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E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Tiller Der Beginn

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-23115-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-641-23115-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, gelebt werden muss es vorwärts, heißt es bei Søren Kierkegaard. Terje liegt nach einem Suizidversuch im Sterben. Er lässt sein verpfuschtes Leben Revue passieren. Auf der Suche nach Antworten gräbt er sich immer tiefer in die schmerzhafte Vergangenheit, soghaft getrieben von den blinden Flecken des eigenen Lebens: der depressiven, alkoholkranken Mutter, dem abwesenden Vater, dem Abrutschen in Ticks und Gewalt als junger Mann, und dem quälenden Gefühl des Verlassenseins, das ihn immer bestimmt hat. Momente des Friedens fand er nur in der Natur. Ruhelos stellt Terje sich im Krankenhaus seinem Leben vom Ende bis zum Anfang, vom Tod bis zur Kindheit. Ein bewegendes Buch, erzählt wie im Rausch - über endgültige Entscheidungen, Vorherbestimmung und die Freiheit des Einzelnen.

Carl Frode Tiller, geboren 1970, ist ein norwegischer Autor, Historiker, Musiker und Komponist, der seine Bücher auf Nynorsk schreibt. Er gilt als Meister der psychologischen Zwischentöne. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und in 16 Sprachen übersetzt. »Wer du heute bist« ist nach »Kennen Sie diesen Mann?« der zweite Teil der Trilogie um den gedächtnislosen David.
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Zwei Tage vorher


»Wie heftig es schneit«, sagte Mama.

Ich drehte mich um, sie saß da und starrte aus dem Küchenfenster. Sie hatte Spiegeleier gegessen, und auf dem Teller vor ihr waren noch Reste von Eigelb und Ketchup zu sehen, ich sagte nichts.

»Kann die Garage fast nicht sehen, so wie es runterkommt«, sagte sie.

Ich stellte den Ton am Fernseher lauter. Genug, damit es glaubwürdig wirkte, wenn ich sagte, ich hätte sie nicht gehört, aber nicht so laut, dass sie mir vorwerfen konnte, ich wolle sie übertönen.

»Sieht auch nicht so aus, als würde es so schnell wieder aufhören«, sagte sie.

Ich schloss langsam die Augen.

»Ich will mich erst mal ein bisschen ausruhen«, sagte ich.

»Was?«, sagte sie.

»Ich schippe noch Schnee «, sagte ich. »Aber ich habe heute Nacht nur wenig geschlafen. Außerdem bin ich gerade von der Arbeit gekommen, ich habe den ganzen Tag Forschungsberichte gelesen, ich bin müde.«

»Hauptsache, es wird gemacht«, sagte sie.

Ich stellte den Ton noch etwas lauter, gerade rechtzeitig, denn gleich darauf sagte sie noch etwas. Ich nahm den Blick nicht vom Bildschirm. Sie wiederholte nicht, was sie gesagt hatte, sie stand auf, nahm Teller und Glas und ging zur Spüle, ich hörte, wie sie das Wasser aufdrehte und den Teller abwusch. Ich wartete, bis sie wieder ins Wohnzimmer kam, dann stand ich auf und ging in die Küche. Ich hatte Hunger und nahm die Eierschachtel und die Butter aus dem Kühlschrank. Ich ging zum Herd, gab ein Stückchen Butter in die Pfanne, drehte die Platte auf und klappte den Deckel der Eierschachtel hoch.

»Könntest du bitte ein paar Eier übrig lassen?«, fragte Mama. Sie kam wieder in die Küche. Sie griff nach der Thermoskanne und schenkte Kaffee in den grünen Becher. »Ich habe vor, später Waffeln zu backen, wenn Reidar kommt«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme war auffallend freundlich, vermutlich wusste sie, dass nur noch zwei Eier in der Schachtel waren. Ich sagte nichts, ich stellte die Platte aus, klappte die Eierschachtel zu, nahm das Butterpäckchen und räumte beides wieder in den Kühlschrank.

»Kannst du dir nicht einfach ein Käsebrot machen?«, fragte sie.

»Ist nicht so wichtig«, sagte ich. Die Marmeladengläser klirrten leise, als ich die Kühlschranktür schloss. Ich ging in den Flur.

»Na, dann nimm dir halt die Eier«, sagte sie.

Ich drehte mich zu ihr um.

»Sicher?«, fragte ich.

Sie hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass ich sie beim Wort nehmen würde, sie sah ziemlich verwirrt aus.

»Dann kann ich halt keine Waffeln backen«, sagte sie. Sie führte den Kaffeebecher zum Mund.

»Also soll ich sie nicht nehmen?«, sagte ich.

Sie seufzte, während sie den Kaffeebecher wieder sinken ließ, ohne daraus getrunken zu haben.

»Mein Gott, nimm die Eier«, sagte sie. »Ich sage ja nur, dass ich dann nichts zum Kaffee servieren kann.«

Ich lachte und schüttelte den Kopf.

»Was ist daran so lustig?«, fragte sie.

»Back du nur deine Waffeln, Mama«, sagte ich.

»Ich verstehe nicht, was du hast«, sagte sie. »Wir sind einfach nur gute Freunde.«

Ich verstand nicht sofort, was sie meinte, aber dann begriff ich. Ich fing an zu lachen, es klang aber nicht so echt, wie ich gewollt hatte.

»Sorry, aber ich bin nicht eifersüchtig, Mama«, sagte ich.

Das war ihr wohl etwas zu direkt, jedenfalls starrte sie mich zornig an. Ihre Augen erinnerten mich an die eines kleinen Mädchens, das ich einmal auf dem Cover eines Horrorfilms gesehen hatte, ich war richtig beeindruckt, sie sagte nichts, drehte sich nur um und ging ins Wohnzimmer. Ich ging in die Küche und nahm eine Banane aus der Schale, die auf der Arbeitsplatte stand. Ich brach die Spitze ab, riss die Schale in drei breite Streifen und biss hinein. Nach einer Weile hörte ich Mama heulen. Erst ein Schluchzer, dann noch einer. Ich versuchte zu grinsen und den Kopf zu schütteln, aber es half nichts, sie tat mir trotzdem leid. Ich schluckte den letzten Bissen hinunter, öffnete den Schrank unter der Spüle und warf die Schale in den Müll. Ich war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer, blieb aber wieder stehen. Ich brachte es nicht über mich, zu ihr hineinzugehen, wusste nicht, was ich sagen sollte, wenn ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde und sie heulte, es war besser, so zu tun, als hätte ich es nicht mitbekommen, zumindest war es leichter.

»Tja«, sagte ich. »Dann will ich mal rausgehen und Schnee schippen.«

Ich wartete noch einen Moment, aber sie sagte nichts. Ich ging in den Flur, zog Jacke und Schuhe an, schnappte mir die neuen Lederhandschuhe, die auf der Hutablage lagen, und ging nach draußen. Ich zog die Handschuhe an, die Kapuze über den Kopf, holte die Schneeschaufel aus dem Schuppen und begann zu schippen. Wegen des Räumfahrzeugs war die Einfahrt wieder völlig vereist, und obwohl der Schnee auf dem Hof leicht und trocken war, brauchte ich länger als sonst. Als ich fertig war und die Schneeschaufel an der Garagenwand abstellte, klingelte mein Handy. Ich ging nicht gern ans Telefon, wenn ich die Nummer nicht kannte, aber es kam vor, dass Marit vom Handy einer ihrer Freundinnen anrief, darum nahm ich ab. Es war nicht Marit, es war ein erwachsener Mann. Er stellte sich nicht vor, und ich erkannte auch die Stimme nicht, aber sein Anruf hatte mit meiner Arbeit zu tun, so viel war klar, und er war wütend.

»Haben Sie heute Nacht auch nur ein Auge zugetan?«, fragte er.

»Wer ist da?«, fragte ich.

»Sie können stolz auf sich sein«, sagte er. »Letztes Jahr hat der letzte Schafbauer aufgegeben. Und vor vier Monaten wurde der Laden dichtgemacht.«

Ich wartete ab. Ich wusste immer noch nicht, wer dran war, aber dann fiel es mir ein, es war der alte Bürgermeister aus Dovre, der mich beim Schlichtungsgespräch vor ein paar Jahren angebrüllt hatte. Er hat den Bericht über das Naturschutzgebiet gelesen, dachte ich, er weiß, dass das Südskandinavische Felsenblümchen verschwunden ist.

»Ich habe jetzt frei«, sagte ich. »Rufen Sie mich während der Arbeitszeit an.«

Ich legte auf, schaltete das Handy aus und steckte es zurück in die Tasche. Eigentlich wollte ich schon reingehen, aber dann streifte ich wieder die Handschuhe über, schnappte mir die Spitzhacke und fing stattdessen an, das Eis vor der Mülltonne aufzuhacken. Ich hatte schon gestreut, es war also nicht nötig, aber ich tat es trotzdem, es war mir ein inneres Bedürfnis. Als ich wieder ins Haus kam, hatte Mama Waffeln gebacken, sie lagen auf dem Backofenrost, der auf dem Küchentisch stand, und waren mit einem rot karierten Geschirrhandtuch abgedeckt, Mama wischte gerade ein paar Teigflecken vom Tisch. Sie lächelte mich an, wollte mir wohl zu verstehen geben, dass sie mir verziehen hatte.

»Bist du schon fertig?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich, zog einen Handschuh aus.

»Jesses«, sagte sie.

Mir war schon klar, dass sie nicht so beeindruckt war, wie sie tat, ich freute mich aber trotzdem. Ich schenkte ihr ein Lächeln, als ich den anderen Handschuh abstreifte, dann ging ich zur Garderobe und hängte meine Jacke auf.

»Hast du auch das Eis in der Einfahrt weggemacht?«, fragte sie.

»Na klar«, sagte ich.

»Sehr schön«, sagte sie. »Bald kommt bestimmt wieder der Schneepflug vorbei, dann kann man nicht mehr am Straßenrand parken.«

Sofort bereute ich es, den Hof geräumt zu haben. Mir war nicht klar gewesen, dass ich mich wegen Reidar so beeilen sollte, aber jetzt kapierte ich es. Ich fühlte mich benutzt, und die leise Freude, die ich gerade verspürt hatte, war verschwunden. Ich zog die Schuhe aus und stellte sie ins Schuhregal.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

»Am Herd ist eine Uhr«, sagte ich.

Sie bemerkte meinen aggressiven Ton nicht. Sie warf einen Blick auf den Herd und wrang den Lappen aus.

»Was, so spät schon?«, sagte sie.

»Kein Stress, ich geh gleich nach unten«, sagte ich.

»Warum denn?«, fragte sie.

»Ich kann also bleiben?«, fragte ich.

Sie zögerte.

»Ja, natürlich«, sagte sie, lächelte nervös. »Aber wenn du dich hinlegen willst, gehst du wahrscheinlich besser in dein Zimmer. Dort hast du deine Ruhe.«

»Und wenn ich mich nicht hinlegen will?«, fragte ich.

Sie hielt meinem Blick einen Moment lang stand, dann drehte sie sich wortlos um. Ging zur Kaffeemaschine. Sie hatte schon Wasser in den Behälter gefüllt und Kaffeepulver in den Filter gegeben. Sie drückte auf den Knopf und ging ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Ich wollte gar nicht hier sein, wenn Reidar kam, aber Mama sollte das Gegenteil glauben, darum machte ich den Fernseher aus, legte mich aufs Sofa und schloss die Augen. Wenig später schaltete Mama das Radio ein. Als Reaktion darauf gab ich vor zu schlafen. Ich atmete schwer und gab das ein oder andere Schnarchen von mir, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich tatsächlich kurz vorm Einschlafen war, darum machte ich die Augen auf und legte den Ellbogen unter den Kopf. Mama kam mit zwei Tassen, zwei Tellern und einem Bastkörbchen voll Waffeln herein. Sie stellte alles auf den Wohnzimmertisch.

Ich sah sie an und grinste.

»Und wer bekommt nichts?«, fragte ich.

Sie starrte mich wütend an und sog die Luft durch die Nase ein. Sie sagte nichts. Drehte sich um, ging in die Küche und kam mit einer weiteren Tasse und einem Teller zurück. Sie bewegte sich schneller, als ich es seit Jahren gesehen hatte.

»Entspann dich«, sagte ich. »Ich will gar nicht mitessen.«

Sie stellte Teller und Tasse vor mir auf den Tisch.

»Natürlich sollst du auch was haben«, sagte sie. Sie drehte sich um und ging wieder in die Küche.

»Er ist verheiratet, Mama«,...


Tiller, Carl Frode
Carl Frode Tiller, geboren 1970, ist ein norwegischer Autor, Historiker, Musiker und Komponist, der seine Bücher auf Nynorsk schreibt. Er gilt als Meister der psychologischen Zwischentöne. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und in 16 Sprachen übersetzt. »Wer du heute bist« ist nach »Kennen Sie diesen Mann?« der zweite Teil der Trilogie um den gedächtnislosen David.

Kronenberger, Ina
Ina Kronenberger lebt in Bremen, wo sie Belletristik sowie Kinder- und Jugendbücher aus den Sprachen Französisch und Norwegisch übersetzt. Von ihr übersetzte Autor*innen aus dem Französischen sind beispielsweise Anna Gavalda, Vincent Zabus/Nicoby und Olivier Tallec, aus dem Norwegischen Per Petterson, Nina Lykke und Anna Fiske. Für ihre Übersetzung des Bilderbuchs »Garmans Sommer« von Stian Hole wurde sie 2010 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und 2012 auf die IBBY Ehrenliste aufgenommen.



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