E-Book, Deutsch, 165 Seiten
Thurnherr Angewandte Ethik zur Einführung
2. erweiterte Auflage 2024
ISBN: 978-3-96060-125-8
Verlag: Junius
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 165 Seiten
ISBN: 978-3-96060-125-8
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Urs Thurnherr war bis April 2022 Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
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3. Wie sind angewandte Ethiken zu entwerfen?
Die Aufgabe der angewandten Ethik besteht also darin, normative Prinzipien und Regeln auf problematische Falltypen oder Einzelfälle anzuwenden, um diese moralisch zu beurteilen bzw. die entsprechenden Handlungsräume moralisch zu gestalten. Die Anwendung beinhaltet zwei miteinander verschränkte Handlungen. Zum einen müssen die Prinzipien und Regeln gefunden oder bestimmt werden, die zu den Falltypen und einzelnen Fällen passen; und zum anderen müssen nicht nur jene Prinzipien oder Regeln explizit begründet werden, sondern auch die ganze Reihe der vermittelnden Brückenelemente, welche die Prinzipien mit einem vorliegenden Fall verknüpfen.
Die Bestimmung der Regeln nun erfordert Urteilskraft. In einer viel zitierten Definition differenziert Kant zwischen zwei Formen der Urteilskraft: »Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumirt, […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß reflectirend.«33 Von dieser Begriffsbestimmung aus betrachtet scheint zunächst klar zu sein, dass die Anwendung des Moralprinzips auf abgegrenzte Themenfelder nur eine Angelegenheit der bestimmenden Urteilskraft sein kann.34 Das Modell, das dabei die Funktion der bestimmenden Urteilskraft am prägnantesten veranschaulicht, stammt aus der Jurisprudenz.35 Ein Richter muss die Tat eines Angeklagten im Lichte der geltenden Gesetze beurteilen. Diese Gesetze liegen in dokumentierter Form vor und an ihrer Gültigkeit kann kein Zweifel bestehen: Sie sind gegeben. Die Aufgabe für den Richter besteht darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die betreffende Tat unter ein spezifisches vorhandenes Gesetz fällt oder nicht. Und genau diese Aufgabe vermag er durch den Gebrauch seiner bestimmenden Urteilskraft zu erfüllen.
Sind bestimmte Regeln und Prinzipien erst einmal fraglos anerkannt, geht es auch im Bereich der angewandten Ethik um eine betreffende Subsumtion von Fällen unter gültige Normen. In diesem Sinne hält etwa Kurt Bayertz fest: »Der Begriff der ›Anwendung‹ und der angewandten Ethik‹ kann […] sich auf die Beurteilung eines singulären Falls im Lichte einer gegebenen generellen Norm beziehen; wir haben es dann mit einer kasuistischen Anwendung zu tun.«36 Die Kluft zwischen dem formalen Moralprinzip und den materialen Problemen, zwischen den abstrakteren Grundsätzen und den konkreteren Sachlagen, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen oder Individuellen, zwischen festzusetzenden Normen und beschreibbaren Fällen darf indessen nicht unterschätzt werden. So können sich die angewandt-ethischen Bemühungen der Vermittlung und Übertragung keineswegs im Gebrauch der bestimmenden Urteilskraft erschöpfen.
Wie bereits erwähnt, besteht ja eine der hauptsächlichen Schwierigkeiten auf dem Feld des Moralischen gerade darin, dass für eine Vielzahl von Problemen ein adäquater moralischer Grundsatz oder eine angemessene moralische Regel gar nicht zu bestimmen ist. Aus diesem Grunde umfasst die Bestimmung der anzuwendenden moralischen Normen zunächst eine ganz andere Art von Arbeit: »Der Begriff der ›Anwendung‹ und der ›angewandten Ethik‹ kann […] auch die inhaltliche Fortschreibung genereller Normen im Hinblick auf die Bewertung ganzer Klassen von Handlungen bezeichnen; wir haben es dann mit einer normbildenden Anwendung zu tun.«37 So zeigt sich der gestaltende Umgang mit den besonderen Gegebenheiten moralischer Problemstellungen im Hinblick auf das allgemein gültige Moralprinzip oder auf einen mittleren moralischen Grundsatz in aller Regel auch eher als die Bewegung eines »Aufstiegs« und damit als eine Arbeit der reflektierenden Urteilskraft. Die vorgängige Redeweise einer Denkbewegung von der normativ-ethischen zur angewandt-ethischen Reflexionsebene hat denn auch nur idealtypischen Charakter.
Die reflektierende Urteilskraft
Der Entwurf von angewandt-ethischen Regeln lässt sich mit jenem Vorgang vergleichen, den Immanuel Kant unter dem Titel der »Bestimmung der Maximen« abhandelt.38 Was die reflektierende Urteilskraft dabei durch ihre Arbeit hervorbringt, ist eine spezifische Weise der Zweckmäßigkeit. Kant identifiziert in dem Zusammenhang die reflektierende Urteilskraft als eine Art ästhetisch-praktische Urteilskraft mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem praktischen Verstand, der im Zuge einer Reflexion, die sich gänzlich »im Dunkeln des Gemüths«39 vollzieht, subjektive Zweckmäßigkeit herstellt. Bei diesem Vorgang der Reflexion werden die Gegebenheiten und Anforderungen der Außenwelt, die Ansprüche und Wünsche der eigenen Neigungen sowie die Forderung des Gewissens bzw. das praktische Wissen bezüglich der moralischen Regeln und ethischen Prinzipien wie beim künstlerischen Schaffen einer Collage so lange aufeinander bezogen und miteinander vermittelt, bis eine stimmige Einheit, die subjektive Zweckmäßigkeit eines Handlungsentwurfes entstanden ist, den der Verstand am Ende in Form einer Maxime auszudrücken vermag. Der praktische Verstand setzt sich also – analog dazu, wie es später Freud im Rahmen seines metapsychologischen Modells in Bezug auf das Ich beschreibt – zu allen Gegebenheiten und Forderungen in ein Verhältnis und versucht in vermittelnder Weise das optimale Handlungskonzept zu entwerfen. Die Vorstellung von diesem Verfahren lässt sich ohne weiteres auf die Vorstellung von der Arbeit im Feld der angewandten Ethik übertragen: Mit Blick auf die betreffende Vorgehensart der reflektierenden Urteilskraft sollte man statt von angewandter Ethik vielleicht besser, wie Krämer dies vorschlägt, von spezieller Ethik sprechen.
Die angewandt-ethischen Normen stellen mithin ebenso wie die Maximen bei Kant keine Entwürfe einer von allen Inhalten abstrahierenden, gleichsam entmenschlichten Vernünftigkeit dar. Eine wesentliche Informationsquelle, die es beim Entwerfen angewandt-ethischer Regeln zu nutzen gilt, bildet die »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Um festzusetzen, was der Mensch soll, muss man unter anderem auch wissen, womit er durch die Natur ausgerüstet ist, welche Bedürfnisse er hat und wozu er fähig ist, was er überhaupt kann. Hierbei sollten auch die biologischen Erkenntnisse über die Herkunft unseres sozialen Verhaltens mit berücksichtigt werden, wie sie im Bereich der Verhaltensforschung und der Soziobiologie hervorgebracht werden. Zu einer entsprechenden »Anthropologie« gehören deshalb letztlich auch die Einsichten der so genannten »evolutionären Ethik«. »Aufgabe der Evolutionären Ethik ist es […], die stammesgeschichtliche Genese moralischen Verhaltens wissenschaftlich zu erklären.«40
Die evolutionäre Ethik setzt sich indessen durchgehend der Gefahr aus, das Eigentümliche des Moralischen zu verfehlen, soweit sie moralisches Verhalten zum einen allein mit Kategorien der Klugheit zu begreifen sucht, wie dies zum Beispiel bei Michael Ruse besonders deutlich zum Ausdruck kommt: »Die Moral ist nichts weiter als eine kollektive Illusion, die uns von unseren Genen für den Zweck der Fortpflanzung angedreht wurde.«41 Zum anderen missversteht die evolutionäre Ethik den Gegenstand der Ethik grundsätzlich, wenn sie sich berechtigt fühlt, Schlussfolgerungen aus dem faktischen Sozialverhalten auf das moralisch »gesollte« Verhalten zu ziehen.
Gewiss finden sich in unserer Moral, in der Moral des Über-Ichs, die verschiedensten Sedimente, auch solche, die weit in die Zeiten unserer Vorfahren verweisen und die wir mit den Fledermäusen und Schimpansen zu teilen scheinen, aber in solchen Erkenntnissen erschöpft sich das Ethische in keiner Weise, ja es ist damit noch nicht einmal berührt. Die allgemeine und die spezielle normative Ethik beginnen erst dort, wo wir uns mit unserem praktischen Verstand, mit unserer praktischen Vernunft gerade in ein Verhältnis zur Moral des Über-Ichs setzen und als Freiheitswesen autonom entscheiden, ob diese oder jene Vorgabe für uns Gültigkeit haben soll. Derjenige, der glaubt, durch seine Feststellungen über den Menschen als ein Naturwesen einen normbegründenden Beitrag zur Ethik zu leisten42, sollte zur Kenntnis nehmen, dass »alle empirischen Aufschlüsse, die uns die Biologie über die Entstehungsbedingungen der Moral und die ihr zugrundeliegenden genetischen Mechanismen gibt, bei dem Versuch, konkrete moralische Probleme zu lösen, nicht weiterhelfen«43. Aus dieser Perspektive erscheint der Titel einer evolutionären Ethik als ein einziger »Etikettenschwindel«44. Mit ihrem Beitrag zur »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« ist sie im besten Falle »als eine biologisch fundierte Metaethik«45 bzw. Metamoral...




