Title Secrets: Das Gesicht einer Fremden
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95576-617-7
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-95576-617-7
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer bin ich? Diese Frage stellt sich Deborah jeden Tag, seit sie bei einem Unfall ihr Gedächtnis verlor. Ist sie wirklich die Frau des Mannes, der ihr tagsüber so fremd und nachts so vertraut ist? Oder hat der Horrorschriftsteller Nicholas Steele seine Ehefrau umgebracht - und Deborah liebt einen Mann, der Blut an den Händen hat?
Fünfzehn Jahre lang arbeitete Elise Title als Psychotherapeutin in einem Gefängnis in Massachusetts, bevor sie 1985 ihren ersten Liebesroman schrieb - als Ausgleich. Über vierzig weitere folgten. Der internationale Durchbruch kam für sie, als sie sich wieder der dunklen, gefährlichen Seite von Gefühlen zuwandte und einen Thriller verfasste. Elise Title lebt mit ihrem Mann, einem Psychiater, in Neu England.
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1. KAPITEL
Alles begann an dem Tag, als ich erfuhr, dass ich Deborah Steele war.
An jenem Morgen erwachte ich sehr zeitig, bei Tagesanbruch. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich sonst immer bis mittags schlief. Zumindest war das in den letzten zwei Monaten so gewesen. Davor … nun, das war eine andere Geschichte.
Ich weiß noch, dass ich verängstigt war und mich nicht richtig zurechtfand. Draußen donnerte es, und ich stieß einen erstickten Schreckenslaut aus. Ich hasste Gewitter.
Blitze zuckten, und das Gefühl von Panik und Hilflosigkeit drohte mich zu überwältigen. Ich zog mir das Kissen über den Kopf, um nichts mehr hören und sehen zu müssen, und krümmte mich zusammen, als wehrte ich mich …
Ja, wogegen? Genau das war mein Problem. Wie Dr. Royce mir in den vergangenen beiden Monaten immer wieder erklärt hatte, weigerte ich mich, mich zu erinnern. Wahrscheinlich hatte er recht. Ich hatte Angst. Jeder hat ab und zu einmal Angst, doch diese Angst lebte in mir wie ein bösartiger Virus, gegen den es kein Heilmittel gab.
Tränen brannten mir in den Augen, und zu meiner Furcht gesellten sich Frustration und Verzweiflung. Inständig betete ich darum, dass dieses Gefühl vergehen und das Gewitter doch noch ausbleiben möge. Am meisten wünschte ich mir jedoch, dass mich endlich jemand finden würde, im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich kam mir grenzenlos verloren vor.
Bis zum Vormittag war es mir gelungen, mich einigermaßen zusammenzunehmen. Der Himmel war grau und bewölkt, doch es regnete nicht. Vielleicht kam das Gewitter wirklich nicht. Vielleicht gelang es mir, den Tag zu überstehen, ohne die Nerven zu verlieren. Ein bescheidener Wunsch, ich hätte mehr, viel mehr verlangen können. Aber ich arbeitete hart an mir, damit ich mir nicht Dinge ersehnte, die ich ohnehin nicht bekommen würde. Umso heftiger warf mich deshalb das aus der Bahn, was sich später an jenem Tag noch ereignen sollte …
Ich hatte meine übliche Ecke im Saal für Beschäftigungstherapie bezogen und die Staffelei an dem großen nach Norden gehenden Fenster aufgestellt. Ich malte, wie immer am Nachmittag in der Zeit zwischen der Gruppentherapie und dem Abendessen. Es befanden sich noch andere Patienten im Raum; manche von ihnen plauderten miteinander, während sie töpferten oder Körbe flochten. Ich zog es vor, für mich zu bleiben. Ich hatte generell nicht viel Kontakt zu den anderen, doch diese beiden kostbaren Stunden sollten stets nur mir allein gehören. Zwei Stunden, in denen ich die Klinik, die zähen, immer wiederkehrenden Fragen, die nicht enden wollende Frustration, die Einsamkeit und das schreckliche Gefühl der Verlorenheit vergessen konnte.
Die Malerei war meine ganze Freude. Ich liebte den Geruch der Ölfarben, ja, sogar den des Terpentins. Wenn ich malte, und nur dann, konnte ich mich irgendwie mit mir selbst identifizieren. Während sich die anderen Stunden des Tages endlos hinzuziehen schienen, vergingen diese beiden jedes Mal wie im Flug. Ich wusste, dass sie wieder einmal zu Ende waren, als ich die vertraute Stimme hinter mir vernahm.
“Das ist sehr gut.”
Die wohlklingende, anerkennende Stimme gehörte John Harris, meinem Kunsttherapeuten. Der schlaksige junge Mann mit dem feuerroten Haarschopf stand jetzt rechts neben mir und betrachtete nachdenklich mein Bild. Ich kannte diesen Blick inzwischen nur zu gut. “Ja, aber darum geht es nicht, stimmt's?”
Er lächelte gutmütig. “Nicht ausschließlich.”
Ich antwortete nicht, sondern legte den Pinsel hin und begutachtete nun ebenfalls mein Gemälde – ein klarer blauer Himmel mit weißen Wolken über einer Gebirgslandschaft. Wie auf jedem meiner Bilder war auch auf diesem eine einzige menschliche Gestalt zu sehen; eine junge Frau mit wehendem blonden Haar. Diese hier stand auf dem Gipfel des Berges und sah nach Westen, der Wind blies ihr in den Rücken. Nein, sie sah nicht einfach nur in diese Richtung, sie suchte etwas. Das wusste ich genauso gut wie John, obwohl die Frau wie auf allen meinen Bildern kein Gesicht hatte.
“Erzählen Sie mir von ihr”, bat John mich freundlich. Die Klinikatmosphäre, die Fragen hatten mich wieder eingeholt.
“Ständig verlangen Sie das von mir. Warum?”
Ihm war mein gereizter Unterton nicht entgangen. “Es ist das Wetter, nicht wahr?”
“Wahrscheinlich”, gab ich unverbindlich zurück.
Er zeigte wieder auf die Frauengestalt. “Mag sie die Berge?”
“Ich weiß es nicht genau. Das heißt, sie selbst ist sich da wohl nicht so sicher.”
“Was würde Ihrer Meinung nach wohl geschehen”, fuhr er mit dieser verhaltenen Stimme fort, bei der mir immer ziemlich unbehaglich zumute wurde, “wenn Sie ihr Ihr Gesicht geben würden?”
Instinktiv hob ich die Hand und berührte meine Wange. “Aber … das ist doch gar nicht mein wahres Gesicht.”
Plötzlich sah ich wieder etwas vor mir, das aussah wie ein Strang roter Farbe aus einer der Farbtuben. Nur – es war keine Farbe. Es war Blut. Rubinrotes Blut. Mein Blut. Heiß, feucht, metallisch riechend. Mit dieser Vision kam der Schock zurück. Der erste Blick in den Krankenhausspiegel, ehe mich der Schönheitschirurg wieder zusammengeflickt hatte.
John warf mir einen mitfühlenden Blick zu. “Es ist sehr gut möglich, dass Sie gar nicht so viel anders aussehen als vorher.”
Hinter meinen Schläfen begann es heftig zu pochen. “Aber das kann ich nicht beurteilen, oder?”, fuhr ich ihn an. “Denn ich habe nicht die blasseste Ahnung, wie ich vorher ausgesehen habe.” Ein Damm schien in mir zu brechen. “Warum habe ich überhaupt ein Gesicht, wenn ich innerlich doch völlig gesichtslos bin? Und wenn das hier wirklich mein Gesicht ist, warum ist dann niemand erschienen, der mich identifizieren konnte? Über eine Woche lang habe ich mein Foto in der auflagenstärksten Zeitung New Yorks veröffentlichen lassen, doch niemand hat mich erkannt!”
“Katherine …”
Verzweiflung überwältigte mich. “Nicht einmal dieser Name ist echt, genauso wenig wie alles andere an mir!”
John wirkte bestürzt wegen meines Ausbruchs, und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Schließlich war er nicht schuld an meiner Lage.
“Es tut mir leid. Es ist wohl wirklich das Wetter. Ich bin sehr früh aufgewacht und war schon den ganzen Tag etwas überdreht. Ich wünschte …”
“Was denn?”
“Die Polizei hätte mich in jener Regennacht einfach verletzt auf dem Bürgersteig liegen lassen.”
Ich konnte den Regen wieder hören, unnatürlich laut prasselnd. Das war meine einzige Erinnerung an die Nacht damals. Das und der Moment, als ich nach Stunden in der Notaufnahme des New York General Hospitals wieder zu mir gekommen war. Den jungen Polizisten, der mich besorgt beobachtet hatte, hätte ich zeichnen können, so deutlich sah ich ihn noch vor mir.
“Sie müssen sich kräftig gewehrt haben”, hatte er festgestellt.
Ich selbst hatte Schwierigkeiten gehabt zu sprechen, denn mein Kopf war fast völlig einbandagiert. Später teilte man mir mit, ich hätte eine Gehirnerschütterung, eine gebrochene Nase und einen gebrochenen Kiefer. In dem Moment jedoch machte ich mir weniger Gedanken wegen meines verwüsteten Gesichts. Panik ergriff mich. “Hat man mich …?”
Ehe ich das Wort “vergewaltigt” noch sagen konnte, schüttelte er den Kopf. Ich war grenzenlos erleichtert, aber nicht lange. Denn dann hatte er angefangen, mir Fragen zu stellen, und zu meinem Entsetzen war ich nicht in der Lage gewesen, sie zu beantworten. Ich wusste nicht nur nichts über den Überfall zu sagen, ich hatte sogar meinen Namen vergessen. Ich erinnerte mich an nichts mehr. Und so tappte die Polizei im Dunkeln, denn ich hatte keine Papiere bei mir gehabt, als man mich in der finsteren Seitenstraße in New York gefunden hatte.
Die Ärzte versuchten mir einzureden, dass mein Erinnerungsvermögen allmählich zurückkehren würde, sobald der Schock abklang, aber das war nicht geschehen. Ich unterzog mich einer plastischen Operation, danach wurde ich in die psychiatrische Abteilung der Klinik verlegt.
“Katherine …”
Johns Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. Ich sah, dass Dr. Royce jetzt neben ihm stand. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich meinen Psychiater nicht hatte kommen hören. Er betrachtete gerade mein Bild.
“Berge”, murmelte er. “Sehr aufschlussreich.”
Bei dieser Bemerkung bekam ich auf einmal eine Gänsehaut. Das war seltsam, denn sonst hatte der Psychiater eine ganz andere Wirkung auf mich. Ich hatte eine gewisse Schwärmerei für den gut aussehenden, freundlichen Arzt mit der sanften Stimme entwickelt, und manchmal, wenn ich besonders deprimiert war, malte ich mir aus, dass er auch mir ein besonderes Gefühl entgegenbrachte. Häufig fragte ich mich sogar, ob diese Idee wirklich nur meiner Fantasie entsprang. So auch jetzt wieder. Vielleicht lag es an der Zärtlichkeit und Anteilnahme, die ich im Blick seiner warmen braunen Augen zu entdecken glaubte. Doch diesmal freute ich mich nicht darüber, sondern geriet eher in Alarmbereitschaft. Irgendetwas stimmte nicht.
“Was ist?”, flüsterte ich kaum hörbar.
“Wir unterhalten uns in meinem Büro darüber”, erwiderte er beschwichtigend.
Kaum waren wir allein, sah ich ihn ungeduldig an. “Bitte, sagen Sie mir, was los ist!”
Er nickte und zeigte auf den bequemen Sessel, in dem ich in den letzten zwei Monaten jeden zweiten Tag eine Stunde lang zu Therapiegesprächen gesessen hatte.
Ich lächelte unsicher. “Ich habe plötzlich ganz weiche Knie!”
Dr. Royce nahm...