E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Tiller Halt
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-29912-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-29912-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist Heiligabend. Elisabet und Sakarias haben nachmittags das Grab ihres Sohnes besucht, der mit 12 bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Sie haben eine Kerze angezündet, den Schnee vom Grabstein gefegt und wollen den Abend getrennt verbringen, denn sie sind schon lange kein Paar mehr. Doch es kommt anders. Sie gehen gemeinsam in das Haus, in dem sie als Familie gewohnt haben. Elisabet setzt sich ans Klavier und spielt ein Stück, das ihr Sohn oft geübt hat, hängt dabei Bildern und Gedanken nach. Es wird für die Eltern ein ganz besonderer Abend, erfüllt von Melancholie und Erinnerungen. Neben der Trauer erleben sie jedoch gleichzeitig auch ein neues Gefühl von Zusammengehörigkeit und Halt. Die Anwesenheit des Sohnes ist für beide spürbar. Carl Frode Tiller schreibt kunstvoll und menschlich über Leben und Tod und die Verbundenheit mit geliebten Menschen.
Carl Frode Tiller, geboren 1970, ist ein norwegischer Autor, Historiker, Musiker und Komponist, der seine Bücher auf Nynorsk schreibt. Er gilt als Meister der psychologischen Zwischentöne. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und in 16 Sprachen übersetzt. 'Wer du heute bist' ist nach 'Kennen Sie diesen Mann?' der zweite Teil der Trilogie um den gedächtnislosen David.
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2
Danke, sagte Sakarias, als ich fertig war und die Hände von den Tasten in den Schoß hatte gleiten lassen.
Ich sah ihn an und lächelte, und er lächelte zurück.
Wollen wir schlafen gehen?, fragte ich.
Er sagte nichts, nickte nur, wir standen beide auf, bliesen die Kerzen aus und räumten das Wohnzimmer ein bisschen auf, dann umarmten wir uns, spontan und schweigend, einen Moment standen wir da, in fester Umarmung, schließlich gingen wir ins Schlafzimmer, zogen uns aus und legten uns ins Bett, wir waren müde und erschöpft, und wir versuchten nicht einmal, miteinander zu schlafen, unsere Hände suchten einander und drückten zweimal zaghaft zu, während wir uns eine gute Nacht wünschten und uns gegenseitig für den schönen Abend bedankten, und dann schwiegen wir, lagen einfach nur da, jeder unter seiner Decke, es war kalt und dunkel, der kaputte Spülkasten in der Toilette rauschte und gluckerte, und bald ging das Rauschen in das Gluckern von Kaffee über, der in meinen Körper strömte, ich hielt den Knopf der stahlgrauen Kanne gedrückt, bis der Becher voll war, dann stellte ich Mamas Becher darunter und füllte auch ihn, aber was war das, was passierte hier, wie konnte ich neben Elisabet im Bett liegen und zugleich beobachten, wie ich mit Mama im Café war, ich war doch noch gar nicht eingeschlafen, ich war hellwach, also träumte ich nicht, was war es dann, es schien, als hätte die Dunkelheit im Schlafzimmer einen Riss bekommen, direkt unter der Decke hatte sich ein Spalt aufgetan, und durch diesen Spalt sah ich mich selbst für den Kaffee bezahlen, die Becher vom Tresen nehmen und zu unserem Tisch gehen, und der Spalt begann zu wachsen, er wurde größer, er weitete sich so sehr aus, dass das Café mehr und mehr zum Vorschein kam, alles wuchs mir entgegen, breitete sich um mich aus, der Kronleuchter an der Decke, die schachbrettgemusterten Fliesen am Boden mit deutlichen Streifen vom Mopp und die kleinen braunen Holztische mit brennenden Teelichtern darauf, alles kam näher, als wäre das Café ein Fluss, der über die Ufer tritt, als triebe das Café auf mich zu, hinein ins Schlafzimmer, mit Stühlen und Tischen und Gästen, die überall herumschwammen, was passierte hier, das ganze Café entfaltete sich um mich herum, und dort am Fenstertisch ganz hinten im Raum saß Mama.
Danke, sagte sie, als ich den Becher vor sie hinstellte.
Bitte, sagte ich und setzte mich ihr gegenüber.
Sie trank einen Schluck. Mir fiel auf, dass die Altersflecken an ihren Händen und Unterarmen größer geworden waren, in schnörkeligen Mustern, die an Landkarten erinnerten, verteilten sie sich über die Haut.
Und wie geht’s ihr?, fragte sie. Elisabet, meine ich.
Ich wiegte den Kopf bedächtig hin und her, gab ihr zu verstehen, dass es Elisabet nicht so gut ging, und sie lächelte sanft und nickte.
Ich hoffe nur, du schaffst es mal, auf den Tisch zu hauen, sagte sie.
Ich sah sie an, ohne ein Wort zu sagen, merkte, wie sich mein Mund von selbst öffnete.
Ja, kein vollständiger Rückzug, sagte sie. Ich meine nur, dass du es schaffst, in dem Ganzen auf dich selbst aufzupassen.
Ich habe doch gesagt, dass ich das tue, sagte ich.
Sie nickte, dachte sich aber ihren Teil, das sah ich an ihrem Blick, er war ernst, fast traurig. Sie schaute mir direkt in die Augen.
Das tue ich wirklich, sagte ich.
Sie nickte erneut.
Ja, sagte sie leise.
Ich trank einen Schluck Kaffee.
Ich meine … , sagte ich und stellte den Becher wieder auf die Untertasse.
Reg dich nicht auf, Sakarias, sagte sie.
Ich rege mich nicht auf, sagte ich. Aber du kannst doch nicht erwarten, dass sie es schon verwunden hat, ihr Kind verloren zu haben. Das kann niemand! Ich auch nicht!
Sie schluckte.
Nein, sagte sie.
Das verstehst du doch?
Natürlich verstehe ich das, sagte sie leise.
Ich schloss die Augen und seufzte.
Komm schon, Mama, sagte ich. Ich machte die Augen auf und sah sie an. Hör auf mit diesen Doppelbotschaften! Bitte!
Ihr war schon klar, was ich meinte, aber sie mimte die Ahnungslose, zog die Augenbrauen hoch.
Du behauptest zu verstehen, aber dein Blick und dein Gesichtsausdruck sagen etwas völlig anderes, sagte ich.
Sie versuchte, ihren verständnislosen Gesichtsausdruck beizubehalten, gab jedoch auf, seufzend schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf, dann lächelte sie mich an.
Entschuldigung, Sakarias, sagte sie. Es ist nur … ich mache mir einfach Sorgen um dich. Manchmal bist du zu gut für diese Welt.
Ich sah sie an, sie behauptet, ich sei zu gut für diese Welt, was sie aber eigentlich meint, ist, ich sei zu gut für Elisabet, sie hatte mir immer zu verstehen gegeben, dass ich etwas Besseres verdiente. Ich schwieg, schloss die Augen und öffnete sie wieder, langsam, beruhigend.
Ich schaffe das, Mama, sagte ich. Wir schaffen es beide.
Sie nickte.
Ich beugte mich vor, aß ein bisschen von dem Nudelsalat und lehnte mich wieder zurück, dort saß ich und bewegte mich vor und zurück, wie ein orthodoxer Jude, der an der Klagemauer betet, und ich betete und betete, denn Klavierspielen war wie Beten, und ich spielte und spielte, bewegte mich vor und zurück, immer wieder, auf dem Stuhl und dem Klavierhocker und dann wieder auf dem Stuhl.
Aber wie geht es denn?, fragte ich.
Sie sah mich an und lächelte das tapfere Lächeln, das sie gern an den Tag legt, wenn ich ihr diese Frage stelle.
Tja, irgendwie muss es ja gehen, sagte sie und wiegte den Kopf hin und her.
Ich nickte.
Manchmal ziehen sich die Tage natürlich schon sehr in die Länge, sagte sie. Aber … das gehört wohl dazu, wenn man alt wird. Sie lachte kurz und traurig.
Ich trank einen Schluck Kaffee.
Du solltest bei der Fitnessgruppe mitmachen, von der du erzählt hast, sagte ich.
Erneut zeigte sie ihr trauriges Lächeln.
Oder?
Sie sah mich an. Fast wirkte sie beleidigt.
Das kann ich nicht mehr, Sakarias, sagte sie. Das weißt du doch. Meine Knie machen nicht länger mit.
Okay, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf und schnaubte durch die Nase, dann drehte sie sich nach rechts und schaute aus dem Fenster. Der Wind war aufgefrischt. Rote welke Herbstblätter wirbelten hoch und trieben über den Bürgersteig.
Ich denke immer öfter darüber nach, wieder nach Namsos zu ziehen, sagte sie.
Aha?
Sie nahm den Kaffeebecher in die Hand.
Ja, sagte sie. Sie sagte es schnell und ohne das J im Anlaut, wodurch es schnippisch klang, oder zumindest unzufrieden. Sie trank einen Schluck und stellte den Becher wieder auf die Untertasse, in der Küche sang ein Topf, eine junge Frau am Nachbartisch tippte wie wild auf ihrem Mac herum, und ich lag vollkommen still im Bett und sah, wie ich dort saß und Mama betrachtete, was war das, was passierte hier, es fühlte sich an wie ein Traum, dabei waren meine Augen weit geöffnet, ich träumte also nicht, vielmehr war ich hellwach.
Ich hielt die Hand vor den Mund und räusperte mich.
Ja, ich kann gut verstehen, dass du darüber nachdenkst, sagte ich. Jetzt, wo du allein bist. Und dann ist da natürlich auch noch Judit mit ihrer Familie.
Ich merkte sofort, dass sie das nicht hören wollte, sie hatte sich vermutlich vorgestellt, dass mich ihre Umzugspläne traurig stimmten, dass ich enttäuscht wäre und vielleicht versuchen würde, ihr den Umzug auszureden.
Mit dem Messer schob ich eine der pestoglänzenden Spiralnudeln auf die Gabel.
Aber für wäre es natürlich sehr schade, wenn du wegziehst, sagte ich.
Sie schaute immer noch aus dem Fenster und lächelte, wie man es tut, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass jemand etwas Blödes gesagt hat.
So viel wird sich für euch ja nicht ändern, sagte sie.
Komm schon, Mama, sagte ich.
Sie drehte sich zu mir um.
Was denn?
Du verstehst doch, dass wir dich in der letzten Zeit nicht so oft besuchen konnten.
Natürlich, sagte sie. Habe ich was anderes gesagt?
Ich merkte, dass ich auf diese Spielchen keine Lust mehr hatte, ich war schon vorher genervt gewesen, und es nervte mich noch mehr, wenn sie so drauf war, es war so anstrengend, ich merkte, wie sie mir Energie entzog, aber ich schwieg, wollte nichts sagen, es würde nichts bringen, am besten schluckte man es hinunter. Ich nahm die Kaffeetasse und trank einen Schluck, warf zugleich einen Blick auf das tippende Mädchen am Nachbartisch, die langen dünnen Finger hüpften über die Tastatur und die Klaviertasten und wieder über die Tastatur, ich stellte den Kaffeebecher auf die Untertasse, nahm die Gabel in die eine Hand, das Messer in die andere, und jetzt hielt ich plötzlich ein Taschenmesser in der Hand, ein rot-weißes Messer der Schweizer Armee mit Schere und Flaschenöffner und vielen verschiedenen Klingen, wo kommt das denn her, dachte ich, als ich die größte Klinge mit dem Nagel meines Zeigefingers herauszog, ich legte es auf den Rand einer Pappschachtel, die vor mir stand, dann begann ich, die Pappe und die Nudeln damit zu schneiden.
Entschuldige, Sakarias, sagte Mama, sie schloss die Augen und seufzte, ließ die Schultern etwas weiter sinken, so verharrte sie einen Moment, dann öffnete sie die Augen und schüttelte den Kopf. Es ist wirklich nicht meine Absicht … ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich reiße mich jetzt zusammen, sagte sie.
Alles gut, sagte ich. Lächelte sie an.
Ich meine es...