Toer | Kind aller Völker | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Toer Kind aller Völker

Mit einem Nachwort von Rüdiger Siebert. Roman. Die Buru-Tetralogie (Band 2)
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30643-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit einem Nachwort von Rüdiger Siebert. Roman. Die Buru-Tetralogie (Band 2)

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-293-30643-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In der Tetralogie Bücher der Insel Buru des indonesischen Schriftstellers Pramoedya Ananta Toer, auf der Gefangeneninsel Buru begonnen und unter Stadtarrest vollendet, wird die Auseinandersetzung mit der Macht und den Mächtigen seit der Jahrhundertwende zum literarischen Leitthema. In Kind aller Völker, dem zweiten, in sich geschlossenen Band, steht der Journalist Minke, der junge Javaner aus adligem Hause, im Mittelpunkt. Als seine Frau von den holländischen Kolonialherren verschleppt wird, regt sich in Minke der Widerstand. Sein anfänglich überschwänglicher Glaube an die »Europäisierung« wird schwer erschüttert und weicht einer wachsenden Skepsis. Zusammen mit einer Bauernfamilie wagt er es, sich gegen die Landnahme der Holländer aufzulehnen.

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Annelies war auf See. Ihr Scheiden kam dem vorzeitigen Verpflanzen eines Stecklings gleich. Die Trennung bedeutete einen Markstein in meinem Leben: Die Jugendzeit war vorbei. Ja, die schöne Jugend voller Hoffnungen und Träume – sie kehrte nie wieder. Die Sonne bewegte sich kaum in jener Zeit, sie kroch Zentimeter um Zentimeter durchs All wie eine Schnecke. Langsam, ganz langsam – ohne sich darum zu kümmern, ob sie die durchlaufene Strecke je wiederholen würde oder nicht. Am Himmel hingen oft dünne Wolken, nicht gewillt, auch nur den leisesten Nieselregen fallen zu lassen. Die Stimmung war so grau, als hätte die Welt alle übrigen Farben verloren. Die alten Leute erzählen in ihren Sagen von einem mächtigen Gott namens Kala – Batara Kala. Er sei es, der alles immer weiter vom Ausgangspunkt wegtreibe, unaufhaltsam, in eine Richtung, die niemand vorausahnen könne. Auch ich, der wie andere Menschen der Zukunft blind gegenüberstand, konnte nur hoffen, sie einmal zu kennen. Ach, wo wir nicht einmal die Vergangenheit kennen! Vor dem Menschen, so heißt es, liegt nichts als eine Strecke, begrenzt durch den Horizont. Sowie man sie begeht, rückt der Horizont weiter weg. Die Entfernung bleibt – auf ewig – bestehen. Und der Horizont in der Ferne ebenfalls – ewig. Keine Romantik war stark genug, sie zu bezwingen und zu ergreifen – die ewige Distanz und den ewigen Horizont. Batara Kala hatte Annelies über weite Strecken geführt, mich selber auch, aber über andere Strecken, die immer weiter auseinanderführten, immer weiter ins Ungewisse. Der stets wachsende Abstand ließ mich erkennen: Sie war nicht einfach ein zerbrechliches Püppchen. Wer so tief lieben konnte, war keine Puppe. Wahrscheinlich war sie überhaupt die einzige Frau, die mich aufrichtig geliebt hatte. Und je weiter Batara Kala sie von mir wegtrieb, desto deutlicher fühlte ich, dass auch ich sie wirklich liebte. Wie alles andere hat auch die Liebe einen Schatten. Und der Schatten der Liebe heißt Schmerz. Es gibt nichts ohne Schatten, außer dem Licht selbst … Licht und Schatten werden von Batara Kala unweigerlich immer weiter fortgetrieben. Nichts kann zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren. Möglicherweise ist dieser mächtige Gott das, was die Holländer de tands des tijds – den Zahn der Zeit – nennen. Er macht Scharfes stumpf, Stumpfes scharf, Kleines groß und Großes klein. Er drängt alles auf den Horizont zu, der selber immer weiter wegrückt, ohne je greifbar zu sein. Der Vernichtung entgegen. Der Vernichtung, die Wiedergeburt bewirkt. Ich weiß nicht recht, ob das ein einigermaßen passender Anfang ist oder nicht. Aber alles muss ja irgendeinen Anfang haben. Und das hier ist nun also der Anfang meiner Aufzeichnungen. Drei Tage lang durften Mama und ich das Haus nicht verlassen. Auch keine Gäste empfangen. Dann ritt ein Sekaut vor. Ich blieb im Zimmer. Mama empfing ihn, und es dauerte nicht lange, da hatten sie eine Auseinandersetzung auf Malaiisch. Mama rief mich. Die beiden standen sich gegenüber. Als Mama mich kommen sah, zeigte sie auf ein Blatt Papier auf dem Tisch: »Minke, der Tuan Sekaut meint, wir stünden nicht unter Hausarrest. Dabei dürfen wir seit mehr als einer Woche nicht aus dem Haus.« »Ja, jetzt haben Sie es schwarz auf weiß, dass die beiden Bewohner dieses Hauses frei aus und ein gehen können«, erklärte der Sekaut. »Sie meinen also, weil jetzt dieser Wisch kommt, hätten wir bis jetzt nicht unter Hausarrest gestanden?« Mama war seit Tagen überaus reizbar und war bereit, sich mit jedem anzulegen, der im Dienste des Gouvernements stand. Ich hatte keine Lust, mich einzumischen, vor allem deshalb nicht, weil Mama sich dazu hergab, mit hochrotem Kopf zu kreischen und zu zetern. Dem Sekaut blieb nichts anderes übrig, als das Weite zu suchen; er rannte aus dem Haus und schwang sich in den Sattel. »Warum hast du denn nichts gesagt?«, rügte mich Mama. »Getraust du dich nicht?« Sie dämpfte schließlich ihre Stimme und murmelte eher: »Die sind doch darauf angewiesen, dass wir Angst haben, Nak, damit wir uns still halten, wie immer sie auch mit uns Pribumis umspringen.« »Es ist ja ohnehin alles vorbei, Ma.« »Ja, es ist vorbei, und wir haben verloren. Aber sie haben trotzdem gegen ein Prinzip verstoßen. Sie haben uns widerrechtlich unter Hausarrest gehalten. Denk ja nicht, du könntest etwas verteidigen, und gar noch die Gerechtigkeit, wenn dir das Prinzip gleichgültig ist, sei es noch so geringfügig …«  Und sie begann, mich über Prinzipien zu belehren. Darüber hatte ich in der Schule nie etwas gehört und auch nie etwas in Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften gelesen. Innerlich noch zu aufgewühlt, war ich jetzt gerade nicht empfänglich für neue Lehren, wie schön und nützlich sie auch sein mochten. Aber ich hörte ihr trotzdem zu: »Schau, du magst noch so reich sein«, fing sie an, und ich hörte ihr nur halb zu, »du musst dich gegen jeden wehren, der dir dein Eigentum oder auch nur einen Teil davon wegnimmt, und sei es bloß eine Hand voll Steinchen, die unter deinem Fenster liegen. Nicht, weil diese Steine für dich besonders wertvoll sind. Sondern aus Prinzip: Fremdes Eigentum ohne Erlaubnis an sich zu nehmen ist Diebstahl. Es ist nicht richtig, und man muss sich wehren. Mehr noch müssen wir uns gegen unsere Freiheitsberaubung in den letzten paar Tagen wehren.« »Ja, Ma«, antwortete ich in der Hoffnung, sie würde ihren Vortrag dann beenden. Offenbar wollte sie nicht einfach so damit aufhören. Und sie hätte es wohl irgendwem gesagt, wäre nicht gerade ich da gewesen. »Wer sich nicht an Prinzipien hält, der ist offen für alles Schlechte: Der tut Unrecht oder ihm widerfährt Unrecht.« Anscheinend wurde sie sich nun doch bewusst, dass sie zum falschen Zeitpunkt über so etwas sprach. Sie brach unvermittelt ab und wechselte das Thema: »Geh nur raus an die frische Luft, Nak. Du warst zu lange eingesperrt, du siehst richtig mitgenommen aus.« Ich ging in mein früheres Zimmer – nicht in das von Annelies. Ja, ich musste hinaus an die frische Luft. Ich öffnete den Schrank, weil ich mich umziehen wollte. Da kam mir plötzlich Robert Suurhof in den Sinn. In dem Schrank war noch etwas, das ihm gehörte, der goldene Ring mit dem Brillanten. Nach Mamas Dafürhalten war das ein außerordentlich kostspieliges Hochzeitsgeschenk von einem Schulfreund. Der Brillant allein war sicher an die zwei Karat. Nur wer sehr reich war oder jemanden sehr liebte, machte ein solches Geschenk. Mama mochte recht haben – Robert Suurhof hatte ihn wohl als Zeichen seiner Liebe geschenkt. Mit Annelies’ Weggang war es an der Zeit für mich, ihm, das heißt seiner Familie, den Ring zurückzugeben, der uns nicht gehörte. Offenbar hatte Mama nicht zufällig über Prinzipien gesprochen. Nachdem ich mich angekleidet hatte, öffnete ich die Schublade und holte das stählerne Schmuckkästchen von Annelies heraus. Roberts Ring war nicht drin. Ich durchsuchte die Schublade. Er lag lose ganz hinten in einer Ecke. Ich nahm ihn und betrachtete ihn. Nie hatte ich Frauenschmuck besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch vermochte ich die Schönheit dieses klaren, bläulich glitzernden Edelsteins zu bewundern, dessen Facetten sich gegenseitig widerspiegelten und das Licht streuten. Ach, was hatte ich dieses leidige Ding, das meinen Seelenfrieden störte, überhaupt zu bewundern? Ich legte das Schmuckkästchen, das ich zum ersten Mal geöffnet hatte, wieder zurück. Neben dem Kästchen lag ein Briefumschlag. Aus Neugier nahm ich ihn und schaute nach, was er enthielt. Da waren ein Sparbüchlein von der Bank Escompto, eine Anzahl Lohnempfangsbescheinigungen vom Betrieb und zwei Briefe von Robert Suurhof. Die Umschläge waren geöffnet! Ich unterdrückte meinen Wunsch, sie herauszunehmen und zu lesen. Das stand mir nicht zu, sagte meine innere Stimme. Sie hatte die Briefe erhalten, bevor sie meine Frau wurde. Bevor ich das Zimmer verließ, blieb ich zögernd an der Tür stehen. Ich überlegte, was ich wohl vergessen hatte. Ja, irgendetwas fehlte. Sonst las ich immer die Zeitungen, bevor ich das Haus verließ. Seit längerer Zeit schon hatte ich keine mehr gelesen. Ich kehrte an den Schreibtisch zurück, setzte mich und begann im Stapel der eingegangenen Post zu wühlen. Aber ich hatte keine Lust zu lesen. Warum war ich so gleichgültig geworden? Ich zwang mich dazu, die Zeitung zu lesen. Umsonst. Ich sortierte die Briefe heraus und betrachtete einen nach dem anderen: von meiner Mutter, von meinem Bruder, von … Robert Suurhof an Annelies. Ich kochte innerlich, und meine Eifersucht erwachte … Dann Briefe von Sarah de la Croix, von Magda Peters, von Robert Suurhof an … so eine Frechheit! Der überschüttete meine Frau mit Briefen … Von Miriam de la Croix, von … schon wieder einer von Robert Suurhof an Annelies. Meine Hände und Augen gingen die Briefe immer schneller durch. Es waren im Ganzen elf Briefe von Suurhof. Sie schufen einen lavaspuckenden Vulkan in meinem Herzen. Dieser verrückte Kerl! Was für ein gemeiner Schuft! Ich nahm einen Brief, riss den Umschlag auf und las: »Juffrouw Annelies Mellema, Göttin meiner Träume …« Ich fuhr nicht fort. Wie ein Irrer stürzte ich aus dem Zimmer, rannte nach hinten und...


Schneebeli, Brigitte
Brigitte Schneebeli lebt als freie Lektorin, Dolmetscherin und Übersetzerin aus dem Indonesischen in der Schweiz.

Siebert, Rüdiger
Rüdiger Siebert, geboren 1944 in Chemnitz, wurde als Journalist und Reiseschriftsteller – vor allem mit Reportagen aus den Ländern Südostasiens – bekannt. Zudem war er über dreißig Jahre lang Redakteur bei der Deutschen Welle. Rüdiger Siebert starb 2009 in Kambodscha.

Toer, Pramoedya Ananta
Pramoedya Ananta Toer, geboren 1925 in Blora auf Java, ist der bedeutendste indonesische Schriftsteller. Während der Befreiungsbewegung gegen die holländische Kolonialherrschaft in Indonesien wurde er verhaftet. Im Gefängnis begann er zu schreiben. Im Zentrum von Toers Werk steht eine Romanreihe über die Anfänge des indonesischen Nationalismus, die 1981 verboten wurde. Der Autor stand viele Jahre unter Hausarrest. Er starb 2006 in Jakarta.



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