbestimmte Arbeit! Freier Wettbewerb!« Des weiteren klagten sie Wiedergutmachung an den Einheimischen in Form von menschenwürdiger Politik ein; was hieß, ihnen das Recht auf Freizügigkeit, Ausbildung und bessere Bewässerungssysteme einzuräumen!

»Ja, junger Mann«, sagte Ter Haar mit leiser und nachdrücklicher Stimme, »nur durch die freie Wahl der Arbeit kann den Einheimischen die menschliche Würde zurückgegeben werden. Selbstbestimmte Arbeit wird ihnen die längst vergessenen Kenntnisse und das Wissen zurückgeben, die durch von Ahnungslosen verfasste Befehle und Verordnungen verdrängt wurden: Errungenschaften, die jahrhundertelang vergessen waren, wie das Tragen von Verantwortung. Freie Wahl der Arbeit wird sie vom Aberglauben und von der Angst vor Geistern, der Polizei und den Kompeni-Soldaten befreien. Und dann wird der wahre Pribumi zum Vorschein kommen.«

Und welchen Teil sollen die Einheimischen dabei übernehmen, wollte ich fragen, aber ich ließ es sein. Schließlich wäre ich derjenige gewesen, der diese Frage beantworten müsste, und nicht er. Das einzige, was ich über die Lippen brachte, war: »Raden Saleh Sjarif Boestaman …«

»Sie meinen den berühmten Maler?«

»Er hat bereits bewiesen, wozu Einheimische fähig sind.«

»Das ist richtig. Nur leider verbrachte er seine Zeit in Europa. Er ging in den Salons der Eliten in Frankreich, Holland, Deutschland und Belgien ein und aus, um selbst berühmt zu werden. Für sein eigenes Volk aber hat er nichts getan, was dessen Lage hätte verbessern können. Man sagt, als er nach Ostindien zurückkam, war er kein Einheimischer mehr, und ein Lehrer für sein Volk war er auch nicht geworden. Er hatte sich zu sehr verändert.«

Darin hatte er leider recht.

Er redete und redete. Ich verstand immer weniger und musste mich immer häufiger am Nacken kratzen. Es schien kein Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen zu existieren. Seine Worte klangen wie die Beschwörungsformel eines Zauberers. Er sprach über die Debatten in der Zweiten Kammer und über die Probleme Ostindiens.

Als er merkte, dass mein Nicken immer tiefer und unsicherer wurde, beeilte er sich zu sagen: »Ach, vielleicht verstehen Sie dies alles noch nicht so gut. Ich werde Ihnen mal ein Buch über die Probleme Ostindiens zuschicken. Gedruckt in Holland. Geschrieben von einem echten Liberalen. Sie können es dann in aller Ruhe studieren.«

Die Pendeluhr im Klub schlug einmal. Halb sechs. Ing. H. van Kollewijn war immer noch nicht zu sehen. Hin und wieder drang das Gebimmel des Delman und der Straßenbahn hinein in dieses große Gebäude.

»Er wird bestimmt gleich hier sein. Er scheint sich zu verspäten. Kurzum, die Liberalen sind die Kinder unseres Zeitalters. Die besten Kinder des Zeitalters, in dem das Kapital triumphiert – ein Zeitalter, in dem alles schon von und durch das Kapital bestimmt wird, in dem alle Leute alles...


Hiang Gornik, Giok
Giok Hiang Gornik wurde 1954 in Surabaya in Indonesien geboren. Mit siebzehn Jahren zog sie nach Deutschland, studierte Chemie in Heidelberg und ist seit 1986 freie Übersetzerin.

Toer, Pramoedya Ananta
Pramoedya Ananta Toer, geboren 1925 in Blora auf Java, ist der bedeutendste indonesische Schriftsteller. Während der Befreiungsbewegung gegen die holländische Kolonialherrschaft in Indonesien wurde er verhaftet. Im Gefängnis begann er zu schreiben. Im Zentrum von Toers Werk steht eine Romanreihe über die Anfänge des indonesischen Nationalismus, die 1981 verboten wurde. Der Autor stand viele Jahre unter Hausarrest. Er starb 2006 in Jakarta.



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